Medizinrecht

Verfassungskonforme Zulassungsvoraussetzungen zur interventionellen Radiologie

Aktenzeichen  S 28 KA 84/19

Datum:
25.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42742
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 135 Abs. 2 S. 4
GG Art. 12 Abs. 1

 

Leitsatz

Die gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 sowie § 3 Abs. 2 Nr. 1 Radiologie-Vereinbarung erforderliche Facharztbezeichnung Radiologie kann im Fall einer Fachärztin für Innere Medizin und Angiologie durch ein Kolloquium ersetzt werden. (Rn. 23)
1. Die Facharztqualifikation zur Erbringung der interventionellen radiologischen Leistungen ist für Ärzte mit anderer Facharztqualifikation grundsätzlich ausgeschlossen.  (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Diagnostische Katheterangiographien und therapeutischen Eingriffe zählen zum Kern des Fachgebietes Radiologie ebenso wie des Fachgebietes Innere Medizin und Angiologie. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Radiologie-Vereinbarung  verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch die grundsätzlich erforderliche Facharztqualifikation “Radiologie” für Fachärzte für Innere Medizin und Angiologie durch ein Kolloquium ersetzt werden kann.  (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 13.6.2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 13.2.2019 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Klägerin zu einem Kolloquium gemäß § 2 i.V.m. § 9 Abs. 5 der Qualitätssicherungsvereinbarung zur interventionellen Radiologie zur Prüfung ihrer Befähigung zur Durchführung von diagnostischen Katheterangiographien und therapeutischen Eingriffen zuzulassen und ihr nach erfolgreicher Teilnahme an dem Kolloquium die Genehmigung zur Ausführung und Abrechnung von Leistungen der diagnostischen Katheterangiographien (Nr. 34283, 34284, 34285 und 34287 EBM) sowie von diagnostischen Katheterangiographien und therapeutischen Eingriffen (Nr. 34283, 34284, 34285, 34286 und 34287 EBM) zu erteilen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin und die Beklagte tragen jeweils die Hälfte der Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die Klage ist zulässig und im Hilfsantrag begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 13.6.2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 13.2.2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zulassung zu einem Kolloquium und nach erfolgreicher Teilnahme an dem Kolloquium auf Erteilung der Genehmigung zur Ausführung und Abrechnung von Leistungen der diagnostischen Katheterangiographien (Nr. 34283, 34284, 34285 und 34287 EBM) sowie von diagnostischen Katheterangiographien und therapeutischen Eingriffen (Nr. 34283, 34284, 34285, 34286 und 34287 EBM).
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen allesamt vor.
Die Klage ist begründet, soweit die Klägerin die Zulassung zu einem Kolloquium gem. § 2 i.V.m. § 9 Abs. 5 der Vereinbarung von Qualitätssicherungsmaßnahmen nach § 135 Abs. 2 SGB V zur interventionellen Radiologie (in der Fassung vom 31.8.2010; im Folgenden: Radiologie-Vereinbarung) zur Prüfung ihrer Befähigung zur Durchführung von diagnostischen Katheterangiographien und therapeutischen Eingriffen begehrt.
Hingegen war die Klage im Hauptantrag, mit dem die Beklagte verpflichtet werden sollte, der Klägerin die Genehmigung zur Ausführung und Abrechnung von interventionellen radiologischen Leistungen zu erteilen, abzuweisen. Denn die Klägerin erfüllt nicht die Voraussetzungen der fachlichen Befähigung der Radiologie-Vereinbarung.
§ 3 Radiologie-Vereinbarung lautet:
(1) Die fachliche Befähigung für die Ausführung und Abrechnung von Leistungen der diagnostischen Katheterangiographien (Nummern 34283, 34284, 34285 und 34287 des EBM) gilt als nachgewiesen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt und durch Zeugnisse und Bescheinigungen nach § 9 Abs. 2 nachgewiesen werden:
1. Berechtigung zum Führen der Gebietsbezeichnung ‘Radiologie’.
2. Selbständige Indikationsstellung beziehungsweise Sicherung der Indikation, Durchführung, Befundung und Dokumentation von mindestens 500 diagnostischen Gefäßdarstellungen oder therapeutischen Eingriffen, davon mindestens 250 kathetergestützt, unter Anleitung innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Antragstellung auf die Genehmigung.
3. Mindestens einjährige überwiegende Tätigkeit in der angiographischen Diagnostik oder Therapie unter Anleitung.
4. Gefäßdarstellungen und Eingriffe nach Nummer 2 und Tätigkeiten nach Nummer 3, die während der Weiterbildung zum Facharzt absolviert worden sind, werden anerkannt.
(2) Die fachliche Befähigung für die Ausführung und Abrechnung von Leistungen der diagnostischen Katheterangiographien und therapeutischen Eingriffe (Nummern 34283, 34284, 34285, 34286 und 34287 des EBM) gilt als nachgewiesen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt und durch Zeugnisse und Bescheinigungen nach § 9 Abs. 2 nachgewiesen werden:
1. Berechtigung zum Führen der Gebietsbezeichnung ‘Radiologie’.
2. Selbständige Indikationsstellung beziehungsweise Sicherung der Indikation, Durchführung, Befundung und Dokumentation von mindestens 500 diagnostischen Gefäßdarstellungen oder therapeutischen Eingriffen, davon mindestens 250 kathetergestützt, unter Anleitung innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Antragstellung auf die Genehmigung. Die kathetergestützten therapeutischen Eingriffe müssen mindestens 100 das Gefäß erweiternde und mindestens 25 das Gefäß verschließende Maßnahmen beinhalten.
3. Mindestens einjährige überwiegende Tätigkeit in der angiographischen Diagnostik und Therapie unter Anleitung.
4. Gefäßdarstellungen und Eingriffe nach Nummer 2 und Tätigkeiten nach Nummer 3, die während der Weiterbildung zum Facharzt absolviert worden sind, werden anerkannt.
(3) Die Anleitung nach den Absätzen 1 und 2 (jeweils Nr. 2 und 3) hat bei einem Arzt stattzufinden, der nach der Weiterbildungsordnung in vollem Umfang für die Weiterbildung zum Facharzt ‘Radiologie’ befugt ist. Ist der anleitende Arzt nicht in vollem Umfang für die Weiterbildung befugt, muss er zusätzlich über eine Genehmigung nach dieser Vereinbarung verfügen.
(4) Näheres zu den Zeugnissen und Bescheinigungen regelt § 9 Abs. 2.
Mangels Berechtigung zum Führen der Gebietsbezeichnung „Radiologie“ erfüllt die Klägerin nicht die Voraussetzungen des § 3 Radiologie-Vereinbarung.
Nach Überzeugung der fachkundig besetzten Kammer hat die Klägerin jedoch im Vergleich zu dieser Vereinbarung eine abweichende, aber gleichwertige Befähigung gem. § 9 Abs. 5 Satz 2 Radiologie-Vereinbarung nachgewiesen. Die Klägerin hat daher einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zulassung zu einem Kolloquium zur Prüfung ihrer Befähigung zur Durchführung von diagnostischen Katheterangiographien und therapeutischen Eingriffen.
§ 9 Abs. 5 Radiologie-Vereinbarung lautet:
Bestehen trotz der vorgelegten Zeugnisse und Bescheinigungen begründete Zweifel an der fachlichen Befähigung von Ärzten nach § 3, so kann die Kassenärztliche Vereinigung die Genehmigung von der erfolgreichen Teilnahme an einem Kolloquium abhängig machen. Das Gleiche gilt, wenn der antragstellende Arzt im Vergleich zu dieser Vereinbarung eine abweichende, aber gleichwertige Befähigung nachweist. Die nachzuweisenden Zahlen von diagnostischen Gefäßdarstellungen, diagnostischen Katheterangiographien und therapeutischen Eingriffen können durch ein Kolloquium nicht ersetzt werden.
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Klägerin die Voraussetzungen von § 3 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 sowie § 3 Abs. 2 Nr. 2 bis 4 Radiologie-Vereinbarung erfüllt, wenngleich die Beklagte darauf hingewiesen hat, dass ihrer Auffassung nach die Anleitung nicht durch einen entsprechend weiterbildungsbefugten Arzt gemäß § 3 Abs. 3 Radiologie-Vereinbarung erfolgt ist.
Die gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 sowie § 3 Abs. 2 Nr. 1 Radiologie-Vereinbarung erforderliche Facharztbezeichnung „Radiologie“ kann vorliegend durch ein Kolloquium ersetzt werden.
Auf der Grundlage der Rechtsprechung des BSG zur Kernspintomographie-Vereinbarung sowie zur Qualitätssicherungsvereinbarung zur MR-Angiographie (vgl. Urteil vom 11.10.2006, Az. B 6 KA 1/05 R, Rn. 16ff.; Urteil vom 2.4.2014, Az. B 6 KA 24/13 R, Rn. 20ff., 37) ist zwar davon auszugehen, dass die vertragsschließenden Partner in der Radiologie-Vereinbarung auf Grundlage der Ermächtigung des § 135 Abs. 2 Satz 4 SGB V grundsätzlich die streitgegenständlichen Leistungen der interventionellen Radiologie bei entsprechend qualifizierten Ärzten für Radiologie konzentrieren wollten. Grundsätzlich geht damit ein Ausschluss von Ärzten mit anderer Facharztqualifikation zur Erbringung der interventionellen radiologischen Leistungen einher. Daraus hat das BSG im Zusammenhang mit § 8 Abs. 5 Qualitätssicherungsvereinbarung zur MR-Angiographie – der nahezu inhaltsgleich zu § 9 Abs. 5 Radiologie-Vereinbarung ist – gefolgert, dass die erforderliche Facharztqualifikation „Radiologie“ nicht durch ein Kolloquium ersetzt werden könne (BSG, Urteil vom 2.4.2014, Az. B 6 KA 24/13 R, Rn. 37).
Diese Rechtsprechung kann jedoch auf den vorliegenden Fall nicht übertragen werden. Denn nach Überzeugung der fachkundig besetzten Kammer gehören die diagnostischen Katheterangiographien und therapeutischen Eingriffe nicht nur zum Kern des Fachgebietes Radiologie, sondern auch zum Kern des Fachgebietes Innere Medizin und Angiologie. § 9 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. § 3 Radiologie-Vereinbarung ist deshalb verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass die Facharztqualifikation „Radiologie“ im Fall der Klägerin durch ein Kolloquium ersetzt werden kann.
Für die Beurteilung, ob Leistungen fachzugehörig oder fachfremd sind, ist grundsätzlich auf die aktuelle Fassung der WBO der für den Vertragsarztsitz örtlich zuständigen Landesärztekammer abzustellen (BSG, Urteil vom 15.7.2020, Az. B 6 KA 19/19 R, Rn. 19 f.).
Zwischen den Beteiligten ist auf Grundlage der WBO der Bayerischen Landesärztekammer (BLAEK) vom 24.4.2004 (in der Fassung vom 10.10.2020) unstreitig, dass die streitgegenständlichen Leistungen für das Fachgebiet Angiologie fachgebietskonform sind. Dies ergibt sich auch eindeutig aus der vom Gericht eingeholten Stellungnahme der BLAEK vom 20.10.2021. Lediglich ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass auch die Muster-Weiterbildungsordnung (in der Fassung vom 26.6.2021) als spezifische Inhalte der Facharzt-Weiterbildung Innere Medizin und Angiologie Erfahrungen und Fertigkeiten bezüglich der „Indikation, Durchführung und Befunderstellung interventioneller Eingriffe an Arterien und Venen einschließlich der erforderlichen angiographischen Bildgebung, auch in interdisziplinärer Kooperation“ (ohne Richtzahlen) anführt.
Die streitgegenständlichen Leistungen der interventionellen Radiologie sind nach Auffassung der Kammer auch dem Kernbereich des Fachgebietes Angiologie zuzuordnen. Die BLAEK hat in ihrer Stellungnahme auf eine abschließende Festlegung des Kernbereichs des Fachgebietes Angiologie verzichtet. Sie hat aber darauf hingewiesen, dass eine sprachliche Differenzierung in der Weiterbildungsordnung wie das Vorhandensein oder das Fehlen des Wortes „Mitwirkung“ ein Indiz für die Zuordnung einer bestimmten medizinischen Leistung zum Kernbereich eines Fachgebietes sein könne. Da in früheren Fassungen der WBO lediglich die Mitwirkung bei interventionellen Eingriffen gefordert wurde, könnte somit die mittlerweile erfolgte Streichung der „Mitwirkung“ dafür sprechen, dass die interventionellen Eingriffe zum Kernbereich der Angiologie gehören. Nach Einschätzung der fachkundig besetzten Kammer ist für die Zuordnung zum Kernbereich vor allem aber ausschlaggebend, dass im stationären Bereich diagnostische Katheterangiographien und therapeutische Eingriffe häufig von Angiologen erbracht werden. Die Kammer stimmt dem klägerischen Vortrag zu, dass in vielen angiologischen Fachabteilungen interventionelle Leistungen mit hohen Fallzahlen durchgeführt werden. Darauf, dass die WBO der BLAEK für die Innere Medizin und Angiologie anders als bei der Facharztkompetenz Radiologie keine Mindestzahl durchzuführender interventioneller Verfahren statuiert, kommt es nach Ansicht der Kammer nicht an. Es ist in der WBO keine Systematik dahingehend ersichtlich, dass derartige Mindest- bzw. Richtzahlen für bestimmte Untersuchungs- und Behandlungsverfahren ein (klares) Abgrenzungskriterium für den Kernbereich eines Fachgebietes im Verhältnis zu Randbereichen eines Fachgebietes darstellen.
Weil die interventionellen Leistungen auch dem Kernbereich des Fachgebietes Angiologie zuzuordnen sind, sind die Fachärzte für Innere Medizin und Angiologie durch den Ausschluss gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 Radiologie-Vereinbarung in ihrem Status betroffen. Die Regelung des § 9 Abs. 5 Satz 2 Radiologie-Vereinbarung ist im Lichte des Art. 12 Abs. 1 GG daher verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch die grundsätzlich erforderliche Facharztqualifikation „Radiologie“ durch ein Kolloquium ersetzt werden kann. Konsequenterweise muss dann auch die Anleitung im Sinne des § 3 Abs. 3 Radiologie-Vereinbarung bei einem weiterbildungsbefugten Arzt möglich sein, auch wenn dieser wie im Fall der Klägerin nicht für die Weiterbildung zum Facharzt „Radiologie“ befugt ist.
Die Kostenentscheidung basiert auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, da der Hauptantrag der Klägerin abgewiesen, aber ihrem Hilfsantrag stattgegeben wurde.


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