Medizinrecht

Verkehrsrechtliche Anordnung, Verwaltungsgerichte, zulässige Höchstgeschwindigkeit, Verkehrsbeschränkungen, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Kostenentscheidung, Aufstellung von Verkehrszeichen, Rechtsmittelbelehrung, Anfechtungsklage, Streitwertfestsetzung, Besondere Gefahrenlage, Aufhebung, Ortsdurchfahrt, Klagebefugnis, Augenscheinstermin, Geschwindigkeitsbegrenzung, Geltendmachung, wirtschaftliche Unmöglichkeit, Straßenverkehrsbehörden, Prozeßbevollmächtigter

Aktenzeichen  Au 3 K 19.1019

Datum:
18.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 41303
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVO § 45 Abs. 1 und Abs. 9 S. 3
Verkehrszeichen nach Nr. 274 der Anlage 2 zu § 41 StVO

 

Leitsatz

Tenor

I. Die verkehrsrechtliche Anordnung vom 14. Mai 2018, durch die auf der Kreisstraße … im nördlichen Teil der Ortsdurchfahrt … die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h beschränkt worden ist, wird aufgehoben.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Der Einzelrichter konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und begründet.
1. Die statthafte Anfechtungsklage ist zulässig.
a) Die Anfechtungsklage ist statthaft, weil es sich bei den in Vollzug der verkehrs rechtlichen Anordnung vom 14. Mai 2018 angebrachten Verkehrszeichen Nr. 274 „Zulässige Höchstgeschwindigkeit“ 30 km/h nach Anlage 2 zu § 41 Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) um einen Verwaltungsakt in der Form einer sog. Allgemeinverfügung gemäß Art. 35 Satz 2 des Bayerischen Verwaltungs- und Verfahrensgesetzes (BayVwVfG) handelt.
b) Der Kläger ist gem. § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt. Eine Klagebefugnis ist anzu nehmen, wenn es möglich ist, dass durch die Anordnung und Aufstellung eines Verkehrszeichens eigene Rechte des Klägers verletzt sind. Dies ist vorliegend der Fall.
Nach der Rechtsprechung ist die Klagebefugnis für eine Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 2 VwGO) gegen verkehrsregelnde Anordnungen dann zu bejahen, wenn das Klagevorbringen eines Verkehrsteilnehmers es zumindest als möglich erscheinen lässt, dass ihn die angefochtene Maßnahme in eigenen Rechten verletzt. Als Rechtsverletzung kann ein Verkehrsteilnehmer geltend machen, die rechtssatzmäßigen Voraussetzungen für eine auch ihn treffende Verkehrsbeschränkung seien nicht gegeben (BayVGH, U.v. 29.7.2009 – 11 BV 08.481 – juris Rn. 45 m.w.N.). Nach dem Vorbringen des Klägers besteht zumindest die Möglichkeit, dass die Entscheidung des Beklagten seine durch § 45 Abs. 1 StVO geschützten Rechte verletzt. Der Kläger, der selbst in … lebt und nach seinen unbestrittenen Angaben regelmäßig auf seinem Arbeitsweg in dem Bereich fährt, in dem die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h herabgesetzt wurde, kann geltend machen, von der verkehrsrechtlichen Anordnung des Beklagten unmittelbar betroffen zu sein. Damit ist eine Verletzung des Klägers in subjektiven Rechten nach allen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten nicht von vornherein ausgeschlossen.
c) Die Klage wurde am 11. Juli 2019 fristgerecht erhoben. Die Anfechtung der ver kehrsrechtlichen Anordnung war gem. § 58 Abs. 2 Satz. 1 VwGO innerhalb eines Jahres nach Bekanntgabe möglich, da mit der Allgemeinverfügung keine Rechtsbehelfsbelehrung:einherging. Die Bekanntgabe erfolgte am 11. Juli 2018 durch das Aufstellen der angeordneten Beschilderung. Durch die am 11. Juni 2019 erhobene Klage wurde damit die Jahresfrist gewahrt.
2. Die Klage ist begründet, da die in Vollzug der verkehrsrechtlichen Anordnung vom 14. Mai 2018 erfolgte Beschilderung, die die zulässige Höchstgeschwindigkeit im streitgegenständlichen Bereich der Ortsdurchfahrt … auf 30 km/h beschränkt, rechtswidrig ist und der Kläger hierdurch in seinen Rechten verletzt wird (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Gegen eine verkehrsrechtliche Anordnung kann ein Verkehrsteilnehmer als Verletzung eigener Rechte geltend machen, dass ihre rechtssatzmäßigen Voraussetzungen nach § 45 Abs. 1 StVO nicht vorliegen (vgl. BayVGH, U.v. 29.7.2009 – 11 BV 08.481 – juris Rn. 45 m.w.N.). Die Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit im streitgegenständlichen Bereich der Ortsdurchfahrt … auf 30 km/h ist rechtswidrig, weil die hierfür nach § 45 Abs. 9 StVO erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen, da eine solche Geschwindigkeitsbegrenzung nach den örtlichen Verhältnissen nicht zwingend erforderlich ist.
a) Gem. § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO beträgt die zulässige Höchstgeschwindigkeit inner halb geschlossener Ortschaften für alle Kraftfahrzeuge 50 km/h. Die Straßenverkehrsbehörden können die Höchstgeschwindigkeit hiervon abweichend jedoch aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken, wie sich aus § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO ergibt. Erfolgt die Beschränkung – wie vorliegend – durch die Anordnung von Verkehrszeichen, ist zu beachten, dass gem. § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO Verkehrszeichen nur dort anzuordnen sind, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. Bei Beschränkungen des fließenden Verkehrs kommt hinzu, dass solche Beschränkungen gem. § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO nur angeordnet dürfen, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der schutzwürdigen Rechtsgüter erheblich übersteigt.
b) Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.
aa) Die Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h ist im vorliegenden Fall an § 45 Abs. 9 Satz. 3 StVO zu messen. Die Anordnung des Verkehrszeichens „Zulässige Höchstgeschwindigkeit“ 30 km/h nach Nr. 274 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO ist eine Beschränkung des fließenden Verkehrs im Sinne des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO, da damit die zulässige Höchstgeschwindigkeit im Vergleich zu der von § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO vorgegebenen Geschwindigkeit verringert wird.
Die Anwendung von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO ist nicht nach § 45 Abs. 9 Satz 4 StVO ausgeschlossen. Zwar ist nach § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 4 StVO für die Festsetzung einer Tempo 30-Zone nach § 45 Abs. 1c Satz 1 StVO das Vorliegen einer besonderen Gefahrlage nicht erforderlich. Vorliegend handelt es sich jedoch nicht um eine derartige Tempo 30-Zone, weil eine ZonenAnordnung nach dieser Vorschrift sich nicht auf Straßen des überörtlichen Verkehrs erstrecken darf, wie sich aus § 45 Abs. 1c Satz 2 StVO ergibt. Als Kreisstraße ist die … eine solche Straße des überörtlichen Verkehrs – auch im Bereich der Ortsdurchfahrt. Ferner liegt auch kein Fall des § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO vor, da sich die streckenbezogene Verkehrsbeschränkung nicht im unmittelbaren Bereich der darin beschriebenen Bildungs- oder Pflegeeinrichtungen befindet. Zwar gibt es im Ortsteil … eine Grundschule, allerdings liegt diese im Süden des Gebiets und damit nicht in unmittelbarer Nähe zum streitgegenständlichen Teil der Ortsdurchfahrt.
bb) Die konkreten örtlichen Verhältnisse machen eine Beschränkung nicht zwin gend erforderlich. Es besteht keine Gefahrenlage, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung schutzwürdiger Rechtsgüter erheblich übersteigt.
Nach dem beim Augenscheinstermin gewonnen Eindruck handelt es sich um eine gut ausgebaute, gradlinig verlaufende Straße, die im streitgegenständlichen Bereich übersichtlich ist und einen unkomplizierten Verlauf nimmt. Dies gilt auch mit Blick auf die leichte Kuppe am Ortseingang und das Ende des Wanderwegs aus …. Die Sichtverhältnisse sind nach dem beim Augenscheinstermin gewonnenen Eindruck weder durch die Kuppe noch durch etwaige Schattenspiele der umliegenden Bäume erheblich eingeschränkt. Auch im Bereich der Kuppe ermöglicht die Streckenführung weitgehend Sicht in alle Richtungen. Nach den Erkenntnissen der Verkehrspolizei, die im Übrigen mit den Erkenntnissen des Beklagten übereinstimmen, bestand auch vor Vollzug der verkehrsrechtlichen Anordnung vom 14. Mai 2018 weder im Bereich der Kuppe noch sonst im streitgegenständlichen Bereich ein Unfallschwerpunkt.
Auch wenn aus … kommende Wanderer am Ende des Wanderwegs mangels eines Gehwegs auf der einen Straßenseite die Straße überqueren müssen, liegt keine besondere Gefahrenlage vor. Aufgrund der geradlinigen Streckenführung und der Konformität der örtlichen Gegebenheiten mit den Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen ist eine sichere Überquerung der Straße für Fußgänger in diesem Bereich stets gewährleistet. Einem zwingenden Erfordernis im Sinne des § 45 Abs. 9 StVO steht diesbezüglich ferner entgegen, dass die Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h nicht das einzige Mittel darstellt, um den Zweck des Schutzes der Fußgänger bei Überquerung der Kreisstraße am Ende des Wanderwegs zu erreichen. Nach dem Gesetzeswortlaut „zwingend erforderlich“ kann eine Beschränkung des Verkehrs in Form einer Herabsetzung der Regelgeschwindigkeit nur erlassen werden, wenn andere (mildere) Mittel nicht erfolgsversprechend oder rechtlich bzw. wirtschaftlich unmöglich sind. Vorliegend käme als milderer Eingriff in den Straßenverkehr u.a. die verkehrsrechtliche Anordnung eines Fußgängerüberwegs in Form eines Zebrastreifens als Markierung nach 293 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO in Betracht. Dies wäre auch insofern verhältnismäßiger, als es dem Umstand gerecht würde, dass Straßenüberquerungen durch Wanderer nur temporär erfolgen und nicht erfordern, die Geschwindigkeit im streitgegenständlichen Bereich zu jeder Tages- und Nachtzeit einzuschränken.
Es besteht auch keine besondere Gefahrenlage aufgrund einer etwaigen Schulweggefährdung. Die örtliche Grundschule befindet sich im südlichen Teil …. Es ist deshalb nicht erkennbar, wieso es im streitgegenständlichen Abschnitt im nördlichen Teil des Ortes zu einem erhöhten Aufkommen von Schulkindern kommen sollte. Schülern aus dem nördlichen Bereich steht entlang der … ein breiter Gehweg zur Bewältigung des Schulwegs zur Verfügung. Auch der Vortrag der Stadt … hinsichtlich einer besonderen Gefahrenlage aufgrund des Viehtriebs kann nicht überzeugen und rechtfertigt eine Verkehrsbeschränkung in diesem Ausmaß nicht. Es handelt sich dabei um nicht um eine ständig bestehende Gefahrenlage, sondern allenfalls um einen temporären Umstand für wenige Stunden im Jahr, der einer allgemeinen Beschränkung des Straßenverkehrs nicht bedarf.
Eine Gefahrenlage, die das allgemeine Risiko des Straßenverkehrs im Sinne des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO erheblich übersteigt, liegt damit nicht vor. Die Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h ist damit nicht zwingend erforderlich im Sinne des § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO und daher rechtswidrig. Sie verletzt den Kläger in seinen subjektiv öffentlichen Rechten, weil die rechtssatzmäßigen Voraussetzungen für diese Beschränkung nicht vorliegen.
Ein Ausspruch zur Rückgängigmachung der Vollziehung der verkehrsrechtlichen Anordnung (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO) erfolgt nicht, da kein entsprechender ausdrücklicher Antrag gestellt wurde. Gleichwohl wird der Beklagte – auch ohne entsprechenden gerichtlichen Ausspruch – die Beseitigung der zum Vollzug der verkehrsrechtlichen Anordnung vom 14. Mai 2018 aufgestellten Beschilderung zu veranlassen haben.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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