Medizinrecht

Verkehrssicherungspflichtverletzung – Räum- und Streupflicht für Nebeneingänge

Aktenzeichen  1 Ca 1407/17

Datum:
27.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 42789
Gerichtsart:
ArbG
Gerichtsort:
Rosenheim
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
ArbGG § 12a Abs. 1 S. 1
BGB § 280 Abs. 1, § 823 Abs. 1
ZPO § 256 Abs. 1, § 287 Abs. 1

 

Leitsatz

Der Arbeitgeber ist im Rahmen seiner Verkehrssicherungspflicht auch zur Räumung und dem Streuen von Nebeneingängen für Lieferanten und Mitarbeiter verpflichtet. Allerdings muss er nicht gleichzeitig alle Eingänge räumen und streuen lassen, sondern kann den Nebeneingang nach dem für die in der Einrichtung betreuten Senioren relevantem Haupteingang durchführen lassen. Ein Verstoß scheidet jedenfalls gegenüber Arbeitnehmern aus, denen die örtlichen Gegebenheiten bekannt sind. (Rn. 44 – 52) (red. LS Ulf Kortstock)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 40.186,28 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1. Die Klageanträge sind zulässig. Hinsichtlich sämtlicher Klageanträge folgt die Rechtswegzuständigkeit aus § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG, weil die Klägerin die von ihr geltend gemachten materiellen und immateriellen Schadensersatzansprüche auf eine Verkehrssicherungspflicht der Beklagten stützt, wobei das Unfallereignis sich auf dem Weg zur Erbringung der Arbeitsleistung der Klägerin ereignet hat. Daher unterfallen sämtliche geltend gemachten Ansprüche dem Begriff der Streitigkeit über finanzielle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis. Die Rechtswegzuständigkeit ist somit gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG anzunehmen, in Verbindung mit dem Verweisungsbeschluss des Landgerichts Traunstein. Die Feststellungsklage hinsichtlich sämtlicher weiterer Verletzungsfolgen ist ebenfalls gemäß § 256 Abs. 1 ZPO zulässig. Wenn im Rahmen der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten, wie von der Klagepartei behauptet, finanzielle Schadensersatzansprüche und immaterielle zukünftige Ansprüche geltend gemacht werden, ist es zulässig, diese im Rahmen einer allgemeinen Feststellungsklage zu erheben. Die Feststellungsklage betrifft dann ein gegenwärtiges und zukünftiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 256 Abs. 1 ZPO. Soweit die Klägerin sowohl aus eigenem als auch aus abgetretenem Recht Schadensersatzansprüche wegen außergerichtlicher und vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten geltend machte, stehen diese Ansprüche der Zulässigkeit des zum Arbeitsgericht beschrittenen Rechtswegs nicht entgegen, die Frage des § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG betrifft die Begründetheit des Anspruchs.
2. Die zulässigen Klageanträge sind im Ergebnis unbegründet. Die Klägerin hat keinen Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit den Grundsätzen der Verkehrssicherungspflicht, weder in Bezug auf die materiellen noch hinsichtlich der immateriellen Ansprüche, die ihr durch das Unfallereignis entstanden sein sollen, weil das erkennende Gericht den Standpunkt vertritt, dass eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht seitens der Beklagten nicht anzunehmen ist. Daher konnten die geltend gemachten Schadensersatzbeträge der Klägerin nicht zugesprochen werden. Auf die fehlende Kostenerstattung in Bezug auf die vorgerichtlichen Kosten gemäß § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG im Rahmen der Geltendmachung der Ansprüche im arbeitsgerichtlichen Verfahren muss daher nicht mehr näher eingegangen werden.
II.
1. Im Rahmen der Anspruchsgrundlagen des § 280 Abs. 1 BGB und § 823 Abs. 1 BGB, soweit es um eine vorsätzliche oder fahrlässige Verletzung der Gesundheit der Arbeitnehmerin geht, ist nach den Grundsätzen der Wahrung der Verkehrssicherungspflicht davon auszugehen, dass derjenige, der eine Gefahrenlage schafft, grundsätzlich dazu verpflichtet ist, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Beim Betreiben eines Pflegeheims bezieht sich die Verkehrssicherungspflicht auch auf die Wege zum Pflegeheim, auf die Stellplätze für Bewohner und Besucher, die mit dem Kfz zur Anlage kommen und grundsätzlich ist auch davon auszugehen, dass dann, wenn mehrere Wege in die Pflegeeinrichtung möglich sind, sowohl für Arbeitnehmer, Besucher als auch für Bewohner, die Verkehrssicherungspflichten sich demzufolge auf sämtliche Zugänge dem Grunde nach beziehen.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH VersR 1990 498; VersR 2002 247; BGHZ Band 121 368 und BGH VersR 1997 109) ist davon auszugehen, dass die rechtlich gebotenen Verkehrssicherungspflichten all diejenigen Maßnahmen umfassen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend halten kann, um andere Personen vor Schäden zu bewahren. Voraussetzung einer Verkehrssicherungspflichtverletzung ist daher grundsätzlich, dass sich vorausschauend für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Gefahr ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden können (BGH NJW-RR 2003 1459; BGH NJW-RR 2002 525; LG Oldenburg Urteil vom 21.01.2013 16 O 2017/12 Beck RS 2014 00359). Inhalt und Umfang der winterlichen Räum- und Streupflicht richten sich daher grundsätzlich nach den Umständen des Einzelfalls, die Art und Wichtigkeit des Verkehrswegs sind hierbei ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs, sei es mit Pkw oder auch des Verkehrs von Fußgängern.
b) Die Räum- und Streupflicht besteht daher nicht uneingeschränkt, sie steht unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt (BGHZ 112 74 ff). Der Grundstückseigentümer ist für Drittschäden gemäß § 823 Abs. 1 BGB und bezüglich der im Gewerbe des Grundstückseigentümers tätigen Personen fernerhin nach § 280 Abs. 1 BGB dafür verantwortlich, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Bewohner und sonstige Kunden, etwa Lieferanten, eines auf dem Gelände betriebenen Pflegeheims während der üblichen Öffnungszeiten und der Zeiten, zu denen Besucher kommen, das Personal die Arbeit antritt und auch die Bewohner das Pflegeheim betreten und verlassen, die Wegstrecke von ihnen auf den dafür vorgesehenen Parkplätzen geparkten Fahrzeugen bis zum Eingangsbereich des Pflegeheims ohne Gefährdung der Gesundheit benutzen können. Diese Kriterien der Verkehrssicherungspflichten, die von der Rechtsprechung der Zivilgerichte im wesentlichen für öffentliche Einrichtungen, Geschäfte und Verbrauchermärkte entwickelt wurde, sind auf den hier zu entscheidenden Sachverhalt entsprechend anzuwenden, denn es macht keinen Unterschied, ob es um ein öffentliches Amtsgebäude geht, um ein Einkaufszentrum, um ein Ladengeschäft oder um eine Einrichtung der Betreuung älterer Personen, die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflichten in Bezug auf die Wegstrecken von den Parkplätzen bis zum Eingangsbereich sind in diesen Fällen grundsätzlich nach einheitlichen Maßstäben zu bewerten.
c) Nach diesen Grundsätzen sind Art und Wichtigkeit des Verkehrsweges ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs, wobei an die Sicherung des Fußgängerverkehrs strengere Anforderungen zu stellen sind (OLG Hamm Urteil vom 30.09.2003 9 U 86/03 OLGR Hamm 2004 38 ff. Rz. 11 zitiert nach Juris). Andererseits gilt auch die dem Hauseigentümer obliegende Räum- und Streupflicht nicht uneingeschränkt, sondern steht sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, so dass es namentlich auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt (BGH Urteil vom 09.10.2003 III ZR 8/03 NJW 2003 3622), während sich andererseits jeder Verkehrsteilnehmer – auch und gerade im Winter – den ihn erkennbar gegebenen Straßenverhältnissen anpassen muss (OLG München Urteil vom 22.07.2010 1 U 1804/10 Rz. 14 zitiert nach juris; OLG Koblenz Urteil vom 27.10.2010 1 U 170/10 VVR 2011 67 Rz. 14 zitiert nach juris). Geht es um die Sicherung des Fußgängerverkehrs, ist danach maßgeblich darauf abzustellen, ob die Fußgänger bei vernünftiger Sicherheitserwartung mit der Sicherung des Gehweges rechnen dürfen oder nicht. Danach müssen Gehwege, soweit auf ihnen ein nicht nur unbedeutender Verkehr stattfindet, geräumt und gestreut werden. Lediglich für verkehrsunbedeutende Wege, für die ein echtes Verkehrsbedürfnis auch unter Berücksichtigung der Erwartungshaltung der Benutzer nicht erkennbar ist, besteht danach keine Streupflicht (BGH Urteil vom 09.10.2003 III ZR 8/03 NJW 2003 3622 Rz. 5 zitiert nach juris; Brandenburgisches OLG Urteil vom 02.03.0210 2 U 6/08 MDR 2010 809 Rz. 24 zitiert nach juris; in der Sache ebenso: OLG Hamm Urteil vom 30.09.2003 9 U 86/03 NZV 2004 645 f. Rz. 11 zitiert nach juris).
2. Die Klägerin hat die von ihr erhobenen Schadensersatzansprüche hinsichtlich der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht im Wesentlichen damit begründet, dass sie am 07.12.2016, nachdem sie vor Arbeitsbeginn ihren Pkw auf dem Parkplatz abgestellt hat, die Arbeit antreten wollte und über den Nebeneingang das Betriebsgelände der Beklagten erreichen wollte.
a) Zwar sind die Umstände des Sturzes der Klägerin zwischen den Parteien streitig, in Anbetracht der von der Klägerin erlittenen Verletzungsfolgen ist allerdings davon auszugehen, dass die Klägerin auf dem Weg vom Abstellplatz ihres Pkws bis zum sogenannten Lieferanteneingang gestürzt ist. Bei diesem Sturz kam es zu der Fraktur und den damit verbundenen Verletzungsfolgen. Es ist davon auszugehen, dass der Sturz etwa 7:30 Uhr morgens sich ereignete und dass der Zugang zum sogenannten Nebeneingang, über den zwar auch Beschäftigte das Betriebsgelände der Beklagten erreichen, weil auch bei diesem Eingang – nicht nur beim Haupteingang – ein Zeiterfassungsgerät angebracht ist, mit Steinen belegt ist. Steine, wenn sie eine glatte Oberfläche aufweisen, gelten generell als etwas rutschempfindlich; insbesondere dann, wenn in Wintermonaten das Pflaster gefroren ist und ein Überzug aus Eis sich auf den Pflastersteinen befindet, ist von einer deutlichen Rutschgefahr auszugehen. Nachdem die Klägerin bereits seit einigen Jahren bei der Beklagten im Pflegeheim arbeitete, kann davon ausgegangen werden, dass ihr die örtlichen Verhältnisse bekannt waren.
b) Entgegen der Rechtsansicht des Klägerin kommt es bei der Frage, ob die Beklagte insofern eine Verkehrssicherungspflicht verletzt hat, nicht maßgeblich darauf an, welche Hinweisschilder auf diesem Weg aufgestellt sind, denn insbesondere Personen, die seit einigen Jahren bei der Arbeitgeberin tätig sind, müssen Sommer wie Winter wissen, wie die Wegfläche ausgestaltet ist und es entspricht auch der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Steinpflaster im Winter, wenn es möglicherweise von einer Eisschicht überzogen ist, rutschgefährlich ist. Weil sich aus den örtlichen Gegebenheiten auch nicht entnehmen lässt, dass der Weg zum Nebeneingang deutlich abschüssig war, kommt es darauf an, wie in diesem Zusammenhang die Verkehrssicherungspflicht der Beklagten hinsichtlich der Räumung und Streuung dieses Wegs ausgeprägt war. Der Inhalt und der Umfang einer winterlichen Räum- und Streupflicht richten sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Instanzgerichte grundsätzlich danach, wie die konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen sind. Die den Betreibern von Ladengeschäften, Einkaufsmärkten und auch Pflegeheimen wie auch sonstigen Betreuungseinrichtungen oder auch Krankenhäusern obliegende Räum- und Streupflicht besteht nicht uneingeschränkt, sondern steht sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, so dass es insbesondere auch auf die Leistungsfähigkeit des Verkehrssicherungspflichtigen – hier der Beklagten – ankommt (BGH Urteil vom 09.10.2003 III ZR 8/03, NJW 2003 3622 Rdnr. 8); jeder Verkehrsteilnehmer hat sich, insbesondere und gerade auch im Winter, den ihm erkennbar gegebenen Straßenverhältnissen grundsätzlich anzupassen, wobei dies genauso für den Fußgängerweg gilt (OLG München Urteil vom 22.07.2010 1 O 1804/10 Rdnr. 14; OLG Koblenz Urteil vom 27.10.2010 1 O 170/10 VVR 2011 67 Rdnr. 14). Wenn es um die Sicherung des Fußgängerverkehrs geht, ist nach der Rechtsprechung maßgeblich darauf abzustellen, ob die Fußgänger bei vernünftiger Sicherheitserwartung mit der Sicherung des Gehwegs rechnen dürfen oder nicht; hiernach müssen Gehwege, soweit auf ihnen ein nicht nur unbedeutender Verkehr stattfinden sollte, grundsätzlich geräumt und gestreut werden. Lediglich für verkehrsunbedeutende Wege, für die ein echtes Verkehrsbedürfnis auch unter Berücksichtigung der Erwartungshaltung der Benutzer nicht erkennbar ist, besteht hiernach keine generelle Streupflicht (BGH Urteil vom 09.10.2003 III ZR 8/03 NJW 2003 3622 Rdnr. 5; Brandenburgisches OLG Urteil vom 02.03.2010 2 O 6/08 MDR 2010 809 Rdz. 24; OLG Hamm Urteil vom 30.09.2003 9 O 86/03 NZV 2004 645; OLG Hamm Urteil vom 12.09.2012 I/11 U 94/11 Beck RS 2013 11850).
3. Unter Berücksichtigung dieser von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Verkehrssicherungspflicht ist in streitgegenständlichen Rechtsstreit nach Auffassung des Arbeitsgerichts davon auszugehen, dass zwar dem Grunde nach für die Beklagte die Verkehrssicherungspflicht auch in Bezug auf den Weg zum Nebeneingang bestanden hat, allerdings im Rahmen des Zumutbaren im winterlichen Bereich insofern hier gewisse Einschränkungen vorhanden waren.
a) Die Beklagte hat zwar mit der Anbringung eines Zeiterfassungsgeräts auch für den Eintritt über den Nebeneingang, der von Lieferanten üblicherweise erst ab 8:00 Uhr morgens genutzt wird, den Beschäftigten die Möglichkeit eröffnet, die Zeiterfassung zu betätigen, was grundsätzlich den Schluss dahingehend zulässt, dass es den Beschäftigten auch erlaubt war, über den sogenannten Nebeneingang in den Arbeitsbereich des Pflegeheims zu kommen. Grundsätzlich ist allerdings, was die Räum- und Streupflicht betrifft, davon auszugehen, dass beim Auftreten von Schnee oder Eisesglätte zunächst die Hauptwege eines Geländes, auf dem eine Pflegeeinrichtung für Senioren betrieben wird, zu reinigen sind. Unbestritten hat die Beklagte in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die als Hausmeister tätige Person zunächst – mithin in den frühen Morgenstunden – die Parkplätze und den Weg zum Haupteingang geprüft hat und hier die erforderlichen Räum- und Streumaßnahmen durchgeführt wurden. Beim Nebeneingang, den die Klägerin beim Unfallereignis benutzt hat, kommt es entgegen ihrer Ansicht nicht entscheidend darauf an, ob zum damaligen Zeitpunkt bereits die Beschilderungen diesbezüglich angebracht waren, dass auf diesem Weg nur ein „eingeschränkter“ oder „gar kein Winterdienst“ besteht, denn die Klägerin, die zum damaligen Zeitpunkt schon einige Jahre bei der Beklagten als Arbeitnehmerin beschäftigt war, musste über die konkreten Verhältnisse der Wege zum Arbeitsbereich Bescheid wissen.
b) Eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht wäre im hier zu entscheidenden Rechtsstreit nur dann anzunehmen, wenn die Klägerin wegen der Verletzung der Räum- und Streupflicht über den Haupteingang das Gebäude zur Arbeitserbringung betreten hätte und auf diesem Weg zum Sturz gekommen wäre. Zwar ist die Grenze des Zumutbaren erreicht, wenn aufgrund der winterlichen Verhältnisse überraschend Eis auftreten sollt und dann ein gepflasterter Gehweg gestreut wird, weil dann möglicherweise davon auszugehen ist, dass auch das Streuen mit Salz oder mit Split zumindest dann, wenn es weiterhin regnet und der Boden weiterhin gefroren bleibt, nicht hundertprozentig das Eis auf den Pflastersteinen beseitigt werden kann. Die Zumutbarkeit bei auftretendem Blitzeis ist dann erreicht, wenn die beauftragte Person entweder mit Auftausalz oder mit Split versucht, die eisglatten Stellen zu streuen; wenn sich dann aufgrund der Witterungsverhältnisse erneut Eis bildet, kann nicht mehr verlangt werden, als dieses dann in absehbarer Zeit wieder zu beseitigen.
c) Im hier zu entscheidenden Rechtsstreit geht es allerdings dem Sachverhalt nach um die Konstellation, dass die Klägerin über den Nebeneingang um etwa 7:30 Uhr morgens stürzte und sich die Knöchelfraktur zugezogen hat. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten musste der Klägerin klar sein, dass beim Betreten des Pflegeheims über den Nebeneingang eine wesentlich höhere Sorgfaltspflicht im Eigeninteresse, so zu gehen, dass kein Sturz sich ereignet, bestanden hat als wenn sie ihren Arbeitsbereich über den Haupteingang betreten hätte. Der Umstand, dass ihr bekannt war, dass dieser Weg mit Pflastersteinen befestigt war und Pflastersteine insbesondere dann, wenn der Boden gefroren ist und es dann zu regnen beginnt, erheblich rutschig werden können und in einer solchen Situation die beauftragte Person des Räum- und Streudienstes nicht – sozusagen auf die Sekunde – diese Eisesglätte beseitigen kann. Weil die Klägerin den zwar erlaubten, aber für winterliche Verhältnisse doch nicht so sicheren Weg, was Eisbildung betrifft, über den Nebeneingang benutzte, war es ihre Obliegenheit, darauf zu achten, ob Eisesglätte besteht und entsprechend vorsichtig zum Nebeneingang sich zu bewegen. Es mag zwar sein, dass die Klägerin möglicherweise mit zügigen Schritten versuchte, schnell ins Gebäude zu kommen, da es Winter war; die Gesamtumstände hätten hier allerdings erkennen lassen müssen, dass beim Betreten des Pflegeheims über diesen Nebeneingang die Wahrung besonderer Vorsicht erforderlich war.
4. Unter Würdigung der Gesamtumstände des Geschehens geht das Arbeitsgericht davon aus, dass zwar grundsätzlich die Beklagte verpflichtet war, für die Verkehrssicherheit auch des Gehwegs zum Nebeneingang zu sorgen, primär hatte allerdings die mit diesen Arbeiten beauftragte Person die Wege zum Parkplatz zum Haupteingang von Schnee und Eis zu befreien und erst dann konnte im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht daran gegangen werden, auch den Bereich der Nebeneingangstür zu überprüfen und ggf. die Räum- und Streuarbeiten durchzuführen. Weil üblicherweise über den Nebeneingang erst Lieferantenverkehr ab 8:00 Uhr abgewickelt wird, bestand im konkreten Einzelfall keine Verkehrssicherungspflicht, den Nebeneingangsbereich entweder gleichzeitig mit dem Haupteingangsbereich zu räumen, sondern die beauftragte Person konnte so vorgehen, dass frühmorgens zunächst der Haupteingangsbereich gestreut und geräumt wurde und erst im Anschluss daran der Zugangsbereich zur Nebeneingangstür, den die Klägerin genutzt hat, überprüft und ggf. geräumt und gestreut wurde. Von einem erhöhten Aufkommen an der Unfallstelle – was die Fußgänger betrifft – kann entgegen der Ansicht der Klägerin nicht ausgegangen werden. Es kann hier auch dahingestellt bleiben, ob tatsächlich eine andere Arbeitnehmerin, die bereits etwa eineinhalb Stunden vor der Klägerin zur Arbeit kam, auf der Eisfläche gestürzt ist, wobei unstreitig ist, dass sich diese Arbeitnehmerin keine bleibenden Verletzungen zugezogen hat. Nur dann, wenn es der Beklagten bekannt gewesen wäre, dass Sommer wie Winter ein ganz erheblicher Teil der Arbeitnehmer grundsätzlich den Nebeneingang benutzt, wäre sie gehalten gewesen, entweder durch entsprechende Hinweisschilder darauf aufmerksam zu machen, dass überhaupt kein oder nur eine eingeschränkter Winterdienst besteht oder dass bei der Benutzung dieses Wegs im Winter besondere Vorsicht angeraten wird und mit Schnee- und Eisesglätte zu rechnen ist. Da allerdings der Hauptbesucherverkehr wie auch die Gehwege der Bewohner über den Haupteingang gingen und lediglich vereinzelt Beschäftigte beim Weg von der Arbeit und zur Arbeit den Nebeneingang nutzten, ist davon auszugehen, dass es sich hierbei entgegen der Rechtsansicht der Klägerin um einen unbedeutenderen Fußweg handelte, vor allem gemessen an den konkreten Verhältnissen der Situation, als das Unfallgeschehensich ereignete. Dass möglicherweise der Nebeneingangsbereich ab 8:00 Uhr, wie die Beklagte vorgetragen hat, wenn die ersten Lieferungen vorgenommen werden, mehr frequentiert ist, kann hier dahingestellt bleiben, weil es um ein Unfallereignis geht, das etwa eine halbe Stunde vorher stattgefunden hat.
5. Es kann entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht davon ausgegangen werden, dass bereits ein Anscheinsbeweis dafür bestehen würde, dass die Beklagte am 07.12.2016 frühmorgens der ihr obliegenden Räum- und Streupflicht nicht nachgekommen wäre, denn der Unfall hat sich – wie bereits ausgeführt – auf dem untergeordneten Weg zur Nebeneingangstür um 7:30 Uhr ereignet, der Zeitpunkt liegt zwar noch innerhalb der allgemeinen zeitlichen Grenzen der bestehenden Verkehrssicherungspflichten, allerdings bezog sich in diesem Zusammenhang die Verkehrssicherungspflicht primär auf die Parkplätze und den Weg zum Haupteingang und nicht zum Nebeneingang, der zum damaligen Zeitpunkt – und wie wahrscheinlich auch schon zum Zeitpunkt davor und danach – von untergeordneter Bedeutung war, was die Frequentierung durch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Beklagten betroffen hat.
a) Es kommt daher auch nicht maßgeblich darauf an, ob tatsächlich an diesem Tag frühmorgens Regen eingesetzt hat, ob über Nacht der Boden gefroren war und demzufolge auf den Pflastersteinen sich schnell eine Eisschicht bildete, ebenfalls nicht entscheidungserheblich darauf, ob diese Eisschicht von der Klägerin erkennbar war oder – da am 07.12.2016 um 7:30 Uhr morgens noch nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Ort des Geschehens hinreichend erleuchtet war – die Gefahr erkennbar oder weniger erkennbar war. Nur dann, wenn es in den Stunden vor dem Unfallereignis entweder zu einem erheblichen Schneefall gekommen wäre oder eindeutig klar ist, dass der Boden gefroren ist und Regen fällt, was zu Glättebildung auf den Pflastersteinen führt, werden die erforderlichen Räum- und Streumaßnahmen zunächst auf den Hauptwegen und dann auf den Nebenwegen ausgelöst. Eine derartige witterungsmäßige Situation hat die Klägerin nicht vorgetragen. Während die Beklagte sich darauf berufen hat, es sei am 07.12.2016 morgens Blitzeis aufgetreten, hat die Klägerin lediglich darauf abgestellt, eine Eisfläche wäre am Zugangsweg zum Nebeneingang gewesen und die Verkehrssicherungspflicht habe es erfordert, dass die Beklagte durch entsprechende Räum- und Streumaßnahmen den Zugang zum Nebeneingang gesichert hätte.
b) Weil eindeutig keine unkalkulierbaren Witterungsverhältnisse entweder mit erheblichem Schneefall oder mit einem eindeutig gefrorenen Boden und einsetzenden erheblichen Regenfällen bestanden haben, konnte sich die Klägerin nicht mit Erfolg auf die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien über die Regeln des Anscheinsbeweises in dieser Situation berufen (BGH 26.02.2009 III ZR 225/08 NJW 2009 3300 Rdz. 4; 07.06.2005 IV ZR 290/04 NJW-RR 205 1185; OLG Koblenz 27.10.2010 1 O 170/10 VVR 2011 67 Rdz. 10). Im Normalfall trägt der Geschädigte die Darlegungs- und Beweislast für eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht; der Anscheinsbeweis ist anzunehmen, wenn die geschädigte Person innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht und innerhalb der Grenzen, für welche Wege die Streupflicht gilt, zu Fall gekommen ist und dabei das schadensstiftende Ereignis eingetreten ist. In diesen Situationen spricht der erste Anschein für eine Vermutung dafür, dass es bei pflichtgemäßer Wahrnehmung der Verkehrssicherungspflichten im Sinne der Räum- und Streupflichten nicht zu dem Unfall gekommen wäre, wenn sich bei dem Unfall mithin gerade diejenige Gefahr verwirklicht hat, deren Eintritt die Räum- und Streupflicht verhindern sollte.
c) Weil die Beklagte der Räum- und Streupflicht in Bezug auf die Parkplätze und den Zugang zum Haupteingang zunächst nachgekommen ist und erst zu einem späteren Zeitpunkt der weniger bedeutende Fußweg zum Nebeneingang vom Eis befreit wurde, ist davon auszugehen, dass die Klägerin, als sie den Weg zur Arbeitsstätte im Pflegeheim der Beklagten wählte, entweder besondere Vorsicht hätte walten lassen müssen, wenn sie den Eingang über den Nebenbereich gewählt hat – so wie geschehen – oder es wäre ihre Obliegenheit gewesen, zur Vermeidung von Unfällen über den Haupteingangsbereich das Pflegeheim zu betreten. Da beide Wegstrecken zum Antritt der Arbeit in etwa, was die Länge betrifft, gleich sind, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin, wenn sie nicht über die Nebeneingangstür gegangen wäre, eine deutliche Verlängerung des Wegs zur Arbeitsstätte gehabt hätte.
d) Im Ergebnis ist daher festzustellen, dass die Beklagte ihrer Verkehrssicherungspflicht im Rahmen der gegebenen Reihenfolge, was zunächst von Schnee und Eis zu räumen ist und was zunächst zu streuen ist und welche Wege dann erst hiernach an die Reihe kommen, nachgekommen ist und die Klägerin, die eindeutig einen untergeordneten Weg benutzte, wäre gehalten gewesen, sich besonders vorsichtig auf die Eingangstür des Nebeneingangs zuzubewegen und sie hätte damit rechnen müssen, dass bei diesem Weg mit Eisesglätte auf dem Steinpflaster zu rechnen ist. Weil der Beklagten eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht nicht zur Last gelegt werden konnte, war die Klage nicht erfolgreich.
6. Da dem Grunde nach bereits kein Schadensersatzanspruch besteht, bedurfte es keiner näheren Ausführungen zur Höhe des Schadens, zur Frage, ob der Klägerin ein Schmerzensgeldanspruch zusteht und wenn ja, in welcher Höhe, und insbesondere musste zu den Rechtsfragen der vom Ehemann der Klägerin an sie abgetretenen Schadensersatzansprüchen in Bezug auf die Kinderbetreuungskosten und die Aufwendungen, die für die Fahrten der Klägerin zu Ärzten und Therapieeinrichtungen entstanden sind, nicht näher eingegangen werden. Auch auf die Bestimmung des § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG kam es nicht mehr entscheidungserheblich an.
III.
1. Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 91 ZPO; als die Unterliegende hat die Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
2. Die Streitwertfestsetzung ergeht gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG in Verbindung mit § 3 ZPO. Als Streitwert ist festzusetzen die Summe der klageweise geltend gemachten Hauptsachebeträge, wobei das Gericht den immateriellen Schmerzensgeldanspruch mit demjenigen Betrag bewertet, den die Klägerin als Mindestbetrag des Anspruchs in der Klagebegründung angegeben hat.


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