Medizinrecht

Vertragsärztliche Versorgung – Voraussetzung für eine eingeschränkte Einzelfallprüfung mit anschließender Hochrechnung

Aktenzeichen  B 6 KA 81/17 B

Datum:
16.5.2018
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BSG
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BSG:2018:160518BB6KA8117B0
Normen:
§ 106 Abs 2 SGB 5
Spruchkörper:
6. Senat

Verfahrensgang

vorgehend SG Gotha, 14. Januar 2015, Az: S 2 KA 1400/10vorgehend Thüringer Landessozialgericht, 13. September 2017, Az: L 11 KA 835/15, Urteil

Tenor

Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 13. September 2017 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auf 1926 Euro festgesetzt.

Gründe

1
I. Der Kläger, der als Facharzt für Allgemeinmedizin seit 1991 zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen ist, wendet sich gegen Honorarrückforderungen nach einer Wirtschaftlichkeitsprüfung für das Quartal IV/2006. Der beklagte Beschwerdeausschuss bestätigte mit Bescheid vom 10.2.2010 eine von der Prüfungsstelle vorgenommene Kürzung um insgesamt 182 076,8 Punkte. Dies beruhte zum einen auf einer statistischen Vergleichsprüfung hinsichtlich der Gebührenordnungspositionen (GOP) 01410, 03001, 02341 und 33042 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für ärztliche Leistungen (EBM-Ä). Zum anderen wurde hinsichtlich der GOP 30720 (Analgesie eines Hirnnerven oder Hirnnervenganglions), 30721 (Sympathikusblockade – Injektion am zervikalen Nervenstrang), 30722 (Sympathikusblockade – Injektion am thorakalen oder lumbalen Nervenstrang) und 30760 (dokumentierte Überwachung im Anschluss an die Schmerztherapieinjektion) EBM-Ä eine repräsentative Einzelfallprüfung mit Hochrechnung durchgeführt, weil die Anwenderquote von weniger als 1 % nicht ausreichte, um von einer tauglichen Vergleichsgröße des Fachgruppendurchschnitts auszugehen. Überprüft wurden 117 der insgesamt 544 Behandlungsfälle des Klägers. Den festgestellten unwirtschaftlichen Anteil der jeweiligen GOP rechnete der Beklagte nicht auf die Fälle hoch, in denen die geprüften Einzelleistungen jeweils erbracht worden waren, sondern – unter Berücksichtigung eines Sicherheitsabschlages von 30 % – auf alle Fälle der Praxis.
2
Das SG hat die Klage abgewiesen, soweit ein Vergleich nach Durchschnittswerten vorgenommen worden war, und den Bescheid aufgehoben, soweit er auf der Einzelfallprüfung mit Hochrechnung beruhte. Die Voraussetzungen für eine solche Prüfung habe für die GOP 30720 EBM-Ä bereits deshalb nicht vorgelegen, weil der Kläger diese GOP im streitbefangenen Quartal in 11 Fällen nur 17mal abgerechnet habe. Im Hinblick auf die GOP 30721, 30722 und 30760 EBM-Ä sei die Hochrechnung fehlerhaft. Die Hochrechnung auf die Gesamtfallzahl führe dazu, dass auch solche Leistungen einbezogen würden, die ordnungsgemäß erbracht worden seien. Das LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und sich auf die Begründung des SG bezogen. Ergänzend hat es (unter Bezugnahme auf Engelhard in Hauck/Noftz, § 106 RdNr 146) ausgeführt, eine Einzelfallprüfung werde noch als zulässig anzusehen sein, wenn mindestens 50 Fälle geprüft würden und diese Zahl wiederum 50 % der speziellen Leistungsfälle umfasse. Dass eine Hochrechnung nur auf die Fälle der Abrechnung der geprüften GOP erfolgen dürfe, ergebe sich auch aus § 10 der Richtlinien über die Zufälligkeitsprüfung nach § 106 Abs 2 S 1 Nr 2 SGB V. Danach dürfe die Prüfungsstelle in Fällen der repräsentativen Einzelfallprüfung den Schluss ziehen, dass in einer weiteren Zahl von entsprechenden Fällen ebenfalls Unwirtschaftlichkeit bestehe.
3
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung wendet sich der Beklagte mit seiner Beschwerde, zu deren Begründung er eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) und eine Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) geltend macht.
4
II. Die Beschwerde des Beklagten hat keinen Erfolg.
5
1. Soweit der Beklagte eine Divergenz zur Rechtsprechung des Senats sieht, kann offenbleiben, ob seine Darlegungen den Begründungsanforderungen entsprechen. Eine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt jedenfalls nicht vor. Für die Zulassung einer Revision wegen einer Rechtsprechungsabweichung ist Voraussetzung, dass entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze aus dem LSG-Urteil und aus einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG miteinander unvereinbar sind und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 28 RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44). Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das LSG einen Rechtssatz nicht beachtet oder unrichtig angewandt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Divergenz (stRspr, vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29 und 67). Es reicht grundsätzlich auch nicht aus, aus dem LSG-Urteil inhaltliche Schlussfolgerungen abzuleiten, die einem höchstrichterlich aufgestellten Rechtssatz widersprechen. Das LSG-Urteil einerseits und die höchstrichterliche Entscheidung andererseits müssen vielmehr jeweils abstrakte Rechtssätze enthalten, die einander widersprechen. Das ist hier nicht der Fall.
6
a) Soweit der Beklagte vorträgt, das LSG habe mit seinen Ausführungen zur GOP 30720 EBM-Ä den Spielraum der Prüfgremien bei der Wahl der Prüfmethode verkannt, ist dies nicht nachvollziehbar. Das LSG hat diesen Spielraum nicht in Zweifel gezogen, vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Einzelfallprüfung mit Hochrechnung auch bei Einzelleistungen durchgeführt werden könne. Es hat lediglich gefordert, dass in diesem Fall – wie vom BSG generell verlangt – eine Mindestzahl von Fällen geprüft werden müsse. Die vom LSG angenommene Mindestzahl von 50 ist vom BSG für die eingeschränkte Einzelfallprüfung mit Hochrechnung zwar nicht festgelegt worden. Der Senat hat vielmehr zuletzt auch in einem Fall, in dem Laborleistungen und eine einzelne GOP einer eingeschränkten Einzelfallprüfung mit Hochrechnung unterzogen worden waren, grundsätzlich die Heranziehung von 20 % der abgerechneten Fälle und von mindestens 100 Behandlungsfällen für erforderlich gehalten und eine Ausnahme nur unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen (vgl BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 46 RdNr 18 ff). Die hiervon abweichende Mindestzahl ist vom LSG, das sein Urteil auf die Entscheidungsgründe des SG gestützt hat, indes nur in einem ergänzenden Hinweis eingeführt worden und hier nicht entscheidungserheblich. Dass jedenfalls eine lediglich in 11 Fällen abgerechnete Leistungsziffer kein tauglicher Gegenstand für eine repräsentative Einzelfallprüfung mit Hochrechnung ist, liegt auf der Hand.
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b) Soweit der Beklagte meint, die Entscheidung des LSG stehe in Widerspruch zu den vom BSG aufgestellten Grundsätzen für die eingeschränkte Einzelfallprüfung mit Hochrechnung, ist bereits zweifelhaft, ob damit eine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG vorgetragen oder ob nicht lediglich geltend gemacht wird, das Urteil sei falsch, weil es den Maßstäben der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht genüge. Ein inhaltlicher Widerspruch besteht jedenfalls nicht. Voraussetzung für eine eingeschränkte Einzelfallprüfung mit anschließender Hochrechnung ist nach der Rechtsprechung des Senats, dass sich eine ständig wiederkehrende Verhaltensweise des Arztes feststellen lässt, die von den Prüfgremien als unwirtschaftlich angesehen wird. Um eine mathematisch-statistisch verwertbare Aussage über die gleichgelagerte Verhaltensweise des Arztes zu erhalten, ist es, wie oben bereits dargelegt, nach Auffassung des Senats sachgerecht und geboten, pro Quartal einen prozentualen Anteil von mindestens 20 % der abgerechneten Fälle, der zugleich mindestens 100 Behandlungsfälle umfassen muss, zu überprüfen (BSGE 70, 246, 255 = SozR 3-2500 § 106 Nr 10 S 53; zuletzt BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 46 RdNr 18 mwN). Der bei dieser Prüfung ermittelte unwirtschaftliche Behandlungsumfang kann nach der Rechtsprechung des Senats auf die Gesamtheit der Fälle hochgerechnet werden, doch ist wegen der mit dieser Methode einhergehenden Unsicherheiten bei der Bemessung des Kürzungsbetrages ein Sicherheitsabschlag von 25 % des danach als unwirtschaftlich ermittelten Gesamtbetrages vorzunehmen (BSGE 70, 246, 255 = SozR 3-2500 § 106 Nr 10 S 53; BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 8 RdNr 18; BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 46 RdNr 18). Mit der “Gesamtheit der Fälle” können dabei stets nur die Fälle gemeint sein, die bei der Prüfung in den Blick genommen werden. Methodisch werden bei der eingeschränkten Einzelfallprüfung mit Hochrechnung aus der Überprüfung eines Teils der Behandlungsfälle Schlüsse auf die übrigen Behandlungsfälle gezogen. Wird eine einzelne GOP geprüft, sind solche Schlussfolgerungen logisch nur für die Fälle möglich, in denen diese GOP abgerechnet wurde. Allein der Umstand, dass mehr als 20 % der gesamten Behandlungsfälle geprüft wurden, rechtfertigt es nicht, die Unwirtschaftlichkeit bezüglich einzelner Gebührenziffern auch auf solche Fälle hochzurechnen, in denen diese GOP überhaupt nicht in Ansatz gebracht wurden. Ansonsten würden, wie das SG zu Recht aufgezeigt hat, von der Wirtschaftlichkeitsprüfung auch Leistungen erfasst, die ordnungsgemäß erbracht wurden.
8
Die vom Beklagten herangezogene Rechtsprechung des Senats stützt ihre gegenteilige Auffassung nicht. Bereits das Urteil, mit dem der Senat erstmals entschieden hat, dass der bei dieser Prüfung ermittelte unwirtschaftliche Behandlungsumfang auf die Gesamtheit der Fälle hochgerechnet werden kann (BSGE 70, 246 = SozR 3-2500 § 106 Nr 10), betraf auch die Prüfung der Wirtschaftlichkeit bzgl einzelner Leistungen. Aufgrund der konkreten Fallgestaltung (der Sache nach Richtigstellung statt Wirtschaftlichkeitsprüfung bzw Prüfung der Gesamtheit der Leistungen statt Einzelfallprüfung mit Hochrechnung) hatte der Senat keine Veranlassung zu näheren Ausführungen zur Einzelfallprüfung mit Hochrechnung bei Einzelleistungen. Die entwickelten Grundsätze bezogen sich allgemein auf die Prüfung der Behandlungsweise des Arztes (BSGE 70, 246, 254 f = SozR 3-2500 § 106 Nr 10 S 52 f). In dem ebenfalls vom Beklagten zitierten Urteil vom 13.8.2014 ist der in der früheren Entscheidung formulierte Obersatz ganz allgemein wiedergegeben (BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 46 RdNr 18). Aus dem Tatbestand ergibt sich aber, dass die Honorarkürzungen aufgrund der Einzelfallprüfung mit Hochrechnung allein Laborleistungen nach dem Kapitel O III und die GOP 4955 EBM-Ä betrafen. Die Kürzung traf nur die “als unwirtschaftlich erkannten Leistungen”; die Honorarkürzungen wurden ausgehend von den abgerechneten einzelnen Leistungspositionen unter Kürzung der als unwirtschaftlich festgestellten Leistungen in Punkten errechnet (BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 46 RdNr 3). Auch die Ausführungen im Urteil vom 23.2.2005 (B 6 KA 72/03 R – SozR 4-2500 § 106 Nr 8) lassen erkennen, dass eine Hochrechnung bei der Prüfung einer einzelnen GOP auch nur auf diese bezogen sein kann. Dort hat der Senat beanstandet, dass der Beklagte auf der Grundlage der Einzelfallprüfung mit anschließender Hochrechnung alle Leistungen einer bestimmten GOP als unwirtschaftlich gekürzt hatte (aaO RdNr 20).
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Soweit der Beklagte geltend macht, die angefochtene Entscheidung stehe im Widerspruch zu der Verpflichtung zu einer effektiven Wirtschaftlichkeitsprüfung, vermag dies eine Divergenzrüge ebenso wenig zu begründen wie die vom LSG abweichende Interpretation der Richtlinie über die Zufälligkeitsprüfung. Im Übrigen ist der Beklagte nicht gehindert, eine andere zulässige Prüfungsart zu wählen, sofern eine eingeschränkte Einzelfallprüfung mit Hochrechnung ausscheidet.
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2. Auch der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung liegt nicht vor. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 mwN; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 5 RdNr 3). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt dann, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist und/oder wenn sie sich ohne Weiteres aus den Rechtsvorschriften und/oder aus der bereits vorliegenden Rechtsprechung klar beantworten lässt (hierzu s zB BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; vgl auch BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; s auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Das ist hier der Fall.
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Der Beklagte fragt:
        
“ob und unter welchen Voraussetzungen die Prüfungseinrichtungen verpflichtet sind, bei Anwendung der Prüfmethode der eingeschränkten Einzelfallprüfung die vorzunehmende Hochrechnung auf die Behandlungsfälle einzuschränken, in denen die Abrechnungsziffer tatsächlich zum Ansatz kam”.
12
Für die Beantwortung dieser Frage bedarf es der Durchführung eines Revisionsverfahrens nicht, weil sie, wie oben dargelegt, aus der vorliegenden Rechtsprechung des Senats beantwortet werden kann. Der Vortrag des Beklagten, bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung des LSG sei die Einzelfallprüfung mit Hochrechnung nicht mehr praktikabel, ist nicht nachvollziehbar. Da die Daten über die Häufigkeit der Abrechnung einer GOP vorliegen, ist eine Hochrechnung vielmehr ohne Weiteres möglich. Wie sich aus den vom Senat entschiedenen og Fällen ergibt, wird dies auch durchaus praktiziert. Welche Anforderungen an die nunmehr in § 106a Abs 1 SGB V vorgesehene Zufälligkeitsprüfung zu stellen sind, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm §§ 154 ff VwGO. Als erfolgloser Rechtsmittelführer hat der Beklagte auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen (§ 154 Abs 2 VwGO).
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4. Die Festsetzung des Streitwerts entsprechend der noch streitigen Honorarrückforderung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und 3 S 1, § 47 Abs 1 und 3 GKG.


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