Medizinrecht

Vertragszahnärztliche Versorgung – Wirtschaftlichkeitsprüfung

Aktenzeichen  S 38 KA 5170/15

Datum:
9.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V SGB V § 106 Abs. 2 S. 4
SGB X SGB X § 21

 

Leitsatz

Eine Wirtschaftlichkeitsprüfung nach der statistischen Durchschnittsprüfung ergibt ein offensichtliches Missverhältnisses bereits bei einer Überschreitung von 40-60% des Gesamtfallwertes. (redaktioneller Leitsatz)
Die Amtsermittlungspflicht endet bei Tatsachen der individuellen Praxisgegebenheiten des Arztes; dieser muss insoweit umfassend vortragen und verifizieren. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird sowohl im Hauptantrag, als auch im Hilfsantrag abgewiesen.
II.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage ist zulässig, erweist sich jedoch vollumfänglich Haupt- und Hilfsantrag als unbegründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist als rechtmäßig anzusehen. Bei dem Hauptantrag (I.) handelt es sich um eine Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG, während der hilfsweise gestellte Antrag (II.) als kombinierte Anfechtungs- und Verbescheidungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG auszulegen ist. Die Klage im Hauptantrag (I.) ist allein deshalb unbegründet, weil die Klägerin keinen singulären Anspruch auf Aufhebung der Entscheidung des Beklagten hat. Dies wäre nur der Fall bei einer gebundenen rechtswidrigen Entscheidung, was jedoch für eine Entscheidung im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V, verbunden mit einem Beurteilungs- und Ermessensspielraum durch den Beklagten nicht zutrifft. Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung auf „Null“ oder für eine willkürliche Entscheidung durch die Beklagte bestehen nicht. Abgesehen davon gilt für den Haupt(I.)- und den Hilfsantrag (II.) folgendes: Zu Unrecht beanstandet die Klägerseite, dass der Beklagte eine statistische Durchschnittsprüfung durchführte. Zutreffend ist zwar, wie die Klägerseite aus-führt, dass die statistische Durchschnittsprüfung nicht mehr als Regelprüfmethode anzusehen ist. Gleichwohl handelt es sich hierbei um eine zulässige und anerkannte Prüfmethode, die ihre Rechtsgrundlage in § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V in Verbindung mit §§ 18 Absatz 1b, 2 und 20 der Anlage 4a zum GV-Z findet. Nach § 106 Abs. 2 wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch eine sog. „Auffälligkeitsprüfung“ oder durch eine sog. „Zufälligkeitsprüfung“ geprüft. Die Landesverbände der Krankenkassen und der Ersatzkassen haben jedoch von der in § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, über die vorgesehenen Prüfungen hinaus Prüfungen ärztlicher Leistungen nach Durchschnittswerten zu vereinbaren. Dies hat seinen Niederschlag gefunden in §§ 18 Absatz 1b, 2 und 20 der Anlage 4a zum GV-Z. Eine solche Durchschnittsprüfung ist auch nicht nach § 20 Abs. 3 der Anlage 4a zum GV-Z ausgeschlossen. Wie der Beklagte ausführte, ist eine Einzelfallprüfung angesichts der Fallzahl nicht zumutbar. Der Beklagte war deshalb, gestützt auf § 106 SGB V in Verbindung mit der Prüfvereinbarung berechtigt, eine statistische Durchschnittsprüfung durchzuführen, auch eine solche im Wege eines Vergleichs der Fallwerte. Letztere findet ihre Rechtsgrundlage in § 20 Abs. 7 der Anlage 4a zum GV-Z. Auch wenn die Fallzahl der Klägerin um 43% unter dem Durchschnitt der Fachgruppe der Zahnärzte liegt, ist eine Vergleichbarkeit gegeben. Wie das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 21.03.2012, Az. B 6 KA 17/11 R) ausführt, sind die Prüfgremien nicht verpflichtet, den Gründen für die unterdurchschnittliche Fallzahl nachzugehen, soweit der Grenzwert von 20% der durchschnittlichen Fallzahl der Fachgruppe erreicht oder überschritten wird. Ausgangspunkt der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach der Prüfmethode der statistischen Durchschnittsprüfung ist dabei die hohe Ausgangsüberschreitung des Gesamtfallwerts (Quartal: + 110%). Diese liegt im Bereich des offensichtlichen Missverhältnisses, das bereits bei einer Überschreitung von 40-60% anzunehmen ist. Im Einzelnen stellte der Beklagte hohe Überschreitungen bei den Füllungsleistungen der Bema-Nr. 13c (+ 990%) und bei Röntgenleistungen der Bema-Nr. Ä 925a fest. Nicht zu beanstanden ist ferner, dass der Beklagte nicht bzw. nicht explizit Praxisbesonderheiten und/oder kompensatorische Einsparungen anerkannte und diese nicht auf der ersten Stufe der intellektuellen Prüfung berücksichtigte. An Praxisbesonderheiten wurden klägerseits insbesondere sog. schwere Fälle und die niedrige Fallzahl im Quartal geltend gemacht. Dass im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung schwere Fälle auch durch Herausrechnen derselben berücksichtigt werden, ist rechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden, insbesondere bei Praxen, deren Fallzahl – wie bei der Klägerin – wesentlich niedriger liegt, als bei dem Durchschnitt der Fachgruppe. Denn mit einer niedrigen Fallzahl verfügen diese Praxen, worauf der Prozessbevollmächtigte der Klägern zutreffend hinweist, nicht über eine entsprechende Anzahl von sog. „Verdünnerfällen“, um schwere Fälle ausgleichen zu können. Problematisch erscheint aber, ab welchem Fallwert (-Betrag) von einem solchen schweren Fall auszugehen ist. Das Gericht möchte hier bewusst keinen bestimmten Fallwert angeben, zumal hier ein Beurteilungsspielraum der Beklagten besteht, hält jedoch die im Rundschreiben der KZVB vom 24.06.2015 (3/2015) genannten Fallwerte (über 500 EUR bzw. über 400 EUR) der Höhe nach für angemessen, um grundsätzlich einen schweren Fall annehmen zu können. Diese Fallwerte betreffen jedoch die Quartale des Jahres 2013. Zu dem strittigen Quartal gibt es jedoch keinerlei Datenmaterial. Es ist aber davon auszugehen, dass diese Werte auch im vorausgehenden Jahr Gültigkeit besitzen. Es wäre mit dem Gesichtspunkt der gleichmäßigen Verwaltungsübung und dem Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Grundgesetz nicht zu vereinbaren, „schwere Fälle“ aus unterschiedlichen Fallwerthöhen abzuleiten. Darauf kommt es aber letztendlich nicht an. Denn nicht allein die Höhe des Fall-wertes darf ausschlaggebend für die Anerkennung einer Praxisbesonderheit sein. Sie allein spiegelt nicht wider, ob es sich um ein Patientengut handelt, das vom Durchschnitt der Fachgruppe so erheblich abweicht, dass daraus die Überschreitung zu erklären wäre. Es kann sich diesbezüglich nur um ein Aufgreifkriterium handeln. Vorauszusetzen ist des Weiteren, dass die Erforderlichkeit und Wirtschaftlichkeit der durchgeführten Behandlungsmaßnahmen festzustellen ist. Der Beklagte hat im Quartal zwölf Fälle angefordert und diese nach den Ausführungen im angefochtenen Bescheid überprüft. Er hat dabei festgestellt, dass „nicht alle Sanierungsfälle wirtschaftlich abgearbeitet“ wurden. Die Begründung allein für sich genommen erscheint zunächst rechtlich problematisch. Es geht nämlich nicht daraus hervor, bei welchen Sanierungsfällen und warum bei diesen eine Unwirtschaftlichkeit bestehen soll. Sie ist allerdings im Kontext mit dem Schriftsatz der Klägerin vom 23.07.2015 zu sehen, der auf die Aufforderung des Beklagten erfolgte, die Klägerin möge begründen bzw. die Praxisbesonderheiten angeben, worauf die Überschreitungen des Gesamtfallwertes zurückzuführen seien. In dem genannten Schriftsatz finden sich allerdings im Wesentlichen nur allgemeine Ausführungen zu Praxisbesonderheiten und kausal-kompensatorischen Einsparungen, so auch zum Verhältnis Füllungsleistungen und Kronenversorgung bzw. zum Verhältnis Füllungsleistungen und Extraktionen. Die aufgeführten Statistiken und Zahlen belegen nur, dass bestimmte Leistungen von der Praxis bzw. von der Fachgruppe in Ansatz gebracht wurden. Sie sind aber kein Beleg dafür, dass die Leistungen zahnmedizinisch indiziert waren und wirtschaftlich erbracht wurden. Zwar gilt im Vertragsarztrecht/Vertragszahnarztrecht grundsätzlich der Amtsermittlungsgrundsatz nach § 20 SGB X. Danach ermittelt die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen. Dieser Amtsermittlungsgrundsatz gilt jedoch nicht unbegrenzt. Aus der Stellung des Vertragsarztes/Vertragszahnarztes, seiner Einbindung in das System der vertragsärztlichen Versorgung und dem Vergütungssystem erwachsen dem Vertragsarzt/Vertragszahnarzt besondere Mitwirkungspflichten, die weit über die allgemeinen Mitwirkungspflichten nach § 21 Abs. 2 Satz 1 SGB X hinausgehen. Lässt sich aus der Kombination von Amtsermittlungspflicht der Behörde und den besonderen Mitwirkungspflichten des Vertragsarztes/Vertragszahnarztes die strittige Tatsache nicht beweisen, gilt der Grundsatz der objektiven Beweislast (vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.06.2016, Az. L 11 KA /16 B ER). Es entspricht ständiger Rechtsprechung der Sozialgerichte, dass die zumutbaren Ermittlungsmöglichkeiten des Beklagten im Rahmen der Amtsermittlungspflicht dort enden, wo Tatsachenbeurteilungen relevant werden, die mit den nicht von außen erkennbaren individuellen Praxisgegebenheiten des Arztes zusammenhängen. Alle bedeutsamen Umstände des Praxisbetriebes und die Zusammensetzung des Patientengutes müssen vom Arzt umfassend vorgetragen und verifiziert werden. Der bloße Hinweis auf Praxisbesonderheiten genügt dieser Substantiierungspflicht nicht (BSG, Urteil vom 16.07.2003, B 6 KA 45/02 R; Landessozialgericht Hessen, Beschluss vom 08.08.2013, L 4 KA 29/13 B ER; SG Marburg, Urteil vom 18.11.2015, S 12 KA 275/14). Vor diesem Hintergrund kann die Begründung des Bescheides als noch mit § 35 SGB X (Begründungspflicht) vereinbar angesehen werden. Wenn jetzt im Nachhinein im Rahmen des Klageverfahrens 60 Fälle aufgeführt werden, bei denen es sich um schwere Fälle handeln soll, so wäre es Aufgabe der Klägerin gewesen, diese Fälle im Vorverfahren zu benennen und konkret anhand von Unterlagen aufzuzeigen, warum diese einen solchen umfangreichen Sanierungsaufwand auslösten. Die Darlegungs- und Feststellungslast erstreckt sich auch darauf, ob kausalkompensatorische Einsparungen vorliegen. Auch diesbezüglich wurde lediglich pauschal vorgetragen, es bestehe ein Zusammenhang zwischen dem hohen Ansatz von Füllungsleistungen und dem niedrigen Ansatz bei der Kronenversorgung sowie dem hohen Ansatz von Füllungsleistungen und dem niedrigen Ansatz bei Extraktionen. Derartige Zusammenhänge vermag das mit einem Zahnarzt fachkundig besetzte Gericht nicht zu erkennen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass alle anderen Zahnärzte entsprechend der Richtlinien (B III.2 i. V. m. § 92 SGB V) grundsätzlich auch großen Wert auf zahnerhaltende Maßnahmen legen. Kronenversorgung und Füllungstherapie sind daher nicht beliebig austauschbar. Insofern können „eingesparte Festzuschüsse“ bei der Kronenversorgung nicht gegengerechnet werden. Für diese Sichtweise spricht im konkreten Fall auch, dass es sich meist um die Behebung von Defekten am Zahnhals handelt, die nicht zu einer Notwendigkeit der Kronenversorgung führen. Auch geht die Kammer davon aus, dass Extraktionen von Zähnen generell nur dann erfolgen, wenn eine zahnmedizinische Notwendigkeit hierfür besteht, vor allem bei Zähnen, die nicht mehr erhaltungsfähig- und würdig sind. Insofern kann auch zwischen Füllungsleistungen und Extraktionen kein Zusammenhang bestehen. Die extrem hohen Überschreitungen im Füllungsbereich (F-3 Füllungen) in den Quartalen 2/2012, 3/2012 und 3/2012 fallen zeitlich zusammen mit der Beschäftigung einer Ausbildungsassistentin, die offensichtlich vornehmlich im konservativen Bereich eingesetzt wurde und auf deren Tätigkeit offenbar die Vielzahl von Füllungsleistungen zurückgeht. Wie die Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung am 09.11.2016 ausführten, waren weder in den den Quartalen 2/2012, 3/2012 und 3/2012 vorausgehenden, noch nachfolgenden Quartalen annähernd solche Überschreitungswerte festzustellen, was für den oben geschilderten Zusammenhang und die vom Beklagten festgestellte systematische Abrechnung von F-3 Leistungen spricht. Die Beschäftigung einer Ausbildungsassistentin stellt auch per se keine Praxisbesonderheit dar, da sich hierdurch an dem Patientengut nichts ändert. Für die Annahme von statistischen Verzerrungen bei den Leistungen, bei denen diese hohen Überschreitungen festzustellen sind, beispielsweise dadurch, dass es sich um Leistungen handelt, die nur von wenigen Zahnärzten erbracht werden, gibt es keine Anhaltspunkte. Dies gilt insbesondere für die im Mittelpunkt der Überschreitung stehenden Füllungsleistungen, die regelmäßig von allen Zahnärzten erbracht werden. Letztendlich ist auch die der Klägerin belassene Restüberschreitung von 68% im Quartal rechtlich nicht zu beanstanden. Denn der Überschreitungswert liegt nach wie vor im Bereich des offensichtlichen Missverhältnisses. Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 VwGO.


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