Medizinrecht

Vollstreckbarkeit von Sozialgerichtsurteilen zur Genehmigungsfiktion § 13 Abs. 3a SGB V

Aktenzeichen  L 5 KR 141/17 ER

Datum:
10.3.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
ASR – 2017, 120
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 199 Abs. 2
SGB V § 13 Abs. 3a
SGG § 193

 

Leitsatz

1 Werden die Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V auch in der Berufungsinstanz zu bejahen sein, ist die Vollstreckungsaussetzung eines sachleistungszusprechenden Ersturteils zu verneinen. (redaktioneller Leitsatz)
2 Das gilt trotz der regelmäßigen faktischen Endgültigkeit sozialgerichtlicher Vollstreckungen, welche im Endeffekt zu Lasten der Beitragszahler gehen. (redaktioneller Leitsatz)
3 Anträge auf Vollstreckungsaussetzung eröffnen eigenständige Verfahren, welche der Prozesskostenhilfe zugänglich sind sowie einer eigenständigen Kostenentscheidung bedürfen. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 3 KR 381/15 2016-09-01 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Der Antrag der Beklagten, die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts München vom 1. September 2016, Az.: S 3 KR 381/15 auszusetzen, wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Verfahren der Aussetzung der Vollstreckung.

Gründe

I.
Die Beklagte begehrt die Aussetzung der Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts München vom 1.9.2016 (Az.: S 3 KR 381/15).
1. Streitgegenstand des Ausgangsverfahrens ist die Sachleistungsgewährung plastisch-chirurgische Folgeeingriffe einer adipositas-chirurgischen Maßnahme im April 2013.
Die 1978 geborene Klägerin ist auf Grund einer Beschäftigung als Altenpflegerin gesetzlich krankenversichertes Mitglied der Beklagten. Nach einer adipositas-chirurgischen Magenverkleinerung im April 2013 und der folgenden Gewichtsabnahme um ca. 61 kg bildeten sich bei der Klägerin Hautmantelüberschüsse der Oberarme und Oberschenkel, eine Bauchschürze sowie eine Mammaptosis, welche Feuchtigkeitsbildungen mit rezidivierenden Hautentzündungen nach sich zogen. Mit am 20.1.2015 bei der Beklagten eingegangenem Antrag begehrte die Klägerin vier operative Eingriffe und zwar im Bereich des Bauches einschließlich Fasciendoppelung, Bruststraffung, Oberarmstraffung mit Flankenlift sowie Oberschenkelstraffung. Dem Antrag beigefügt waren ärztliche Atteste der behandelnden Allgemeinmedizinerin M., des Dermatologen Dr. H. sowie des Orthopäden/Unfallchirurgen Dr. S., welche die beantragten Eingriffe als medizinisch notwendig bezeichneten sowie eine Bescheinigung des plastischen und ästhetischen Chirurgen Dr. Z., der die schrittweisen operativen Eingriffe näher bezeichnete und auf rezidivierende Infektionen hinwies. Mit allgemeinem Schreiben vom 21.1.2015 teilte die Beklagte mit, sie hole ein Gutachten des MDK ein. Dieser verneinte unter dem 26.2.2015 die medizinische Notwendigkeit der plastisch-chirurgischen Eingriffe. Dem folgend lehnte die Beklagte die begehrte Sachleistung ab (Bescheid 18.3.2015 – Widerspruchsbescheid 9.6.2015). (Frist-)Mitteilungen iSd § 13 Abs. 3a SGB V sind nicht erfolgt.
Im anschließenden Klageverfahren hat die Beklagte im Erörterungstermin vom 11.8.2016 anerkannt, dass vorliegend eine Genehmigungsfiktion iSd § 13 Abs. 3a SGB V eingetreten sei. Die Beklagte hat weiter zur Niederschrift erklärt, nach erfolgter Anhörung werde die Genehmigungsfiktion nach § 45 SGB X zurückgenommen. Mit Urteil vom 1.9.2016 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 18.3.2015/Widerspruchsbescheid vom 9.6.2015 sowie den Bescheid vom 11.8.2016 aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß zur Sachleistung verurteilt. Nach Eintritt Genehmigungsfiktion iSd § 13 Abs. 3a SGB V bestehe ein entsprechender Leistungsanspruch, der durch den Bescheid vom 11.8.2016 nicht beseitigt sei.
Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Mit formellem Bescheid vom 3.2.2017 hat sie den fingierten Bescheid vom 25.2.2016 zurückgenommen sowie den Antrag vom 20.1.2015 abgelehnt. Die operativen Eingriffe lägen als kosmetische Operationen außerhalb des Leistungsspektrums des SGB V, weil sie medizinisch nicht notwendig seien. Zudem seien konservative Methoden zur Behandlung der Hauterkrankungen nicht ausgeschöpft. Deshalb dürfe der Klägerin im vorliegenden Sachleistungsbereich auch das vom BSG geforderte subjektive Erforderlich-Halten nicht zugebilligt werden. Der Rücknahmebescheid vom 11.8.2015 [richtig: 2016] sei mangels Widerspruchs rechtskräftig. Zudem seien die Voraussetzungen der Rücknahme durch den Bescheid vom 11.8.2016/Bestätigungsbescheid vom 3.2.2017 erfüllt, insbesondere komme der Klägerin wegen der noch nicht erfolgten Sachleistung kein Vertrauensschutz zu.
2. Am 1.3.2017 hat die Beklagte beantragt,
die Vollstreckung des Urteils Sozialgerichts München vom 1. September 2016, Az.: S 3 KR 381/15 durch einstweilige Anordnung nach § 199 Abs. 2 SGG auszusetzen.
Das sozialgerichtliche Urteil sei offenbar rechtswidrig, weil die Genehmigungsfiktion nichts erfassen könne, was – wie vorliegend kosmetische Operationen – außerhalb des Leistungsspektrums des SGB V liege. Die Genehmigungsfiktion sei nachträglich beseitigt. Strittig seien keine lebenswichtigen Leistungen, so dass die Klägerin kein Vollzugsinteresse habe. Die Kosten der Eingriffe lägen im fünfstelligen Euro-Bereich, so dass die Klägerin kaum in der Lage sein werde, aus ihren Arbeitseinkünften als Altenpflegerin Kostenerstattung zu leisten, falls sie am Ende Verfahrens unterliegen sollte. Eine vorläufige Vollstreckung sei also nicht vorläufig, sondern endgültig.
Die Klägerin hat beantragt,
den Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung abzulehnen Ein Ausnahmefall, welcher die grundsätzliche Vollstreckbarkeit verbiete, liege nach der ergangenen Rechtsprechung zur Genehmigungsfiktion nicht vor.
II.
Der gem. § 199 Abs. 2 SGG zulässige Antrag der Beklagten, über welchen der Vorsitzende allein ohne mündliche Verhandlung entscheidet, bleibt ohne Erfolg.
1. Gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG kann, wenn ein Rechtsmittel – wie vorliegend die Beklagtenberufung – keine aufschiebende Wirkung hat, der Vorsitzende des Rechtsmittelgerichts die Vollstreckung der angegriffenen Entscheidung – vorliegend das Urteil des Sozialgerichts München vom 1. September 2016 – einstweilig aussetzen.
Die Aussetzung der Vollstreckung stellt eine Ausnahme dar (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss 4.8.2016 – 1 BvR 380/16, Rn. 17, zitiert nach juris), das SGG ordnet nur für Einzelfälle im Rechtsmittelverfahren eine aufschiebende Wirkung an (vgl. §§ 154, 165, 175 SGG). Die Aussetzung der Vollstreckung richtet sich nach einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage (vgl. LSG Essen, 2.3.2016 – L 11 SF 75/16 ER zur vorliegenden kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG). Dabei ist das verfassungsrechtliche Gebot der tatsächlichen und rechtlichen Durchdringung des Falles zu beachten (BVerfG, 14.9.2016 – 1 BvR 1335/13 Rn. 22 – zitiert nach juris), welchem ein Offenlassen der Erfolgsaussichten wohl kaum gerecht werden kann (aA LSG Essen, 2.3.2016 – L 11 SF 75/16 ER, Rn. 20, zitiert nach juris).
Die Entscheidung steht im Ermessen des Gerichts (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 14. Aufl. 2014, § 199, Rn 7c mwN) und berücksichtigt die gegenläufigen Interessen der Beteiligten. Gerade im Sachleistungsbereich des SGB V ist zu beachten, dass die Vollstreckung auszusetzen ist, wenn die Krankenkasse als Vollstreckungsschuldner einen nicht zu ersetzenden Nachteil erleiden würde und ein überwiegendes Interesse des Versicherten als Gläubiger nicht entgegensteht (vgl. BSG, 28.10.2008 – B 2 U 189/08; Bayer. LSG, 27.5.2009 – L 18 R 178/09 ER). Das erfasst namentlich Fälle, in welchen die Gemeinschaft der Beitragszahler gesetzeswidrig mit kostenintensiven Maßnahmen ohne medizinische Notwendigkeit, mit nicht nachgewiesener Wirksamkeit, ohne Nachweis der Nebenwirkungsfreiheit belastet würde und zugleich im Falle des Obsiegens im Rechtsmittel der verschuldensfreie prozessuale Rückerstattungsanspruch offenbar nicht realisierbar ist. In diesen Fällen wird meist dem Rechtsmittel offensichtliche Erfolgsaussicht zuzubilligen sein. Nicht nur deshalb kommt der Erfolgsaussicht erhebliche Entscheidungsrelevanz zu.
2. In Anwendung dieser Maßstäbe ist dem Aussetzungsantrag der Erfolg zu versagen.
a) Die Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion § 13 Abs. 3a SGB V werden auch in der Berufungsinstanz zu bejahen sein.
– Der Leistungsantrag vom 20.1.2015 war konkret auf vier einzeln bezeichnete Operationen gerichtet gestellt. Auch durch die beigefügten fachärztlichen Bescheinigungen namentlich des Dr. Z. waren die begehrten Maßnahmen so bestimmt, dass die Beklagte in der Lage war, darauf mit einem „Ja“ oder einem „Nein“ eine rechtsverbindliche Entscheidung iSd § 33 SGB X zu treffen.
– Der Zeitablauf (Antragseingang 20.1.2015, Bescheid 18.3.2015) ist ebenso unstrittig erfüllt wie das Nichtvorliegen einer Mitteilung an die Klägerin. Darüber hinaus hat die Beklagte im Erörterungstermin vom 11.8.2016 die Genehmigungsfiktion anerkannt.
– Nach den Bescheinigungen der behandelnden Ärzte sind die vier beantragten Eingriffe medizinisch veranlasst, sie liegen damit nicht offenbar außerhalb des Leistungsbereiches des SGB V. Eine Einschränkung, dass sich die Genehmigungsfiktion nur auf Leistungen bezieht, die vollumfänglich medizinisch notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich sind, enthält § 13 Abs. 3a SGB V nicht (Bayer. LSG, 23.2.2016 – L 5 KR 351/14, Rn. 35, zitiert nach juris). Auf die ärztlich attestierte Notwendigkeit durfte die Klägerin auch vertrauen (vgl. BSG, 18.3.2916, B 1 KR 25/15 R, Rn. 25 ff – zitiert nach juris). Dieses Vertrauen wird mit Sicherheit durch die Einschätzung des MDK nicht an Schutzwürdigkeit verloren haben.
– Die Genehmigungsfiktion eröffnet für Versicherte nicht nur den Weg des Kostenerstattungsanspruches (so aber Bayer. LSG, 7.9.2016 – L 20 KR 597/15, Revision anhängig BSG, B 1 KR 26/16 R), sondern sie können auch wie die Klägerin einen Sachleistungsanspruch geltend machen (BSG, 8.3.2016, B 1 KR 26/16 R, Rn. 25 – zitiert nach juris). Andernfalls stünde die Genehmigungsfiktion bemittelten Versicherten offen, während nicht bemittelten Versicherten, die sich die Leistung nicht leisten können, § 13 Abs. 3a SGB V grundgesetzwidrig verschlossen bliebe (Bayer. LSG, 23.2.2016 – L 5 KR 351/14, Rn. 46 unter Bezug auf LSG NRW, 23.5.2014 – L 5 KR 222/14 B, Rn. 7 mwN – zitiert jeweils nach juris).
– Die nachträgliche Beseitigung der Genehmigungsfiktion (vgl. BSG, aaO, Rn 31 ff) durch den Bescheid zur Niederschrift vom 11.8.2016 sowie durch den Bescheid vom 3.2.2017 ist analog § 96 SGG jeweils Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden (Bayer. LSG, 31. Januar 2017, L 5 KR 471/15 – zur Veröffentlichung vorgesehen), so dass Rechtskraft nicht eingetreten ist.
– Die nachträgliche Beseitigung der Genehmigungsfiktion wird nach dem vorliegend anzuwendenden summarischen Maßstab mit Sicherheit an formellen Voraussetzungen scheitern, insbesondere am Fehlen eines Ermessensgebrauches (Bescheid zur Niederschrift vom 11.8.2016). Zudem ist insoweit nicht § 45 SGB X einschlägig, sondern § 47 SGB X (Bayer. LSG, 31. Januar 2017, L 5 KR 471/15 – zur Veröffentlichung vorgesehen).
3. Es spricht zwar vieles dafür, dass die vorläufige Vollstreckung der erstinstanzlichen Entscheidung endgültige Verhältnisse schaffen wird. Denn die Klägerin wird mit ihrem Arbeitseinkommen aus einer pflegerischen Beschäftigung nicht in der Lage sein, die zu erwartenden erheblichen Operationskosten im Falle eines letztinstanzlichen Unterliegens zu begleichen. Dies verdeutlicht ein spezifisches Risiko des Sozialrechts und des sozialgerichtlichen Verfahrens: Die Endgültigkeit einer vorläufigen Vollstreckung geht häufig nicht zu Lasten eines Verfahrensbeteiligten, sondern faktisch zu Lasten der Beitragszahler.
Diese schiefe Lastenverteilung kann den gesetzlich festgelegten Grundsatz der vorläufigen Vollstreckbarkeit aber nicht beseitigen. Dieser Grundsatz erfährt auch keine Ausnahme für Fälle noch nicht gefestigter Rechtsprechung nach gesetzlichen Neuregelungen. Schließlich ist vorliegend der Berufung nach der gebotenen summarischen Prüfung – wie dargelegt – keine erhebliche Erfolgsaussicht zuzubilligen.
Zusammenfassend bleibt es somit bei der Vollstreckbarkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.
4. Die Tatsache, dass der MDK die medizinische Erforderlichkeit der streitbefangenen Maßnahmen mit eingehender Begründung verneint hat sowie die Tatsache der noch nicht durch das BSG gefestigten Rechtsprechung zu § 13 Abs. 3a SGB V veranlassen folgenden Hinweis: Von diesem Beschluss bleibt ein prozessualer Rückerstattungsanspruch unberührt, falls die Klägerin das sozialgerichtliche Urteil vollstreckt, in letzter Instanz aber unterliegt. Dieser Anspruch setzt ein Verschulden nicht voraus und kann von der Beklagten als zuständiger Einzugsstelle ins Werk gesetzt werden.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Das vorliegende Verfahren ist ein eigenständiges Verfahren, welches sogar der Bewilligung von Prozesskostenhilfe zugänglich ist (BVerfG, 4.8.2016 – 1 BvR 380/16). Eine Kostenentscheidung ist daher zu treffen; diese richtet sich an dem Unterliegen der Beklagten.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar; er kann jederzeit aufgehoben werden, § 199 Abs. 2 Satz 3 SGG.


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