Medizinrecht

Zum vorliegen einer psychischen Gesundheitsstörung bei Nierenzyste

Aktenzeichen  L 2 SB 86/15

Datum:
22.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB XI SGB XI § 69

 

Leitsatz

1. Angesichts der eindeutigen Regelung zum maßgeblichen Beginn der Heilungsbewährung in Punkt B 1 c Anlage VersMedV kommt eine Anwendung der Heilungsbewährung für die Zeit vor der operativen Beseitigung der Gechwulst nicht in Betracht.
2. Es ist auch keine entsprechende oder analoge Anwendung dieser Sonderregelung angezeigt.
3. Maßgeblich wind bei einer zunächst diagnostizierten Nierenzyste für die Zeit vor der Operation die organisch bedingten funktionellen Einschränkungen im Bereich der Niere und/oder psychische Gesundheitsstörungen.

Verfahrensgang

S 11 SB 156/14 2015-04-15 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 15.04.2015 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger 1/5 der notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

A. Die zulässige Berufung erweist sich als unbegründet. Denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 70 für die Zeit vor dem 20.03.2014.
Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 22.03.2017 entscheiden. Denn der Kläger ist ausweislich der Postzustellungsurkunde am 03.02.2017 ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen worden mit dem Hinweis, dass auch im Falle seines Ausbleibens Beweis erhoben, verhandelt und entschieden werden kann. Eine Reise- oder Verhandlungsunfähigkeit oder auch nur eine Erkrankung sind nicht belegt worden. Auf das Fax des Senats vom 21.04.2017 wird verwiesen.
Streitgegenstand im Berufungsverfahren ist nur noch die Höhe des GdB im Zeitraum vom 08.04.2013 (Antragstellung) bis zum 19.03.2014. Denn für den Zeitraum ab 20.03.2014 hatten die Beteiligten bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem SG einen Teilvergleich mit Anerkennung eines GdB von 100 geschlossen, so dass entsprechende Feststellungen und der den Teilvergleich ausführende Bescheid vom 04.05.2015 nicht Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahren sind. Der Senat weist ferner klarstellend darauf hin, dass auch der Bescheid der Beklagten vom 02.06.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.07.2014, mit dem der Beklagte eine Überprüfung des streitgegenständlichen Bescheides abgelehnt hatte, nicht gemäß § 96 SGG Streitgegenstand des Klageverfahrens geworden (vgl. BSG Beschluss vom 30.09.2009 – B 9 SB 19/09 B – Juris RdNr. 9).
Der Kläger hat aber keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 100 bzw. von mehr als 70 für den Zeitraum vom 08.04.2013 bis 19.03.2014. Rechtsgrundlage für die Feststellung des Vorliegens einer Behinderung und des GdB ist § 69 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit den seit 01.01.2009 maßgeblichen Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG) in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (Anlage VersMedV vom 10.12.2008 – BGBl. I 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11.10.2012 (BGBl. I 2122; vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX i.V.m. § 70 Abs. 2 SGB IX, § 30 Abs. 1 und Abs. 16 BVG vgl. BSG vom 11.08.2015 – B 9 SB 2/14 R – Juris RdNr. 11).
Die VG haben die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) abgelöst, die für die Zeit vor 01.01.2009 weiterhin als antizipierte Sachverständigengutachten beachtlich sind (vgl. BSG Urteil vom 18.09.2003 – B 9 SB 3/02 R und Urteil vom 24.04.2008 – B 9/9a SB 10/06 R; BVerfG Beschluss vom 06.03.1995 – 1 BvR 60/95, alle veröffentlicht in Juris). Die AHP und nunmehr die VG sind ein auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhendes Regelwerk, das die möglichst gleichmäßige Anwendung der Bewertungsmaßstäbe im Bundesgebiet bezweckt und dem Ziel des einheitlichen Verwaltungshandelns und der Gleichbehandlung dient. Dabei werden GdS und GdB nach den gleichen Grundsätzen bemessen (vgl. A 2 a) Anlage VersMedV).
Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69 Abs. 3 SGB IX).
Nach durchgeführter Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger vor dem 20.03.2014 keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 70 hat. Der Senat folgt im Wesentlichen den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. W.
1. Ausweislich der vorliegenden Unterlagen lässt sich ein höherer Einzel-GdB als 50 für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, Spinalkanalstenose und Wirbelgleiten selbst unter Einbeziehung der sich ebenfalls auf Stand- und Gangvermögen auswirkende Polyneuropathie des Klägers für die Zeit vor dem 20.03.2014 nicht begründen.
Die VG sehen unter Punkt B 18.9 Anlage VersMedV folgende GdB-Werte für Wirbelsäulenschäden vor:
Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) 20 mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) 30 mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten 30-40 mit besonders schweren Auswirkungen (z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z.B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) 50-70 bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit 80-100 Anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen – oder auch intermittierenden Störungen bei der Spinalkanalstenose – sowie Auswirkungen auf die inneren Organe (z.B. Atemfunktionsstörungen) sind zusätzlich zu berücksichtigen.
Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen (z.B. Postdiskotomiesyndrom) ein GdS / GdB über 30 in Betracht kommen. Das neurogene Hinken ist etwas günstiger als vergleichbare Einschränkungen des Gehvermögens bei arteriellen Verschlusskrankheiten zu bewerten.
Bei den Polyneuropathien ergeben sich nach B 3.11 Anlage VersMedV die Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund motorischer Ausfälle (mit Muskelatrophien), sensibler Störungen oder Kombinationen von beiden. Der GdS bzw. GdB motorischer Ausfälle ist in Analogie zu den peripheren Nervenschäden einzuschätzen. Bei sensiblen Störungen und Schmerzen ist zu berücksichtigen, dass schon leichte Störungen zu Beeinträchtigungen – z.B. bei Feinbewegungen – führen können. Auf die Bewertung vollständiger Nervenausfälle im Bereich der unteren Extremitäten unter B 18.14 Anlage VersMedV wird verwiesen.
Aus den vorliegenden Unterlagen, insbesondere dem Arztbrief von Prof. Dr. Dr. B. vom November 2013, dem MRT-Befund der LWS vom 13.01.2014 und dem Arztbrief des Krankenhauses der B. B-Stadt vom 18.06.2014, lässt sich entnehmen, dass sich seit ca. 2011 eine zunehmende Kraftlosigkeit der Beine des Klägers entwickelt hatte. Bei neurologischer Untersuchung im November 2013 schilderte der Kläger die Notwendigkeit, sich nach kurzer Zeit Stehen oder Gehen hinzusetzen. Bei paravertebralem Hartspann wurden aktuelle oder auch frühere Rückenschmerzen verneint, der Romberg Stehversuch war sicher, es bestanden eine endgradige Fußheberparese und keine sichere sensible Störung. Nach durchgeführter Messung mittels EMG diagnostizierte der Neurologe eine nur gering ausgeprägte diabetische Neuropathie bei chronisch-neurogener Schädigung im Sinne einer Spinalkanalstenose bei Spondylolisthesis L 5. Die neurogenen Veränderungen betrafen hauptsächlich die von der L 5/S. 1-Wurzel versorgte Muskulatur mit chronisch-neurogenem Umbau des Musculus tibialis anterior. Der Peronäusnerv war rechts motorisch unauffällig bei nicht erhältlichem sensiblen Potential; die Messwerte des Nervus tibialis links lagen im unteren Normbereich. Auch bei Untersuchung durch Dr. W. im Oktober 2014 waren die Auswirkungen der Polyneuropathie als gering anzusetzen; im Wesentlichen beschränkte sich dies auf Gangunsicherheiten beim Blindgang. Trophische Störungen im Bereich der Muskulatur der Füße waren aber nicht festzustellen. Das Vibrationsempfinden an den Fußknöcheln war aufgehoben, allerdings bestand normales Berührungsempfinden an den Füßen, so dass z.B. Steine im Schuh wahrgenommen wurden. Vor diesem Hintergrund lässt sich bei getrennter Bewertung für die Polyneuropathie in Übereinstimmung mit der Beurteilung von Dr. W. kein höherer Teil-GdB als 20 begründen.
Der MRT-Befund der LWS vom 13.01.2014 ergab bei Hyperlordose mit Lordosewinkel von 50° leicht verschmälerte Zwischenwirbelräume von Th 7 / L1 und L 1/2, Chondrose mit Signalverlust der Bandscheibe in den Segmenten L 3/4 und L 4/5 mit Facettenarthrosen, gering- bis mäßiggradige foraminale Engen im Bereich L 3 und L 4 beidseits mit geringer Einengung des Spinalkanals im Segment L 3/4, eine Retrospondylolisthesis L5 gegenüber S. 1 um 5 mm, eine zirkuläre bis foraminal reichende Pseudoprotrusion der Bandscheibe sowie eine hochgradige, auch knöchern bedingte Foramenstenose für L 5 beidseits bei freien S1-Wurzeln.
Nach Angaben des Klägers bei Behandlung vom 10. bis 18. Juni 2014 im Krankenhaus der B. B-Stadt hatten sich ca. eine Woche nach der Nieren-Operation am 20.03.2014 progrediente Schmerzen im rechten Bein mit daraus folgender Schwäche und Bewegungsstörung entwickelt, ohne direkte Rückenschmerzen. Beschrieben wurde im dortigen Befund ein Taubheitsgefühl beider Fußsohlen, eine größtenteils erhaltene Propriozeption, ein unauffälliger Stand, ein Schonhinken rechts und Einschränkungen der erschwerten Gangproben sowie anhand des EMG vom 10.06.2014 ein ablaufender neurogener Umbau ohne höhergradigen Ausfall motorischer Einheiten. Nun wurde ein Wurzelkompressionssyndrom L 3 rechts bei Bandscheibenprotrusion diagnostiziert, weshalb im Juni 2014 Operation der LWS erfolgte.
Wesentliche Einschränkungen der Wirbelsäulenbeweglichkeit sind für die Zeit vor dem 20.03.2014 in den ärztlichen Unterlagen nicht dokumentiert und finden sich auch nicht bei der Untersuchung durch Dr. W. am 09.10.2014. Danach war die Wirbelsäule schmerzfrei beweglich, ohne Muskelhartspann und die gemessenen Werte für die Beweglichkeit zeigten allenfalls geringe Einschränkungen, im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) mit Seitneigung bis 20° (Normwerte – NW -30-40°), Rotation bis 60° (NW 60-80°) und gute Vor- und Rückwärtsneigung (Kinn-Brustbein-Abstand minimal 2 cm, maximal bis 18 cm möglich), im Bereich des Rumpfes – BWS und LWS – mit Seitneigung von 30° (NW 30-40°) bei nur gering verminderter Entfaltung, Drehen um 30° (NW 30-50°), Vorwärtsneigung bis 60° und Rückwärtsneigung bis 20° (NW 30°). Die Beurteilung des Finger-Boden-Abstandes war wegen limitierender rechtsseitiger Hüftbeschwerden bei verspannter ischiocruraler Muskulatur nicht möglich. Der gemessene Wert für das Zeichen nach Ott von 35 – 30 – 29 cm spricht ebenfalls für eine gute BWS-Beweglichkeit (NW 30: 32 cm).
Damit beschränkten sich die wesentlichen Beeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule bis zum 20.03.2014 auf ein im Laufe der Jahre zunehmendes Schwächegefühl im rechten Bein bzw. gewisse Einschränkungen des Gehvermögens aufgrund Spinalkanalstenose im Bereich der LWS bei zugleich bestehender geringgradiger diabetischer Polyneuropathie. Aus Sicht des Senats hat der Beklagte diesen Einschränkungen mit einem Einzel-GdB von 50 für das Wirbelsäulenleiden einschließlich Polyneuropathie angesichts des oben dargelegten Maßstabes durchaus großzügig Rechnung getragen. Ein höherer Einzel-GdB kommt für die Zeit vor dem 20.03.2014 nicht in Betracht, zumal im Wesentlichen ein Wirbelsäulenabschnitt – nämlich die LWS – von degenerativen Veränderungen betroffen war, Rückenschmerzen nach eigenen Angaben des Klägers in diesem Zeitraum nicht aufgetreten waren, der Kläger sicher stehen konnte und sein Gehvermögen zwar eingeschränkt war, aber zum damaligen Zeitpunkt nach kurzen Sitzpausen durchaus ein Weitergehen möglich war und auch gänzlich selbstständig erfolgte, ohne Gebrauch von Hilfsmitteln.
2. Einschränkungen aufgrund von Hüftbeschwerden bzw. Coxarthrose werden in den ärztlichen Unterlagen erstmals im April 2014 – im Rahmen der Rehamaßnahme des R-Klinikums A-Stadt – bzw. ab Juni 2014 dokumentiert. Daher kann der von Dr. W. vorgeschlagene Einzel-GdB von 20 für die Hüfterkrankung für die Zeit vor dem 20.03.2014 nicht angesetzt werden.
3. Dr. W. hat ferner die Bewertung der Durchblutungsstörung des Herzens, der Herzklappenfehler, des Bluthochdrucks und der Herzrhythmusstörungen mit einem Einzel-GdB von 30 bestätigt. Der Sachverständige hat überzeugend dargelegt, dass der Bluthochdruck angesichts der übermittelten Messwerte medikamentös ausreichend gut reguliert ist und dass es sich angesichts der nachgewiesenen Verdickung der linken Herzkammermuskulatur um eine mittelschwere Form des Bluthochdrucks handelt, wofür ein Teil-GdB von 20 anzusetzen ist (vgl. B 9.1.1 Hypertonie – mittelschwere Form mit Organbeteiligung leichten bis mittleren Grades, z.B. Augenhintergrundveränderungen – Fundus hypertonicus I – II – und/oder Linkshypertrophie des Herzens und/oder Proteinurie), diastolischer Blutdruck mehrfach über 100 mm Hg trotz Behandlung, je nach Leistungsbeeinträchtigung GdB 20 – 40). Die Herzrhythmusstörungen – u.a. der erwähnte Bigeminus – wirken sich nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. W. angesichts ausreichender medikamentöser Einstellung und seltenen Auftretens nicht wesentlich dauerhaft auf die Herzmuskelleistung aus. Angesichts der Situation der Herzkranzgefäße mit längerstreckigen Einengungen an zwei Gefäßen und Begrenzung der Herzmuskelleistung durch Einengung der Aortenklappe bei mittlerer Belastung besteht nach Einschätzung von Dr. W. eine gering- bis mittelgradige Einschränkung der Klappenöffnungsfläche, so dass insgesamt für die Behinderungen im Bereich Herz und Kreislauf ein Einzel-GdB von 30 gerechtfertigt ist.
Der Senat schließt sich dieser Bewertung an, zumal nach den vorliegenden Unterlagen im Zeitraum bis März bzw. Mai 2014 eine Belastbarkeit des Klägers bis 100 Watt möglich war. Ein Einzel-GdB zwischen 20 und 40 für Krankheiten des Herzens setzt nach B 9.11 aber eine Leistungsbeeinträchtigung des Herzens bei mittelschwerer Belastung (z.B. forsches Gehen [5 – 6 km/h], mittelschwere körperliche Arbeit), Beschwerden und Auftreten pathologischer Messdaten bei Ergometerbelastung mit 75 Watt (wenigstens 2 Minuten) voraus. Im Übrigen hatte bereits Dr. L. in ihrer Stellungnahme vom 21.02.2014 dargelegt, dass das Herz des Klägers bei nur leichter Vergrößerung des linken Vorhofs und hypertrophierter Muskulatur des linken Ventrikels eine unverminderte systolische Pumpfunktion und trotz diastolischer Relaxationsstörung keine pulmonale Druckerhöhung gezeigt hat, dass allenfalls eine grenzwertig hämodynamisch relevante Aortenklappenstenosierung ersichtlich war und dass die Häufigkeit der Herzrhythmusstörungen mit zeitweiligem Bigeminus unter Belastung zurückgegangen war. Auch unter Berücksichtigung der keineswegs höhergradigen oder interventionsbedürftigen arteriosklerotischen Gefäßveränderungen im Koronarbereich hat auch Dr. L. aus den vorliegenden Befunden keine Beeinträchtigung schon bei alltäglichen Belastungen ableiten können, bestätigt durch die ergometrische Belastbarkeit bis 100 Watt.
Im Übrigen hat Dr. L. in ihrer Stellungnahme vom Februar 2014 überzeugend dargelegt, dass die arteriosklerotischen Gefäßveränderungen im Bereich von Becken- und Beinarterien sowie der extrakraniellen hirnversorgenden Gefäße nicht hämodynamisch relevant waren und damit keine klinische Beeinträchtigung bzw. zu berücksichtigende Funktionseinschränkung zur Folge hatten. Diese Einschätzung wird im Übrigen von Prof. Dr. T. im Arztbrief vom November 2013 bestätigt, soweit er hinsichtlich der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit Stadium I beidseits von einer ausreichend kompensierten Durchblutungssituation gesprochen hat.
4. Der Senat stimmt zudem mit der Bewertung von Dr. W. überein, dass der angesetzte Einzel-GdB von 20 für die Lungenfunktionseinschränkung und Lungenblähung als durchaus wohlwollend anzusehen ist. Denn wie Dr. W. herausgearbeitet hat, war die Lunge im März 2013 bei normaler Lungenfunktion lediglich etwas überbläht und im Thorax-CT vom April 2013 konnten Lungenembolien ausgeschlossen werden. Bereits
Dr. L. hatte mit Stellungnahme vom Februar 2014 ausgeführt, dass die Prüfung der Lungenfunktion im März 2013 trotz Pleuraveränderung allenfalls eine beginnende restriktive und peripher-obstruktive Komponente gezeigt habe bei normalem Atemwegswiderstand mit maximaler Vitalkapazität mit 83%, 1-Sek-Wert von 91% und mittlerer exspiratorischer Flussrate von 61% des Sollwerts. Zu Recht hatte Dr. L. zudem darauf hingewiesen, dass die in Ruhe mit 97% grenzwertig erniedrigte Sauerstoffsättigung unter Belastung nicht gefallen, sondern sogar auf 99% angestiegen war. Bei Untersuchung durch Dr. W. im Oktober 2014 zeigten sich nur geringe Hinweise auf Lungenblähung bei normalem Auskultationsbefund, normaler Atembreite und Normalbefund in der Spirometrie, nun ohne Hinweise auf obstruktive oder restriktive Lungenfunktionseinschränkungen. Damit ist eine Einschränkung der Lungenfunktion selbst geringen Grades, die nach Punkt 8.3 Anlage VersMedV einen Einzel-GdB von 20 bis 40 eröffnet, eigentlich nicht nachgewiesen. Denn eine solche Einschränkung setzt um bis zu 1/3 erniedrigte Messwerte gegenüber den Sollwerten voraus.
5. Für die Kunstlinsen beidseits ist angesichts des korrigierten Visus von 1,0 in Übereinstimmung mit B 4.2 Anlage VersMedV ein Einzel-GdB von 10 anzusetzen, weil der sich aus der Sehschärfe selbst ergebende GdB angesichts des Visus von 1,0 zwar mit 0 anzusetzen ist, aber bei Linsenverlust beider Augen um 10 zu erhöhen ist.
6. Der Diabetes mellitus des Klägers vermag nach Überzeugung des Senats entgegen den Ausführungen von Dr. W. im streitgegenständlichen Zeitraum bis 20.03.2014 allerdings noch keinen Einzel-GdB von wenigstens 10 zu begründen. Denn wie Dr. W. selbst dargelegt hat, war das bis April 2014 eingesetzte Metformin ein Präparat, dessen Einnahme regelhaft nicht mit der Gefahr von Unterzuckerungszuständen – sogenannten Hypoglykämien – verbunden ist. Blutzuckerkontrollen erfolgten ausschließlich durch den Hausarzt, Entgleisungen sind nicht aufgetreten und eine diabetische Retinopathie lag beim Kläger nach Auskunft des Augenarztes nicht vor. Nach B 15.1 Anlage VersMedV erleiden an Diabetes erkrankte Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und deren Lebensführung somit kaum beeinträchtigt ist, auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdB rechtfertigt. Insbesondere vermag das Einhalten von Ernährungsvorschriften keinen GdB zu begründen. Der GdB beträgt daher bis zum 20.03.2014 0. Da im Zeitraum bis 20.03.2014, bis zur Umstellung der Medikation von Metformin auf Januvia und Novonorm, noch kein Einzel-GdB von 10 erreicht wird, kommt für diesen Zeitraum entgegen den Ausführungen von Dr. W. auch eine Aufnahme der Behinderung in den Bescheid nicht in Betracht.
7. Für den Tremor ist im Zeitraum bis 20.03.2014 nur ein Einzel-GdB von 10 anzusetzen. Dieser Tremor in Form eines Nein-Sage-Tremor des Kopfes und eines diskreten Haltetremor der Hände mit Intentionstremor links ist mit nur geringen Einschränkungen beim Essen verbunden, während feinmotorische Tätigkeiten in Form des Knöpfens nach Beurteilung von Dr. W. nicht beeinträchtigt waren. Auch im Bericht der Neurologischen Abteilung der Klinik der B. B-Stadt über die Behandlungen von Juni 2014 wird nur ein leichtgradiger Kopftremor beschrieben. Angesichts der begrenzten aus dem Tremor resultierenden Beeinträchtigungen hat der Senat keine Bedenken, sich dieser Beurteilung durch den Sachverständigen Dr. W. anzuschließen.
8. Eine depressive Störung im Sinne einer mäßig depressiven Symptomatik bzw. einer von den Angehörigen beobachteten Antriebshemmung wird erstmals im Rehabiliationsbericht der Klinik P. von August 2014 erwähnt. Im Übrigen hat Dr. W. überzeugend dargelegt, dass angesichts der Schilderungen des Klägers selbst und der Befunde bei gutachterlicher Untersuchung kein höherer GdB als 10 anzusetzen ist. Wesentliche Einschränkungen der Gestaltungsfähigkeit liegen nicht vor.
9. Dr. W. hat ferner schlüssig begründet, dass angesichts der vorliegenden Werte für Funktionseinschränkungen der Nieren erst ab Mai 2014 ein Einzel-GdB von 20 angesetzt werden kann. Denn nach B 12.1.3 Anlage VersMedV bedingt bei Nierenschäden mit Einschränkung der Nierenfunktion eine geringfügige Einschränkung der Kreatininclearance auf 50 – 80 ml/min bei im Normbereich liegenden Serumkreatininwerten keinen messbaren GdB. Eine Nierenfunktionseinschränkung leichten Grades, die einen GdB von 20 – 30 rechtfertigen kann, setzt bei Serumkreatininwerte unter 2 mg/dl eine Kreatininclearance von ca. 35 – 50 ml/Min. voraus. Dr. W. hat aber unter Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen herausgearbeitet, dass eine entsprechende Einschränkung der Kreatininwerte von 1,45 mg%, die einer Filtrationsrate im Bereich von 35 – 50 ml/Min. entspricht, erst ab Mai 2014 nachgewiesen ist. Soweit in einer Laboruntersuchung der A.Klinik im März 2013 einmalig ein Kreatininwert von 1,5 mg/dl gemessen worden war, ist darauf hinzuweisen, dass bereits bei Kontrollmessung im April in dieser Klinik der Kreatininwert wieder im Normbereich 1,2 mg/dl lag (vgl. Bericht vom 06.05.2013) und auch zuvor am 09.03.2013 der Kreatininwert bei 1,2 mg/ dl gelegen hatte. Eine dauerhafte Einschränkung der Nierenfunktion mit daraus folgendem Einzel-GdB von 20 lässt sich daher für die Zeit vor dem 20.03.2014 nicht belegen.
Wie die Ausführungen unter Punkt B 12.1 Anlage VersMedV zeigen, vermag ein Nierenschaden ohne nachgewiesene Beschwerden oder nachgewiesene Nierenfunktionseinschränkungen zumindest leichten Grades keinen Einzel-GdB von 20 oder mehr zu begründen. Die Beurteilung des GdB bei Schäden der Harnorgane richtet sich nach dem Ausmaß der Störungen der inkretorischen und exkretorischen Nierenfunktion und / oder des Harntransportes, das durch spezielle Untersuchungen zu erfassen ist.
Für eine Nierenfehlbildung (z.B. Zystennieren, Nierenzysten) ohne wesentliche Beschwerden und ohne Funktionseinschränkungen sieht die Anlage VersMedV einen GdB von 0 bis 10 vor. Für Nierenschäden ohne Einschränkung der Nierenfunktion (z.B. Glomerulopathien, tubulointerstitielle Nephropathien, vaskuläre Nephropathien), ohne Beschwerden, mit krankhaftem Harnbefund (Eiweiß- und / oder Erythrozyten- bzw. Leukozytenausscheidung) ist ferner ein GdB von 0 bis 10 vorgesehen. Aus den vorliegenden Unterlagen lassen sich im Zeitraum vor dem 20.03.2014 aber keine Beschwerden, Funktionseinschränkungen oder auffällige Harnbefunde entnehmen.
Aus diesem Grund kann für die Veränderungen im Bereich der rechten Niere bis 20.03.2014 kein Einzel-GdB von 10 oder mehr angesetzt werden. Selbst wenn unterstellt wird, dass die seit März 2013 dokumentierte Raumforderung im Bereich der rechten Niere schon den später diagnostizierten bösartigen Tumor umfasst hatte und dieser Tumor bereits bei Antragstellung am 08.04.2013 vorgelegen hatte, kann für diesen Nierenschaden mangels funktioneller Einschränkungen im Bereich der Nierenfunktion kein Einzel-GdB angesetzt werden. Der Senat kann daher offenlassen, ob der am 20.03.2014 entfernte bösartige Tumor mit den seit März 2013 in CT-Aufnahmen bzw. Sonographien sichtbaren Veränderungen in der rechten Niere identisch war oder nicht. Schon deswegen erübrigen sich weitergehende Ermittlungen hierzu wie die vom Kläger angeregte Befragung bzw. Einvernahme der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen oder als Sachverständige.
Der GdB von 60 für die Nierenerkrankung des Klägers kann nicht auf Beschwerden oder funktionelle Einschränkungen der Niere zurückgeführt werden, sondern wird allein auf die besondere Regelung zur Heilungsbewährung unter Punkt B 12.1.4 Anlage VersMedV gestützt. Dort heißt es: „Nach Entfernung eines malignen Nierentumors oder Nierenbeckentumors ist eine Heilungsbewährung abzuwarten. … GdB während einer Heilungsbewährung von fünf Jahren nach Entfernung eines Nierenzellkarzinoms (Hypernephrom) im Stadium (T1 [Grading ab G2], T2) N0 M0 60“.
Zur Heilungsbewährung führt die Anlage zur VersMedV unter Punkt A 2 h) aus, dass Gesundheitsstörungen, die erst in der Zukunft zu erwarten sind, beim GdS bzw. GdB nicht zu berücksichtigen sind. Die Notwendigkeit des Abwartens einer Heilungsbewährung stellt eine andere Situation dar; während der Zeit dieser Heilungsbewährung ist ein höherer GdS bzw. GdB gerechtfertigt, als er sich aus dem festgestellten Schaden ergibt.
Unter Punkt B 1c) Anlage VersMedV heißt es:
“Eine Heilungsbewährung ist abzuwarten nach Transplantationen innerer Organe und nach der Behandlung von Krankheiten, bei denen dies in der Tabelle vorgegeben ist. Dazu gehören vor allem bösartige Geschwulstkrankheiten.
Für die häufigsten und wichtigsten solcher Krankheiten sind im Folgenden Anhaltswerte für den GdS angegeben. Sie sind auf den Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen. Der Zeitraum des Abwartens einer Heilungsbewährung beträgt in der Regel fünf Jahre; kürzere Zeiträume werden in der Tabelle vermerkt. Maßgeblicher Bezugspunkt für den Beginn der Heilungsbewährung ist der Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann; eine zusätzliche adjuvante Therapie hat keinen Einfluss auf den Beginn der Heilungsbewährung. Der aufgeführte GdS bezieht den regelhaft verbleibenden Organ- oder Gliedmaßenschaden ein. Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung – z.B. lang dauernde schwere Auswirkungen einer wiederholten Chemotherapie – sind zu berücksichtigen. Bei den im Folgenden nicht genannten malignen Geschwulstkrankheiten ist von folgenden Grundsätzen auszugehen: Bis zum Ablauf der Heilungsbewährung – in der Regel bis zum Ablauf des fünften Jahres nach der Geschwulstbeseitigung – ist in den Fällen, in denen der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden für sich allein keinen GdS von wenigstens 50 bedingt, im Allgemeinen nach Geschwulstbeseitigung im Frühstadium ein GdS von 50 und nach Geschwulstbeseitigung in höheren Stadien ein GdS von 80 angemessen.”
Wie bereits in den vorangegangen gerichtlichen Hinweisschreiben dargelegt, trägt der Verordnungsgeber damit der Sondersituation bei bösartigen Geschwulsterkrankungen Rechnung, weil die mit einer solchen Erkrankung verbundenen funktionellen Einschränkungen regelmäßig nur einen niedrigeren GdB zulassen. Mit Blick auf die diversen Auswirkungen potentiell lebensbedrohlicher Geschwulsterkrankungen, u.a. in Form psychischer Belastungen oder umfangreicher belastender Therapiemaßnahmen, hat sich der Verordnungsgeber entschlossen, solchen Personen den Schwerbehindertenstatus und die damit einhergehenden Vergünstigungen zuzuordnen.
So hat das BSG im Urteil vom 09.08.1995 (9 RVs 14/94 – Juris RdNr. 12 f.) hinsichtlich einer Nierenentfernung wegen Krebserkrankung auf den weitgehend labilen postoperativen Zustand mit unbestimmter Zahl körperlicher und seelischer Störungen hingewiesen, der nach der medizinischen Erfahrung für fünf Jahre bestanden hat und für diese Zeit zu einer Höherbewertung des GdB geführt hatte. Durch die Höherstufung des GdB für die Zeit der Heilungsbewährung nach operativer Behandlung des Krebsleidens wird nicht nur die Redizivgefahr und die damit in der Regel verbundene Angst u.a. vor erneuter Erkrankung berücksichtigt. Vielmehr umfasst die sogenannte Heilungsbewährung daneben die vielfältigen Auswirkungen, die regelmäßig mit der Feststellung, Beseitigung und Nachbehandlung des Tumors in allen Lebensbereichen verbunden sind. Dies rechtfertigt es laut BSG nach der sozialmedizinischen Erfahrung, bei Krebserkrankungen nicht nur den Organverlust zu bewerten, sondern unter Berücksichtigung der Krebserkrankung als solcher einen GdB von mindestens 50 anzunehmen und Krebskranken damit unterschiedslos zunächst den Schwerbehindertenstatus zuzubilligen. Diese umfassende Berücksichtigung körperlicher und seelischer Auswirkungen der Erkrankung nötigt andererseits dazu, den GdB herabzusetzen, wenn die Krebskrankheit nach rückfallfreiem Ablauf von fünf Jahren aufgrund medizinischer Erfahrungen mit hoher Wahrscheinlichkeit überwunden ist und außer der unmittelbaren Lebensbedrohung damit auch die vielfältigen Auswirkungen der Krankheit auf die gesamte Lebensführung entfallen sind (vgl. BSG a.a.O. Juris RdNr. 13).
Da die operative Entfernung des bösartigen Tumors regelmäßig auch von ihm ausgehende funktionelle Einschränkungen beseitigt oder zumindest deutlich mindert, würde nämlich ohne die Sonderregelung der Heilungsbewährung im Zeitraum nach der operativen Entfernung des bösartigen Tumors in einer Vielzahl der Fälle der Schwerbehindertenstatus entfallen, weil verbliebene Funktionsstörungen allein einen entsprechenden GdB von mindestens 50 nicht mehr zu begründen vermögen.
Angesichts der eindeutigen Regelung zum maßgeblichen Beginn der Heilungsbewährung in Punkt B 1c) Anlage VersMedV – die Beseitigung der Geschwulst – kommt eine Anwendung der Heilungsbewährungsregelung unter Ziffer 12.1.4 für die Zeit vor der Operation am 20.03.2014 nicht in Betracht. Eine entsprechende bzw. analoge Anwendung dieser Sonderregelung ist auch nicht angezeigt, weil sich für die Zeit vor der Operation die Höhe des Einzel-GdB nach den nachgewiesenen funktionellen Einschränkungen durch die Geschwulsterkrankung richtet.
Wie bereits dargelegt, vermögen die organisch bedingten funktionellen Einschränkungen im Bereich der Niere aber vor Mai 2014 keinen Einzel-GdB zu begründen.
Ebensowenig sind psychische Gesundheitsstörungen des Klägers für die Zeit vor der Operation, z.B. eine ausgeprägte Angsterkrankung mit Blick auf die Raumforderung der rechten Niere, nachweisbar. Soweit der Kläger mittlerweile sinngemäß geltend macht, er habe bereits bei erstmaliger Feststellung der Raumforderung als Nebenbefund eines Thorax-CT vom 18.03.2013 von einer bösartigen Nierenerkrankung ausgehen müssen und sei wegen der Ungewissheit bzw. wegen der hohen Wahrscheinlichkeit einer bösartigen Erkrankung stärkeren psychischen Belastungen ausgesetzt gewesen als nach der gelungenen Operation, genügt dies nach Überzeugung des Senats nicht. Zum einen sind die behandelnden Ärzte zunächst in ihren Berichten von einer bloßen Nierenzyste ausgegangen und haben erst nach weiteren Befunden im Januar 2014 und Februar 2014 eine operative Abklärung hinsichtlich einer bösartigen Erkrankung für notwendig gehalten. Diese Situation eines zunächst als harmlos eingestuften Befundes – nämlich einer Nierenzyste, der sicherheitshalber der Beobachtung bedarf – erscheint aus Sicht des Senats nicht annähernd vergleichbar mit derjenigen nach definitiver Gewissheit über eine bösartige Tumorerkrankung. Zum anderen sprechen die Äußerungen des Klägers selbst im Verwaltungsverfahren dagegen, dass er sich bereits ab Antragstellung aufgrund seiner Kenntnis von der Raumforderung der Niere psychisch belastet gefühlt hat. So hat der Kläger im Antragsformular mannigfaltige Gesundheitsstörungen einschließlich der Leberzyste erwähnt, aber keine Nierenzyste oder Nierenfunktionsstörung genannt. Die dort vermerkte „Stoffwechselstörung“ ist gänzlich unspezifisch und kann sich ebenso gut auf den Diabetes mellitus beziehen. In seiner Widerspruchsbegründung vom 27.12.2013 weist der Kläger zwar auf die Nierenzyste und Einschränkungen seiner Nierenfunktion hin; er erwähnt aber keine notwendigen Kontrollen und äußert auch keine Bedenken gegen deren Gutartigkeit. Nach den eigenen Schilderungen des Klägers waren alle behandelnden Ärzte zumindest bis Ende 2013 von einer bloßen Nierenzyste ausgegangen, so Prof. Dr. B. am 06.05.2013, Dr. G. am 16.09.2013 und Dr. S. am 17.12.2013.
Dr. S. erwähnt zwar im Arztbrief vom 17.12.2013 eine kleinste Nierenzyste zwar, spricht aber von einem insgesamt unauffälligen urologischen Befund. Vor diesem Hintergrund vermag der Senat keinen Einzel-GdB für die Nierenerkrankung oder für psychische Gesundheitsstörungen im Zeitraum vor dem 20.03.2014 festzustellen. Es fehlt schon an objektiven Anhaltspunkte für psychische Störungen in diesem Zeitraum; insbesondere sind ärztliche (therapeutische oder medikamentöse) Behandlungen psychischer Beschwerden in diesem Zeitraum weder vorgetragen noch ersichtlich.
Angesichts der vor dem 20.03.2014 nachgewiesenen Behinderungen des Klägers und der daraus resultierenden Einzel-GdB-Werte vermag der Senat in Übereinstimmung mit Dr. W. und dem Beklagten keinen höheren Gesamt-GdB als 70 festzustellen.
Gemäß A 3 der Anlage VersMedV dürfen bei Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen die einzelnen Werte nicht addiert werden. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.
Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Zu beachten ist, dass die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander unterschiedlich sein können:
aa) Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen.
bb) Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken. Dies ist vor allem der Fall, wenn Funktionsbeeinträchtigungen an paarigen Gliedmaßen oder Organen – also z.B. an beiden Armen oder beiden Beinen oder beiden Nieren oder beiden Augen – vorliegen.
cc) Die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden.
dd) Die Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung werden durch eine hinzutretende Gesundheitsstörung nicht verstärkt.
ee) Von Ausnahmefällen (z.B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdS bzw. GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdS bzw. GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Wie bereits dargelegt, ist der Einzel-GdB von 50 für die Behinderungen im Bereich der Wirbelsäule sowie Polyneuropathie und der Einzel-GdB von 20 für die Lungenfunktionseinschränkung und Lungenblähung angesichts der daraus resultierenden Beeinträchtigungen als durchaus wohlwollend anzusehen. Zudem überschneiden sich Einschränkungen der allgemeinen Belastbarkeit aufgrund der Behinderungen des Herz-Kreislaufsystems, bewertet mit einem Einzel-GdB von 30, mit den Einschränkungen der pulmonalen Belastbarkeit wegen Lungenfunktionseinschränkung. Vor diesem Hintergrund erscheint die Höherstufung des höchsten Einzel-GdB-Wertes 50 im Bereich Wirbelsäule unter Berücksichtigung der zusätzlich beeinträchtigenden Polyneuropathie aufgrund der Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit Einzel-GdB von 30 auf insgesamt 70 als großzügig angesetzt, selbst unter Berücksichtigung der Lungenerkrankung. Keinesfalls können die Behinderungen im Bereich des Auges bei korrigiertem Visus von 1,0 und die Behinderungen durch Kopf- und Hand-Tremor, jeweils bewertet mit einem Einzel-GdB von 10, einen noch höheren Gesamt-GdB begründen. Eine Ausnahmesituation, vergleichbar dem Zusammentreffen hochgradiger Schwerhörigkeit mit schwerer beidseitiger Einschränkung des Sehvermögens, liegt eindeutig nicht vor. Die leichten Einschränkungen im Bereich Feinmotorik und Kopftremor wirken sich auf den Gesamtzustand des Klägers nicht wesentlich aus. Einschränkungen im Alltag aufgrund der Kunstlinsen sind angesichts des hervorragenden korrigierten Visus weder vorgetragen noch ersichtlich.
Die Berufung erweist sich damit als unbegründet.
B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Das Berufungsgericht hat gemäß § 193 SGG eine Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten insgesamt zu treffen. Dabei gilt hinsichtlich der Kostenentscheidung das Verbot einer reformatio in peius nicht (vgl. BSGE 62, 131, 136; BSGE 97, 153, 157; BSGE 98, 267, 277). Der Senat berücksichtigt bei der Kostenentscheidung insbesondere, dass der Kläger im Klageverfahren einen GdB von 100 sowie die Merkzeichen B und aG geltend gemacht hatte bei bereits anerkanntem GdB von 70 und Merkzeichen G, dass der Beklagte umgehend nach Kenntnis von dem Tumorstadium nach Nieren-Operation ein Vergleichsangebot hinsichtlich des GdB von 100 unterbreitet hatte, dass der Beklagte mit Teil-Vergleich in der mündlichen Verhandlung vor dem SG rückwirkend ab 20.03.2014 das Merkzeichen B anerkannt hatte und dass der Kläger die Klage hinsichtlich des Merkzeichens aG in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat. Vor diesem Hintergrund erscheint dem Senat eine Erstattung außergerichtlicher Kosten des Klägers angesichts des Teilerfolgs in der ersten Instanz bei vollumfänglichen Unterliegen in der Berufungsinstanz von 1/5 für beide Instanzen ausreichend und angemessen. Daher hat der Senat die entsprechende Kostengrundentscheidung des SG abgeändert (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig / Keller / Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Auflage, zu § 193 SGG RdNr. 16).
C. Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor. Angesichts u.a. der klaren Regelung in der VersMedV zum Beginn der Heilungsbewährung ist auch insoweit entgegen des von Seiten des Klägers gestellten Antrags vom 21.03.2017 keine Zulassung der Revision geboten.


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