Medizinrecht

Zur Feststellung der Fahreignung bei wiederholten Trunkenheitsfahrten

Aktenzeichen  11 CS 16.1826

Datum:
20.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG StVG § 3 Abs. 1 S. 1
Anlage 4 zur FeV Nr. 8.1
FeV FeV § 11 Abs. 5, § 46 Abs. 1 S. 1, Abs. 3
VwGO VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

1 Besitzt eine Person nicht die Willenskraft oder die Einsichtsfähigkeit, die Aufnahme von Alkohol an dem Punkt zu beenden, jenseits dessen dieses Rauschmittel Auswirkungen auf die Fahrtüchtigkeit zeitigt, bzw. ab dieser Schwelle vom Führen von Fahrzeugen im Straßenverkehr konsequent Abstand zu nehmen, lässt sich ihre Fahreignung nur bejahen, wenn sie sich vollständig des Alkoholgenusses enthält. Auch bei fehlender Alkoholabhängigkeit kann es deshalb unter fahrerlaubnisrechtlichem Blickwinkel geboten sein, die Forderung nach absolutem Alkoholverzicht zu erheben. (redaktioneller Leitsatz)
2 Der bloße Vortrag, der Antragsteller sei nicht alkoholabhängig und habe Alkohol in zulässigen Mengen zu sich genommen, kann eine zweimalige psychologische Bewertung einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, der Antragsteller habe ohne Alkoholabstinenz kein Trennungsvermögen, nicht ansatzweise infrage stellen. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 26 S 16.3104 2016-08-18 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen BE und C1E (mit Unterklassen) und der Verpflichtung zur Abgabe seines Führerscheins.
Der 1976 geborene Antragsteller, dem im Jahr 1996 erstmals eine Fahrerlaubnis erteilt worden war, führte am 29. November 2012 ein Kraftfahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr mit einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 2,02 ‰. Ihm wurde deshalb mit Strafbefehl vom 28. Januar 2013 die Fahrerlaubnis entzogen und eine Sperre von 12 Monaten für die Wiedererteilung festgesetzt.
Nach Vorlage eines positiven Fahreignungsgutachtens der TÜV Live Service GmbH (im Folgenden: TÜV) vom 4. Dezember 2014 wurde ihm die Fahrerlaubnis neu erteilt. Der Antragsteller hatte in dem psychologischen Untersuchungsgespräch geltend gemacht, dauerhaft alkoholabstinent leben zu wollen. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass das frühere Alkoholtrinkverhalten des Antragstellers eindeutig auf das Vorliegen eines klinisch relevanten Alkoholmissbrauchs mit erheblichen nachteiligen Konsequenzen hinweise. Beim Antragsteller sei aus der persönlichen Lerngeschichte seines Alkoholtrinkverhaltens deshalb abzuleiten, dass er zu einem dauerhaft kontrollierten Alkoholkonsum nicht hinreichend zuverlässig in der Lage sei. Die Aussage des Antragstellers, alkoholabstinent zu leben, sei schlüssig und glaubhaft.
Am 15. November 2015 um 22:20 Uhr führte der Antragsteller erneut ein Kraftfahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss. Laut Bericht der Polizeiinspektion Bad Reichenhall vom selben Tag zeigte ein Alkoholtest zunächst eine Atemalkoholkonzentration (AAK) von 0,27 mg/l, ein späterer Test auf der Polizeidienststelle um 23:14 Uhr mit einem geeichten Alkomat Evidenzial eine AAK von 0,21 mg/l. Nach dem Polizeibericht versicherte der Antragsteller mehrmals, letztmalig am 14. November 2015 Alkohol getrunken zu haben. Er komme gerade von einer Bandprobe. Er sei sich am Vormittag nicht bewusst gewesen, noch so viel Alkohol in der Atemluft zu haben.
Das daraufhin von der Fahrerlaubnisbehörde geforderte medizinisch-psychologische Gutachten des TÜV, zuletzt in überarbeiteter Form vorgelegt am 7. März 2016, war negativ. Der Antragsteller sei nicht in der Lage, dauerhaft kontrolliert mit Alkohol umzugehen. Eine hinreichende psychische und zeitliche Distanz von der Alkoholproblematik sei nicht gegeben. Bei der Besprechung seiner Trinkgewohnheiten hätten sich jedenfalls keine Veränderungen in seinem Trinkverhalten gezeigt, die eine günstige Prognose gemäß Beurteilungskriterien unterstützen könnten. Er halte sich nach seinen eigenen Angaben – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr an den erforderlichen Alkoholverzicht, so dass bei gegebener Lerngeschichte eine zuverlässige Steuerungsfähigkeit nicht angenommen werden könne, um ein hinreichend verlässliches Trennvermögen von Trinken und Fahren erwarten zu können.
Die Fahrerlaubnisbehörde entzog dem Antragsteller nach Anhörung mit Bescheid vom 28. Juni 2016 die Fahrerlaubnis und ordnete unter Androhung eines Zwangsgelds die unverzügliche Abgabe seines Führerscheins sowie die sofortige Vollziehung an.
Gegen den Bescheid erhob der Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht München. Den gleichzeitig gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO lehnte das Gericht mit Beschluss vom 18. August 2016 ab.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, der der Antragsgegner entgegentritt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Aus den im Beschwerde-verfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass der angefochtene Bescheid rechtswidrig wäre.
Der Antragsteller trägt in der Beschwerde vor, bei ihm liege keine Alkoholabhängigkeit vor. Die Voraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen nach erfolgtem Alkoholmissbrauch würden dann als wiederhergestellt gelten, wenn das Trinkverhalten ausreichend geändert, also Alkohol nur noch kontrolliert getrunken oder Alkoholabstinenz eingehalten werde und die vollzogene Änderung im Umgang mit Alkohol stabil und motivational gefestigt sei. So liege der Fall hier. Der Gesetzgeber stelle ausdrücklich eine Fahrt unter Alkohol mit weniger als 0,5 ‰ nicht unter Strafe. Gerade mit der Beendigung des Alkoholkonsums deutlich vor Erreichen der 0,5-Promillegrenze durch den Antragsteller werde deutlich, dass er sich seiner Verantwortung als Führer eines Kraftfahrzeugs äußerst bewusst gewesen sei. Was der Gesetzgeber nicht unter Strafe stelle und somit ausdrücklich erlaube, können nicht auf dem Umweg des Verwaltungsrechts zur Bestrafung führen.
Diese Ausführungen sind nicht geeignet, Zweifel an der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Fahrerlaubnisentziehung zu wecken. Der Antragsteller übersieht, dass beide medizinisch-psychologischen Gutachten seine Fähigkeit, das Führen eines Kraftfahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr und den Konsum von unzulässig hohen Alkoholmengen zu trennen, verneinen und deshalb seine Fahrgeeignetheit nur bejahen, wenn er alkoholabstinent lebt und diese Änderung (Alkoholabstinenz) stabil und motivational gefestigt ist.
Besitzt eine Person nicht die Willenskraft oder die Einsichtsfähigkeit, die Aufnahme von Alkohol an dem Punkt zu beenden, jenseits dessen dieses Rauschmittel Auswirkungen auf die Fahrtüchtigkeit zeitigt, bzw. ab dieser Schwelle vom Führen von Fahrzeugen im Straßenverkehr konsequent Abstand zu nehmen, lässt sich ihre Fahreignung nur bejahen, wenn sie sich vollständig des Alkoholgenusses enthält. Auch bei fehlender Alkoholabhängigkeit kann es deshalb unter fahrerlaubnisrechtlichem Blickwinkel geboten sein, die Forderung nach absolutem Alkoholverzicht zu erheben (vgl. BayVGH, B.v. 31.7.2008 – 11 CS 08.1103 – juris Rn. 33).
Nach den Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung (Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach, gültig ab 1.5.2014, Nr. 3.13.1), die Grundlage der Beurteilung sind (vgl. § 11 Abs. 5 FeV i. V. m. Anlage 4a und BVerwG, U.v. 14.11.2013 – 3 C 32.12 – BVerwGE 148, 230 Rn. 19), ist bei Alkoholmissbrauch Alkoholabstinenz zu fordern, wenn aufgrund der Lerngeschichte anzunehmen ist, dass sich ein konsequenter kontrollierter Umgang mit alkoholischen Getränken nicht erreichen lässt.
Nach den Beurteilungskriterien (Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie – DGVP – und der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin – DGVM -, 3. Aufl. 2013, S. 133 ff., mit Schreiben des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur vom 27.1.2014 [VkBl 2014, 132] als aktueller Stand der Wissenschaft eingeführt) sind in die Betrachtung der Lerngeschichte die Auffälligkeiten in der Vorgeschichte, die individuelle Verarbeitung dieser Erlebnisse und ggf. auch therapeutische Maßnahmen mit einzubeziehen.
Der bloße Hinweis in der Beschwerde, der Antragsteller sei nicht alkoholabhängig und habe Alkohol in zulässigen Mengen zu sich genommen, kann die zweimalige psychologische Bewertung einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, der Antragsteller habe ohne Alkoholabstinenz kein Trennungsvermögen, nicht ansatzweise infrage stellen. Auch wenn die beiden Gutachten des TÜV ihre Forderung nach Alkoholabstinenz des Antragstellers nicht mit den Merkmalen und Indikatoren der Beurteilungskriterien (S. 136 ff.) darlegen bzw. begründen, so kann doch dieser fachlichen Einschätzung zweier Psychologen einer Begutachtungsstelle nicht mit einer Eigeneinschätzung begegnet werden.
Es kann offenbleiben, ob nach erheblichem medizinischem Alkoholmissbrauch, der beim Antragsteller nach seinen Schilderungen bei der ersten Untersuchung im Jahre 2012 wohl vorlag, Alkoholabstinenz auf Dauer gefordert werden kann oder ob nicht nach einer gewissen, wohl eher längeren Zeit ein Umstieg auf kontrollierten Konsum möglich ist. Ein solcher Umstieg müsste jedenfalls „fachlich“ abgesichert sein. Hierzu müssten zunächst die Angaben des Betroffenen zu seiner (schlüssigen) Prophylaxestrategie glaubhaft sein und seine Einstellung, diese Strategie auch durchzuhalten, stabil und motivational gefestigt sein. Der Antragsteller gibt hier in der zweiten Untersuchung an, er habe beschlossen, künftig wieder, aber nur wenn er nicht vorhabe, zu fahren, Alkohol in Maßen zu trinken, etwa ein Glas Wein oder ein Bier im Monat. Er habe sich bewusst entschieden, wieder Alkohol zu trinken, allerdings nach seinen „Parametern“. Er verstehe Alkoholkonsum als Luxus. Wenn der erste Schluck schmecke, dann sei es gut. Er trinke ca. einmal im Monat und dann maximal eine Trinkeinheit. Seit er wieder angefangen habe, Alkohol zu konsumieren, habe er die Getränke aufgeschrieben. Er führe Buch über seine Erfahrungen im aktuellen Umgang mit Alkohol. Er habe einen Minifragenkatalog, den er innerlich durchgehe; er frage sich immer nach der Stimmung und dem Grund und es laufe immer auf den Genuss hinaus. Aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass das Ziel des Antragstellers, nur einmal im Monat eine „Trinkeinheit“ zu konsumieren, mit seinem offensichtlichen Verlangen, Alkohol zu genießen, schwer vereinbar sein dürfte.
Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, wie glaubhaft der Vortrag des Antragstellers ist. Hierzu fällt auf, dass der Antragsteller laut Polizeibericht am 15. November 2015 angegeben hat, am Vortag Alkohol konsumiert zu haben und sich am nächsten Morgen nicht bewusst gewesen zu sein, noch so viele Restalkohol zu haben. Angesichts dessen, dass der Antragsteller am Abend des 15. November 2015 noch eine Atemalkoholkonzentration von 0,21 mg/l gehabt hat, würden, die Richtigkeit des Vortrags unterstellt, am Vorabend ein erheblicher Alkoholabusus und darüber hinaus wohl auch eine Trunkenheitsfahrt bei der Hinfahrt zur „Bandprobe“ vorgelegen haben. Hingegen erzählte der Antragsteller bei der zweiten Untersuchung eine völlige andere Geschichte; demnach habe er unmittelbar vor Fahrtantritt einen Glühwein getrunken und erst im Nachhinein erfahren, dass dieser mit einer besonderen Art Wodka „verfeinert“ worden sei.
Dass der Antragsteller in der Lage ist, zumindest für einige Zeit, Alkoholabstinenz einzuhalten, wie er mit der Vorlage eines Untersuchungsbefunds des MVZ Weiden mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2016 belegt, hat nichts mit seiner Fähigkeit zu tun, einen konsequenten kontrollierten Umgang mit alkoholischen Getränken erreichen zu können, d. h. Alkohol zwar zu konsumieren, aber die Häufigkeit und Menge rechtzeitig zu beschränken.
Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 1 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, Anh. § 164 Rn. 14).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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