Aktenzeichen M 22 E 16.4230
BayLStVG Art. 6, Art. 7
ZPO § 765a
Leitsatz
1. Vor der Entscheidung über einen Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO , bei dem es gerade darum geht, ob gesundheitliche Belange des Antragstellers die Einräumung einer Räumungsfrist gebieten, kommt eine einstweilige Verpflichtung zur Wiedereinweisung des Räumungsschuldners nicht in Betracht. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Von einem Grundstückseigentümer kann grundsätzlich nicht unter Hinweis auf Billigkeitserwägungen verlangt werden, eine weitere befristete Nutzung seiner Wohnung hinzunehmen, um dem Räumungsschuldner zu ermöglichen, in dieser Zeit eine für ihn geeignete Unterkunft zu finden. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,– Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller bewohnt gemeinsam mit seiner Ehefrau das Anwesen … … in München. Für kommenden Freitag, den 23. September 2016 um 8:00 Uhr, ist eine Räumung des Objekts auf der Grundlage des Zuschlagsbeschlusses des Amtsgerichts München vom 7. Dezember 2015 – Az. 1517 K 56/13 – vorgesehen.
Mit am 17. September 2016 bei Gericht eingegangenem Schreiben beantragt der Antragsteller sinngemäß,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihn für den Fall des Vollzugs der Räumung bzw. des unmittelbaren Bevorstehens einer Räumung befristet in seine bisherige Wohnung wiedereinzuweisen.
Zur Begründung des Antrags trägt der Antragsteller vor, er leide seit 1980 an schweren multiplen Allergien, insbesondere an Baustoffallergien, die im Laufe der Jahre immer stärker geworden seien. Er könne sich nicht in Räumen kontinuierlich aufhalten, in denen diese Allergene vorkämen. Die Allergie sei schwerwiegend und könne zu einem lebensbedrohlichen Schock führen. Aus diesem Grunde könne der Antragsteller auch keinen Urlaub machen, da die Zimmer in der Regel nicht schadstofffrei und baubiologisch einwandfrei seien. Zudem reagiere er stark auf Schimmel. Der Antragsteller leide weiter unter starken allergischen Reaktionen gegen sämtliche Baustoffe wie Lacke, Harze, Härter, Gerbstoffe, Säuren, Klebstoffe und Reinigungsmittel. Insbesondere reagiere er stark auf Formaldehyd.
Seinen Wohnraum habe der Antragsteller baubiologisch und schadstofffrei sanieren lassen.
Gegen die beabsichtigte Räumung habe er alle in Betracht kommenden rechtlichen Mittel ergriffen. Unter anderem habe er einen Antrag auf Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO gestellt, über den aber noch nicht entschieden worden sei.
Mit dem Schreiben vom 17. September 2016 wurde auch eine Kopie des Antrags nach § 765a ZPO vom 7. September 2016 vorgelegt. Darin wird unter Bezugnahme auf fachärztliche Atteste vom 14. Juli und vom 7. September 2016 vorgetragen, dass ein Vollstreckungsaufschub mit Blick auf die gravierenden Gesundheitsgefahren, denen der Antragsteller für den Fall einer Räumung ausgesetzt wäre, geboten sei.
In dem Antrag nach § 765a ZPO wird darüber hinaus ausgeführt, dass ein frei zur Verfügung stehendes Vermögen faktisch nicht vorhanden sei. Es erscheine aber möglich, dass der Antragsteller – über dessen Vermögen Anfang 2016 ein vorläufiges Insolvenzverfahren eröffnet worden sei, der Beschluss vom 24. März 2016 gemäß § 21 InsO sei aber mittlerweile aufgehoben worden – in den nächsten Wochen über liquide Mittel verfügen könnte, was ihm dann ggf. die Möglichkeit an die Hand geben werde, sich nach einer Alternativwohnung umzusehen.
Der Antragsteller trägt weiter vor, er habe sich in der Angelegenheit auch an die Antragsgegnerin (Amt für Wohnungswesen) gewandt. Dort sei ihm mit Blick auf die Dringlichkeit empfohlen worden, bei Gericht eine befristete Wiedereinweisung zu beantragen.
Die Einweisung in eine Notunterkunft oder in ein Obdachlosenwohnheim komme nach den vorliegenden Umständen für den Antragsteller nicht in Betracht, da diese weder baubiologisch noch schadstofffrei wären. Nur durch eine Wiedereinweisung in die alte Wohnung könne erreicht werden, dass erstens Obdachlosigkeit vermieden werde und zweitens es zu keinen lebensgefährlichen allergischen Schocks komme.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zu ihrer Befassung mit der Angelegenheit im Vorfeld des gerichtlichen Verfahrens trägt sie vor, dass nach Mitteilung des Räumungstermins vom 22. September 2016 (der später auf den 23.09. verlegt wurde) die zuständige Fachstelle (Aufsuchende Sozialarbeit – ASA) am 24. August 2016 mit der Kontaktherstellung beauftragt worden sei. Der Antragsteller bzw. seine Ehefrau seien aber bislang nicht erreichbar gewesen.
Zur Sache selbst sei festzustellen, dass nach Auffassung der Antragsgegnerin der Antrag nicht begründet sei, da kein Anordnungsanspruch gegeben sei.
Im Rahmen der Zwangsvollstreckung sei es grundsätzlich Sache des Vollstreckungsgerichts den im Grunde begehrten Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO zu gewähren. Die Entscheidung über den fristgerecht gestellten Vollstreckungsschutzantrag stehe noch aus und könne nicht über den vorliegenden Antrag substituiert werden.
Voraussetzung für einen Anspruch auf Wiedereinweisung in die bisherige Wohnung sei im Übrigen, dass jede andere Entscheidung der Antragsgegnerin ermessensfehlerhaft wäre und die Wiedereinweisung die einzig mögliche und denkbare Maßnahme wäre, um der drohenden Obdachlosigkeit abzuhelfen. Gründe für eine derartige Ermessensreduzierung könnten sich zwar auch aus den persönlichen Verhältnissen des Betroffenen ergeben, an die Zulässigkeit einer Wiedereinweisung seien aber wegen des damit verbundenen Eingriffs in das Eigentumsrecht hohe Anforderungen zu stellen.
Im vorliegenden Fall seien die Anforderungen für eine Wiedereinweisung in die bisherige Wohnung nach den vorliegenden Unterlagen nicht gegeben.
Die Antragsgegnerin könnte gegenüber der Eigentümerin der Wohnung nicht mit der erforderlichen Schlüssigkeit und zwingenden Notwendigkeit darlegen und nachweisen, dass die Wiedereinweisung in die bisherige Wohnung die einzig mögliche Maßnahme ist, um der Obdachlosigkeit unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Antragstellers angemessen zu begegnen.
Es könne nicht per se davon ausgegangen werden, dass jede Unterkunft und vorübergehende Unterkunftsmöglichkeit, die sich der Antragsteller beschaffen könne oder ihm gegebenenfalls von der Antragsgegnerin zur Verfügung gestellt werden könne, zwangsläufig mit Formaldehyd oder Schimmel belastet sei.
Die mit dem Antrag vorgelegten Unterlagen seien ebenfalls keine ausreichende Grundlage für eine Wiedereinweisung. Die ärztlichen Atteste würden keine konkreten Angaben, sondern nur generelle Aussagen sowie eine Aufzählung von allergieauslösenden Substanzen und deren potentiell gefährliche Wirkung enthalten. Es würde an fundierten Aussagen zum aktuellen Krankheitsstand sowie zur Behandlung bzw. Therapie und deren Erfolg fehlen.
Da eine Wiedereinweisung in die bisherige Wohnung sich für den Eigentümer als Sonderopfer darstelle, würde der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Geeignetheit der Maßnahme und zudem ihre zeitliche Begrenzung fordern. Dem Antragsteller wäre mit einer Wiedereinweisung für zwei bis drei Monate jedoch auch nicht geholfen, da aufgrund der persönlichen Verhältnisse in diesem Zeitraum nicht mehr mit der angestrebten Bereinigung der Situation zu rechnen wäre.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt und zum Vorbringen der Beteiligten wird ergänzend auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag bleibt ohne Erfolg.
1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus sonstigen Gründen nötig erscheint. Dabei hat der Antragsteller sowohl den aus dem streitigen Rechtsverhältnis abgeleiteten Anspruch, bezüglich dessen die vorläufige Regelung getroffen werden soll (Anordnungsanspruch), wie auch die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Maßgeblich für die Beurteilung sind dabei die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
2. Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen hier nicht vor, da der Antragsteller den Anordnungsanspruch – also den behaupteten Anspruch auf befristete Wiedereinweisung in seine bisherige Wohnung – nicht glaubhaft gemacht hat.
2.1 Die Antragsgegnerin hat als örtlich zuständige Sicherheitsbehörde die Aufgabe der Gefahrenabwehr (Art. 6 LStVG). Hierzu zählt auch die Beseitigung einer unfreiwilligen Obdachlosigkeit, die sich wegen der dadurch bedingten Gefährdungen für den Betroffenen (auch) als Störung der öffentlichen Sicherheit darstellt. Die Sicherheitsbehörde ist in einem solchen Fall verpflichtet, die zur Beseitigung der Störung erforderlichen Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG zu ergreifen, wobei ein Einschreiten bereits bei unmittelbar bevorstehender Obdachlosigkeit in Betracht kommt. Für den Betroffenen folgt hieraus ein Anspruch (zumindest) auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Zurverfügungstellung einer Unterkunft durch die Behörde. Ein solcher Anspruch und dementsprechend eine Pflicht zum behördlichen Tätigwerden setzt weiter voraus, dass der Betroffene die Gefahr nicht selbst aus eigenen Kräften oder mit Hilfe der Sozialleistungsträger in zumutbarer Weise und Zeit beheben kann (vgl. BayVGH, B. v. 21.9.2006 – 4 CE 06.2465 – BayVBl 2007, 439 und B. v. 30.7.2012 – 4 CE 12.1576 – juris Rn. 14).
Weiter ist hier darauf hinzuweisen, dass die Wiedereinweisung eines Räumungsschuldners in seine bisherige Wohnung wegen des damit verbundenen Eingriffs in das durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Eigentumsrecht des Hauseigentümers, der insoweit als Nichtstörer im Sinne des Art. 9 Abs. 3 LStVG anzusehen ist, nur in Fällen schwerster Notlagen, denen die Obdachlosenbehörde auf andere Weise nicht abhelfen kann und nur für einen eng begrenzten Zeitraum (von etwa zwei Monaten) in Betracht kommt (vgl. BayVGH, B.v. 10.8.1983 – 21 CS 83 A.593 – BayVBl 1984, 116; B.v. 14.8.1990 – 21 B 90.335 – BayVBl 1990, 114). Billigkeitserwägungen können danach eine Wiedereinweisung nicht rechtfertigen. Die Behörde muss vielmehr in einem solchen Fall nachweisen, dass anderweitiger zumutbarer Wohnraum nicht zur Verfügung steht bzw. sonstige zwingende Gründe die Wiedereinweisung gebieten.
2.2 Dies vorausgeschickt ist zur Sache Folgendes festzustellen:
2.2.1 Dahingestellt kann zunächst bleiben, ob für den Antrag nach § 123 VwGO ein Rechtsschutzinteresse gegeben ist, weil nach Aktenlage unklar ist, ob der Antragsteller vor Anrufung des Gerichts bei der Antragsgegnerin einen entsprechenden Antrag gestellt hat. Nach dem Vorbringen der Antragsgegnerin scheint dies nicht der Fall gewesen zu sein. Jedenfalls lässt sich das nach Aktenlage nicht belegen. Sollte dem Antragsgegner wie vorgetragen aber seitens eines (zuständigen) Mitarbeiters der Antragsgegnerin empfohlen worden sein, vorsorglich einen entsprechenden gerichtlichen Antrag zu stellen, so stünde das Fehlen einer vorherigen Antragstellung bei der Behörde der Annahme eines Rechtsschutzinteresses nicht entgegen.
Offen bleiben kann weiter, ob der Antragsteller über ausreichend Mittel verfügt, um sich ggf. selbst eine vorübergehende Unterkunft (etwa in einer Pension) zu beschaffen. Der Antragsteller hat hierzu nichts vorgetragen. Nach den Ausführungen in dem vom Antragsteller in Kopie vorgelegten Antrag nach § 765a ZPO erscheint naheliegend, dass dies nicht der Fall ist. Allerdings sind die Ausführungen in der Antragsschrift nicht hinreichend konkret, um diese Frage abschließend beurteilen zu können.
2.2.2 Der Erlass der begehrten Anordnung kommt ungeachtet dessen gegenwärtig aber schon deshalb nicht in Betracht, weil dem Antragsteller, auch wenn eine Eilbedürftigkeit mit Blick auf den Räumungstermin am kommenden Freitag außer Frage steht, gleichwohl zuzumuten ist, zunächst das Ergehen der Entscheidung in dem Verfahren nach § 765a ZPO abzuwarten, in dem ja gerade auch die Frage inmitten steht, ob gesundheitliche Belange des Antragstellers die Einräumung einer Räumungsfrist gebieten und bei dessen Erfolg der vorliegende Antrag sich daher erledigen würde. Dabei geht die Kammer davon aus, dass über den Antrag nach § 765a ZPO noch zeitnah entschieden werden wird. Umstände, die zu Zweifeln daran Anlass geben könnten, sind nicht ersichtlich und hat der Antragsteller auch nicht vorgetragen.
Der Antragsteller ist also darauf zu verweisen, nach Ergehen einer entsprechenden Entscheidung, so diese zu seinen Ungunsten ausfallen sollte, sich ggf. (erneut) an die Antragsgegnerin zu wenden, die dann gehalten wäre, kurzfristig über eine Wiedereinweisung zu entscheiden. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass die Antragsgegnerin in einem solchen Fall mit Blick auf die sicherheitsrechtliche Beurteilung zwar nicht an die Wertungen, die der Entscheidung nach § 765a ZPO zugrunde liegen, was insbesondere etwaige Gesundheitsgefährdungen infolge einer Räumung angeht, gebunden wäre, für den Regelfall aber, wenn die vollstreckungsrechtliche Entscheidung nachvollziehbar begründet ist und keine bisher nicht berücksichtigten relevanten Umstände dargetan sind, es keinen Bedenken begegnen dürfte, wenn die Antragsgegnerin sich diese Wertungen für ihre Entscheidung zu eigen macht.
Ergänzend sei im Hinblick auf ein etwaiges weiteres Verfahren darauf hingewiesen, dass nicht ersichtlich ist, weshalb es der Antragsgegnerin, wenn eine Obdachlosenunterbringung des Antragstellers veranlasst wäre, nicht möglich sein sollte, diesem eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, die den besonderen Nutzungsanforderungen einer Person, die an starken Allergien leidet, genügt. Das dazu vorgelegte Attest verhält sich nur allgemein zu Gefahren durch Baustoffe und gibt für die Beurteilung dieser Frage nichts her.
Auch das sonstige Vorbringen des Antragstellers erscheint schon im Ansatz nicht geeignet, einen Anspruch auf Wiedereinweisung in die bisherige Wohnung zu begründen. Insbesondere kann von der Grundstückseigentümerin, wenn eine anderweitige Unterbringung des Antragstellers möglich ist, nicht unter Hinweis auf Billigkeitserwägungen verlangt werden, eine weitere befristete Nutzung der Wohnung durch den Antragsteller für bis zu zwei Monate hinzunehmen, um dem Antragsteller zu ermöglichen, in dieser Zeit eine für ihn geeignete Unterkunft zu finden.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GVG unter Berücksichtigung der Empfehlungen in Nr. 1.5 und 35.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.