Miet- und Wohnungseigentumsrecht

Grundsicherung und Mietkaution

Aktenzeichen  S 13 AS 483/21

Datum:
14.7.2021
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 37978
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 22 Abs. 6

 

Leitsatz

Grundsicherungsträger haben bei ihrer Ermessensausübung auch familiär herausfordernde Situationen (Alleinerziehend, mehrere Kleinkinder, Pflegebedürftigkeit, häusliche  Beziehungsgewalt) angemessen zu berücksichtigen.  (Rn. 24 – 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 18.02.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.03.2021 verurteilt, über den Antrag auf Gewährung einer Mietkaution in Höhe von 2.550 Euro unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
II. Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

Der vorliegende Rechtsstreit konnte gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine besondere Schwierigkeit tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden hierzu angehört und erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin kann ihr Klagebegehren mit der hierfür statthaften kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 2 SGG) verfolgen (BSG, U. v. 06.05.2010 – B 14 AS 7/09 R, Rn. 18, juris). Auch die übrigen allgemeinen Prozessvoraussetzungen liegen vor.
Die Klage ist zudem begründet.
Zunächst ist unstreitig, dass die Klägerin leistungsberechtigt nach dem SGB II i. S. v. § 7 Abs. 1 SGB II ist. Rechtsgrundlage für die begehrte Übernahme der Mietkaution ist § 22 Abs. 6 SGB II. Nach dieser Regelung können Wohnungsbeschaffungskosten und Umzugskosten bei vorheriger Zusicherung durch den bis zum Umzug örtlich zuständigen kommunalen Träger als Bedarf anerkannt werden; eine Mietkaution kann bei vorheriger Zusicherung durch den am Ort der neuen Unterkunft zuständigen kommunalen Träger als Bedarf anerkannt werden (Satz 1). Die Zusicherung soll erteilt werden, wenn der Umzug durch den kommunalen Träger veranlasst oder aus anderen Gründen notwendig ist und wenn ohne die Zusicherung eine Unterkunft in einem angemessenen Zeitraum nicht gefunden werden kann (Satz 2). Eine Mietkaution soll als Darlehen erbracht werden (Satz 3). Bei der Zusicherung nach § 22 Abs. 6 SGB II handelt es sich um eine Anspruchsvoraussetzung für die Übernahme von Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten bzw. der Mietkaution und muss vom Leistungsberechtigten eingeholt werden, bevor er mit dem Vermieter einen entsprechenden Vertrag abgeschlossen hat (Luik, in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 22, Rn. 228; LSG Nds.-Bremen, B. v. 16.05.2017 – L 7 AS 87/17 B, Rn. 9, juris).
Zu prüfen war daher, ob die Ablehnung des Antrags der Klägerin auf Übernahme der Mietkaution vom 29.01.2021 mit Bescheid vom 18.02.2021 rechtmäßig war.
Nach § 22 Abs. 6 Satz 2 soll die Zusicherung erteilt werden, wenn der Umzug durch den kommunalen Träger veranlasst oder aus anderen Gründen notwendig ist und wenn ohne die Zusicherung eine Unterkunft in einem angemessenen Zeitraum nicht gefunden werden kann. Sind diese Voraussetzung erfüllt, kann die Erteilung einer Zusicherung also nur in atypischen Sonderfällen abgelehnt werden (Lauterbach, in: Gagel, SGB II/SGB III, 81. EL Februar 2021, § 22 SGB II, Rn. 122). Eine Veranlassung durch den kommunalen Träger, also wenn dieser ausdrücklich oder konkludent auf einen Umzug hingewirkt hat (vgl. Luik, in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 22, Rn. 233), scheidet vorliegend aus. Der Beklagte beruft sich gerade darauf, dass die Klägerin bis zum 31.05.2021 mit ihren Kindern gemäß der einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts N im Haus ihres Ehemanns wohnen durfte.
Somit ist entscheidend, ob der Umzug notwendig war. Notwendig ist ein Umzug, wenn er erforderlich ist und die Kosten für die neue Unterkunft angemessen sind. Die Erforderlichkeit misst sich dabei daran, ob ein plausibler, nachvollziehbarer und verständlicher Grund vorliegt, von dem sich auch ein Nichthilfeempfänger leiten lassen würde (Piepenstock, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., Stand: 17.06.2021, § 22, Rn. 204, 245). Dies ist zur Überzeugung der Kammer im Fall der Klägerin zu bejahen. Sie trug sowohl schriftlich im Klageverfahren als auch im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage glaubhaft vor, dass ein Verbleib im Haus ihres Mannes, der alkoholabhängig ist und ihr gegenüber schwer gewalttätig wurde, für sie und ihre Kinder unzumutbar war. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich dieser nicht an das Kontaktaufnahmeverbot hielt und die Klägerin wiederholt anrief. Die Notlage der Klägerin wird dadurch verstärkt, dass sie alleine ihre vier Kinder betreut, die teilweise noch im Kleinkindalter sind und eines aufgrund des bestehenden Pflegegrades 4 besondere Betreuung benötigt, die die Klägerin selbst erbringt. Nachvollziehbar ist zudem der Vortrag, dass sich eine Wohnungssuche für eine alleinerziehende Mutter mit vier Kindern im Leistungsbezug äußerst schwierig gestaltet und eine günstige Wohnung innerhalb kurzer Zeit kaum zu finden ist. Hinzu kommt, dass sich die Klägerin auch erfolglos um eine Sozialwohnung bemüht hat.
Jedoch sind die Kosten für die neue Wohnung der Klägerin nicht angemessen i. S. v. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Danach werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Welche Aufwendungen angemessen sind, haben die Leistungsträger anhand eines von ihnen zu entwickelnden schlüssigen Konzepts zu ermitteln. Der Beklagte verfügt nach seinem Vortrag nicht über ein schlüssiges Konzept für die Bestimmung der Angemessenheitsgrenzen der Kosten der Unterkunft und für Heizung. Liegt der Bestimmung der Angemessenheitsgrenze des Grundsicherungsträgers ein schlüssiges Konzept, wie hier, nicht zu Grunde, geht die Ermittlungspflicht nicht auf das Sozialgericht über. In einem solchen Fall ist, mangels anderweitiger zur Verfügung stehender Erkenntnisquellen, auf die einschlägigen Tabellenwerte nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) zurückzugreifen und ein Sicherheitszuschlag von 10 Prozent zum einschlägigen Tabellenwert vorzunehmen (vgl. BSG, U. v. 17.12.2009 – B 4 AS 50/09 R, juris; BSG, U. v. 07.11.2006 – B 7b AS 18/06 R, juris; Piepenstock, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., Stand: 17.06.2021, § 22, Rn. 122 f.). Die Stadt S ist der Mietenstufe 2 zugeordnet. Für einen Fünf-Personen-Haushalt ist demnach eine Bruttokaltmiete von 732 Euro anzusetzen. Zuzüglich des Sicherheitszuschlags von 10 Prozent ergibt sich eine angemessene Bruttokaltmiete von 805,20 Euro. Nach Berücksichtigung der Vorauszahlungen für Heiz- und Warmwasserkosten in Höhe von monatlich 140 Euro liegt die Angemessenheitsgrenze bei insgesamt 945,20 Euro. Der von der Klägerin mietvertraglich geschuldete Mietzins beträgt 1.040 Euro und überschreitet damit die Angemessenheitsgrenze.
Etwas anderes ergibt sich hinsichtlich der Mietkaution nach Auffassung der Kammer auch nicht aus der Angemessenheitsfiktion des § 67 Abs. 3 SGB II. Denn es spricht einiges dafür, dass sich die Übergangsregelung des § 67 Abs. 3 SGB II nur auf § 22 Abs. 1 SGB II bezieht. Es würde dem Charakter einer zeitlich limitierten Übergangsregelung widersprechen, wenn durch eine Erstreckung der Norm auf Wohnungsbeschaffungskosten sowie Mietkautionen ein Umzug in eine unangemessen teure Unterkunft durch den Leistungsträger ermöglicht wird. Der Gesetzgeber wollte mit dem Wegfall der Angemessenheitsprüfung der Unterkunftskosten mittels einer zeitlich begrenzten Angemessenheitsfiktion die von den Auswirkungen der Pandemie Betroffenen vor der Sorge um den Verlust ihrer Wohnung bewahren (BT-Drucks. 19/18107, S. 25).
Da es sich hier mithin nicht um einen vom Träger veranlassten oder aus anderen Gründen notwendigen Umzug i. S. d. § 22 Abs. 6 Satz 2 SGB II handelt, greift zu Gunsten der Klägerin lediglich die Auffangnorm des § 22 Abs. 6 Satz 1 2. Hs. SGB II ein. § 22 Abs. 6 Satz 1 2. Hs. SGB II eröffnet dem Leistungsträger auch bei einem nicht notwendigen Umzug, beispielsweise aufgrund unangemessener Unterkunftskosten, ein Ermessen, die Mietkaution als Bedarf anzuerkennen. Dabei hat er die unterhalb der Schwelle der Notwendigkeit liegenden Gründe des Leistungsberechtigten für den Umzug, die nach dem Wohnungswechsel zu erwartenden Unterkunftsaufwendungen inklusive der Zusammenhangskosten zu berücksichtigen. Dem Leistungsträger wird durch die Regelung des § 22 Abs. 6 Satz 1 2. Hs. SGB II sowohl bezüglich des „Ob“ als auch des „Wie“ der Leistungserbringung Ermessen eingeräumt. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (BSG, U. v. 06.08.2014 – B 4 AS 37/13 R, Rn. 28, juris; Lauterbach, in: Gagel, SGB II/SGB III, 81. EL Februar 2021, § 22 SGB II, Rn. 123 f.).
Die streitgegenständlichen Bescheide lassen jedoch eine Ermessensausübung nicht erkennen. Weder aus dem Ablehnungsbescheid vom 18.02.2021 noch aus dem Widerspruchsbescheid vom 01.03.2021 geht hervor, dass der Beklagte das ihm eingeräumte Ermessen erkannt und ausgeübt hat. Die Ablehnung der Übernahme der Mietkaution wird allein darauf gestützt, dass die Unterkunftskosten unangemessen hoch sind. Die streitgegenständlichen Bescheide sind daher bereits aufgrund eines Ermessensnichtgebrauchs materiell rechtswidrig und aufzuheben, vgl. § 54 Abs. 2 SGG (BSG, U. v. 06.08.2014 – B 4 AS 37/13 R, Rn. 28, juris; BSG, U. v. 06.05.2010 – B 14 AS 7/09 R, Rn. 18, juris).
Der Beklagte hat vorliegend nicht die familiäre Situation der Klägerin und insbesondere ihre offensichtliche Notlage aufgrund der Bedrohung durch ihren Ehemann mit in seine Entscheidung, die nach Ansicht der Kammer eine Übernahme der Mietkaution rechtfertigt, einbezogen und als entscheidungsrelevant erkannt. Insoweit darf auf die obenstehenden Ausführungen zur Erforderlichkeit des Umzugs verwiesen werden. Dies gilt umso mehr, als die Mietkaution regelmäßig als Darlehen gewährt, monatlich gegen den Leistungsanspruch aufgerechnet und daher an den Beklagten zurückbezahlt wird.
Der Beklagte wird daher erneut über den Antrag auf Gewährung einer Mietkaution als Darlehen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts entscheiden zu entscheiden haben (BSG, U. v. 06.05.2010 – B 14 AS 7/09 R, Rn. 18 f., juris).
Nach alledem war der Klage antragsgemäß stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 105 Abs. 1 Satz 3 i.V. m. § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Sache.


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