Patent- und Markenrecht

19 W (pat) 28/20

Aktenzeichen  19 W (pat) 28/20

Datum:
22.11.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Gerichtsort:
München
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BPatG:2021:221121B19Wpat28.20.0
Spruchkörper:
19. Senat

Tenor

In der Beschwerdesache
betreffend das Patent 10 2015 200 609
           

hat der 19. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 22. November 2021 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dipl.-Ing. Kleinschmidt, des Richters Dipl.-Ing. Müller, der Richterin Dorn sowie des Richters Dipl.-Phys. Dr. Haupt
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Einsprechenden wird der Beschluss der Patentabteilung 33 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 20. Januar 2020 aufgehoben und das Patent 10 2015 200 609 widerrufen.
        

Gründe

I.
1
Auf die am 16. Januar 2015 beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) eingegangene Patentanmeldung ist die Erteilung des nachgesuchten Patents mit der Nummer 10 2015 200 609 am 16. März 2017 veröffentlicht worden. Es trägt die Bezeichnung „Verfahren zur automatischen Bestimmung der Reibung und der Masse eines Türsystems“.Gegen das Patent hat die Einsprechende mit Schreiben vom 13. Dezember 2017, beim DPMA eingegangen am 14. Dezember 2017, Einspruch erhoben mit der Begründung, der Gegenstand des Patents sei nicht patentfähig, da er bereits aus dem Stand der Technik bekannt und damit nicht neu sei (§ 21 Abs. 1 i. V. m. § 3 Satz 1 PatG). Außerdem beruhe er nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (§ 21 Abs. 1 i. V. m. § 4 PatG).Abgesehen davon sei der Gegenstand des Patents auch deshalb nicht patentfähig, weil es sich dabei um eine mathematische Methode handele (§ 21 Abs. 1 i. V. m. § 1 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 PatG).Während des Einspruchsverfahrens machte die Einsprechende ergänzend geltend, der Gegenstand der Erfindung sei nicht ausführbar, weil eine nacharbeitbare technische Lehre fehle (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 PatG).Mit am Ende der Anhörung am 20. Januar 2020 verkündetem Beschluss hat die Patentabteilung 1.33 des DPMA das Patent unverändert aufrechterhalten.Gegen diesen Beschluss hat die Einsprechende am 4. Juni 2020 Beschwerde eingelegt.
2
Die Einsprechende und Beschwerdeführerin beantragt,
3
den Beschluss der Patentabteilung 33 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 20. Januar 2020 aufzuheben und das Patent 10 2015 200 609 vollumfänglich zu widerrufen.
4
Die Patentinhaberin und Beschwerdegegnerin beantragt,
5
die Beschwerde der Einsprechenden zurückzuweisen,
6
hilfsweise,
7
das Patent unter Streichung von Patentanspruch 7 aufrechtzuerhalten.
8
Die erteilten nebengeordneten Patentansprüche 1, 8 und 9 lauten:
9
1. Verfahren zur automatischen Bestimmung der Reibung und der Masse eines von einem Motor angetriebenen Türsystems, insbesondere Schiebetürsystems, bei dem während einer Öffnungsfahrt und/oder während einer Schließfahrt des Türsystems in aufeinanderfolgenden Zeitpunkten einerseits eine die zur Betätigung des Türsystems erforderliche Gesamtkraft repräsentierende Größe (Γm) und andererseits die Geschwindigkeit und die Beschleunigung des Türsystems repräsentierende weitere Größen (ωm, αm) gemessen werden, die Zusammenhänge zwischen der die zur Betätigung des Türsystems erforderliche Gesamtkraft repräsentierenden Größe (Γm) als abhängige Variable und den die Geschwindigkeit und die Beschleunigung des Türsystems repräsentierenden weiteren Größen (ωm, αm) als unabhängige Variablen durch ein Systemmodell abgebildet werden, die Modellparameter (θi) des Systemmodells nach der Methode der linearen Regression ermittelt werden und die Reibung und die Masse des Türsystems anhand des durch die ermittelten Modellparameter (θi)definierten Systemmodells bestimmt werden.
10
8. Türsystem, insbesondere Schiebetürsystem, mit einer elektrischen Antriebseinrichtung und einer Steuereinrichtung, über die die Antriebseinrichtung ansteuerbar ist, wobei die die Steuereinrichtung zur Durchführung des Verfahrens nach einem der vorstehenden Ansprüche ausgeführt ist.
11
9. Verwendung der nach dem Verfahren nach einem der Ansprüche 1 bis 7 bestimmten Reibung und Masse eines von einer Antriebseinrichtung angetriebenen Türsystems, insbesondere Schiebetürsystems, zur Steuerung der Antriebseinrichtung des Türsystems.
12
Die Einsprechende und Beschwerdeführerin nimmt insbesondere auf die Druckschrift WO 2005/073119 A2 Bezug.
13
Die Patentinhaberin zitiert als Beleg für das Wissen des Fachmanns aus den folgenden Artikeln des Online-Lexikons „Wikipedia“:
14
– „Lineare Regression“, Druckdatum 18. November 2021, Stand 12. April 2021,
15
– „Abhängige und unabhängige Variable“, Druckdatum 21. November 2021,
16
– „Methode der kleinsten Quadrate“, Druckdatum 18. November 2021.
17
Wegen des Wortlauts der direkt oder indirekt auf Patentanspruch 1 rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 7 sowie weiterer Einzelheiten wird auf die Akte verwiesen.
II.
18
1. Die zulässige Beschwerde der Einsprechenden hat in der Sache Erfolg und führt – neben der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses – zum Widerruf des Patents 10 2015 200 609, da dieses die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 PatG).
19
2. Hintergrund des Streitpatents sind Türsysteme, die mittels elektrischer Antriebsvorrichtungen bewegt werden, beispielsweise automatische Schiebetüren oder Aufzugstüren. Derartige Türen unterliegen hinsichtlich der maximalen kinetischen Energie, mit der ein jeweiliger Türflügel während der Schließfahrt auf ein Hindernis auftreffen darf, bestimmten Vorschriften. Die betreffende kinetische Energie hängt von der Masse und der Geschwindigkeit des Türsystems ab, während die Geschwindigkeit des Türsystems ihrerseits unter anderem von der Reibung des Türsystems abhängig ist.
20
Es bestehe daher Bedarf an einer automatischen Ermittlung der Reibung und der Masse von Türsystemen (Absatz 0002 der Patentschrift).
21
3. Davon ausgehend sei es Aufgabe der Erfindung, ein Verfahren sowie ein Türsystem anzugeben, mit denen die Reibung und die Masse des Türsystems in einer möglichst einfachen Betriebsfahrt mit möglichst hoher Genauigkeit bestimmbar sind (Absatz 0004).
22
4. Als Fachmann zur Lösung dieser Aufgabe sieht der Senat einen Diplom-Informatiker (FH) bzw. entsprechenden Bachelor, der Steuerungen elektrisch angetriebener Türsysteme programmiert. Auch bei einem Informatiker sind Grundkenntnisse in der Kinetik vorhanden, die ihm im Rahmen seiner Schulausbildung vermittelt wurden. Sollte er hinsichtlich der technischen Hintergründe weitergehende Fragen haben, wird er diese an einen Elektrotechniker oder Maschinenbauer richten.
23
5. Die Lösung der oben genannten Aufgabe bestehe in dem Verfahren gemäß Patentanspruch 1 sowie in einem Türsystem gemäß Patentanspruch 8 und der Verwendung gemäß Patentanspruch 9.
24
Den weiteren Ausführungen legt der Senat folgende Gliederung des Patentanspruchs 1 zugrunde:
25
M1.1 Verfahren zur automatischen Bestimmung der Reibung und der Masse eines von einem Motor angetriebenen Türsystems, insbesondere Schiebetürsystems,
26
M1.2 bei dem während einer Öffnungsfahrt und/oder während einer Schließfahrt des Türsystems in aufeinanderfolgenden Zeitpunkten einerseits eine die zur Betätigung des Türsystems erforderliche Gesamtkraft repräsentierende Größe (Gm) und
27
M1.3 andererseits die Geschwindigkeit und die Beschleunigung des Türsystems repräsentierende weitere Größen (wm, am) gemessen werden,
28
M1.4 die Zusammenhänge zwischen der die zur Betätigung des Türsystems erforderliche Gesamtkraft repräsentierenden Größe (Gm) als abhängige Variable und
29
M1.5 den die Geschwindigkeit und die Beschleunigung des Türsystems repräsentierenden weiteren Größen (wm, am) als unabhängige Variablen
30
M1.6 durch ein Systemmodell abgebildet werden,
31
M1.7 die Modellparameter (qi) des Systemmodells nach der Methode der linearen Regression ermittelt werden und
32
M1.8 die Reibung und die Masse des Türsystems anhand des durch die ermittelten Modellparameter (qi) definierten Systemmodells bestimmt werden.
33
6. Der Entscheidung des Senats liegt folgendes Verständnis des Fachmanns von den Angaben im Patentanspruch 1 zugrunde:
34
6.1 Unter Reibung (Merkmal 1.1) ist im Allgemeinen ein physikalischer Effekt zu verstehen, der zwischen den Kontaktflächen sich berührender Körper oder Teilchen auftritt und eine Kraft bewirkt, welche die Bewegung der Körper gegeneinander erschwert. Im Kontext des Streitpatents werden mit dem Begriff alle Effekte zusammengefasst, die nicht bestimmungsgemäß zur Bewegung des Türflügels beitragen, sondern diese negativ beeinflussen, unabhängig davon, zwischen welchen Komponenten des Türsystems sie auftreten, also beispielsweise neben der Reibung zwischen dem Türblatt und seinen Führungselementen auch Luftwiderstand, Übertragungsverluste eines Untersetzungsgetriebes oder elektrische Verluste in Motorwicklungen.
35
6.2 Demzufolge setzt sich die in Merkmal 1.2 genannte, auf das Türsystem ausgeübte Gesamtkraft aus der in Bewegungsrichtung auf den sich bewegenden Türflügel wirkenden Beschleunigungskraft sowie aus der zum Merkmal 1.1 erläuterten verallgemeinerten Reibungskraft zusammen, wie durch die Gleichung 3 des Absatzes 0022 der Beschreibung definiert.
36
6.3 In Merkmal 1.6 ist angegeben, es solle ein Systemmodell erstellt werden, in das gemäß Merkmal 1.4 die Gesamtkraft als abhängige Variable sowie gemäß Merkmal 1.5 Geschwindigkeit und Beschleunigung als unabhängige Variablen eingehen sollen.
37
Die Zusammenhänge zwischen den genannten physikalischen Größen sind dem Fachmann an sich bekannt und werden in den Gleichungen 1 bis 3 der Beschreibung angegeben.
38
Unter einem Systemmodell versteht der Fachmann allgemein eine vereinfachende Abbildung eines komplexen Systems – hier einer technischen Anlage – mit dem Ziel, aus gegebenen bzw. messbaren Größen aufgrund der bekannten Wirkflüsse und Eingangs-/Ausgangsbeziehungen gesuchte, zuvor unbekannte Größen ermitteln zu können.
39
Das streitpatentgemäße Systemmodell soll die gesamte Dynamik des Türsystems abbilden, das außer dem Türblatt beispielsweise den Antrieb mit Motor und Getriebe, sowie alle Lager und Führungen und deren Zusammenwirken berücksichtigt.
40
Die Vorgehensweise bei der Aufstellung des Systemmodels ist in den Absätzen 0018 bis 0026 der Patentschrift ausführlich beschrieben. Demnach sollen außer den mess- bzw. ermittelbaren Werten Motordrehmoment (Gm), Winkelgeschwindigkeit der Motorwelle (wm) sowie Winkelbeschleunigung der Motorwelle (am) zwei Konstanten N (= Übertragungskoeffizient (Getriebekopf, Zahnriemenscheibe)) sowie tg (= Übertragungswirkungsgrad) in das Systemmodell eingehen.
41
Für das Systemmodell ist in der Beschreibung als Gleichung 9 der Zusammenhang zwischen den drei direkt oder zumindest mittelbar messbaren Größen Motordrehmoment (Gm), Winkelgeschwindigkeit der Motorwelle (wm) und Winkelbeschleunigung der Motorwelle (am) sowie drei Unbekannten (die Modellparameter q’0, q’1, q’2) angegeben. Aus den drei Unbekannten lassen sich die gesuchte Masse des Türsystems, der von der Geschwindigkeit unabhängige (konstante) Teil der Reibungskraft und der die Abhängigkeit von der Geschwindigkeit beschreibende Koeffizient der Reibungskraft bei der Türbewegung bestimmen (Gleichungen 14 bis 16).
42
6.4 An sich ist dem Fachmann bekannt, dass er die drei Unbekannten ermitteln könnte, indem er Messungen von drei Parametern durchführt, mit denen er drei voneinander unabhängige Gleichungen erhält.
43
Davon abweichend sollen die Modellparameter des Systemmodells jedoch gemäß den Merkmalen 1.7 und 1.8 nach der Methode der linearen Regression ermittelt werden.
44
Bei der linearen Regression handelt es sich um eine statistische Methode, durch die versucht wird, aus einer Vielzahl von – im streitgegenständlichen Fall gemessenen – Daten einen eindeutigen Wert zu bestimmen, bei dem die Summe der Abweichungen aller Daten von diesem Wert möglichst klein ist. Deshalb versteht der Fachmann den Patentanspruch 1 aufgrund des Merkmals 1.7 dahingehend, dass gemäß Merkmal 1.2 nicht nur drei Messungen – die an sich notwendig und hinreichend wären –, sondern eine weitaus größere Zahl an Messungen durchgeführt wird, wobei weder in den Patentansprüchen noch an anderer Stelle der Patentschrift eine bestimmte Anzahl oder auch nur Größenordnung hierfür angegeben ist.
45
7. Die Erfindung ist in der Patentschrift nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 PatG).
46
7.1 Der Fachmann ist anhand der Ausführungen zur Erstellung des Systemmodells (Absätze 0018 bis 0026) sowie der darauf basierenden Auslegung (Absätze 0035 bis 0037) nicht in der Lage, die aufgabengemäß gesuchten Werte für die Masse und die Reibung zu ermitteln.
47
Zwar kann Fachmann bzw. ein von diesem Fachmann beauftragter Ingenieur die Winkelgeschwindigkeit wm, die Winkelbeschleunigung am der Motorwelle und den vom Motor aufgenommenen Strom, der im Betriebsbereich direkt proportional zum an der Welle abgegebenen und zu ermittelnden Motordrehmoment Gm ist, messen. Die Nacharbeitbarkeit des Verfahrens als Ganzem scheitert jedoch daran, dass zu der gemäß Merkmal 1.7 zwingend anzuwendenden linearen Regression jegliche Angaben fehlen, unter welchen Rahmenbedingungen die erforderliche Vielzahl von Messungen durchgeführt werden soll.
48
Gemäß Merkmal 1.2 soll lediglich eine Öffnungsfahrt und/oder eine Schließfahrt durchgeführt und dabei in aufeinanderfolgenden Zeitpunkten gemessen werden. Nach dem bloßen Wortlaut der Merkmale 1.2 und 1.3 bleibt offen, ob die die zur Betätigung des Türsystems erforderliche Gesamtkraft repräsentierende Größe (Gm) und die die Geschwindigkeit und die Beschleunigung des Türsystems repräsentierenden weiteren Größen (wm, am) in jedem der aufeinanderfolgenden Zeitpunkte gleichzeitig, z. B. in Form je eines Messwerttripels (Gm, wm, am), gemessen werden oder jeweils eine der Größen in je einem der aufeinanderfolgenden Zeitpunkte. Der Fachmann erkennt jedoch auf Grundlage der Erfindungsbeschreibung, dass in jedem der aufeinanderfolgenden Zeitpunkte je ein Messwerttripel (Gm, wm, am) aufgenommen werden soll.
49
In der Patentschrift ist aber nicht angegeben und für den Fachmann aufgrund seines Fachwissens auch nicht ersichtlich, wie er daraus die Daten für eine lineare Regression gewinnen könnte, denn für diese ist als statistische Methode eine Vielzahl von Messwerten erforderlich.
50
Einer Auslegung des Patentanspruchs 1 in dem Sinne, wie sie der Vertreter der Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung vorgenommen hat, nämlich dass nicht nur eine einzige Öffnungsfahrt und/oder Schließfahrt durchgeführt wird, sondern eine Vielzahl solcher Fahrten, wobei dann die drei Messwerte jeweils immer nach der gleichen Zeit aufgenommen würden, steht der Wortlaut des Merkmals 1.2 entgegen, nach dem das Verfahren auch ausführbar sein soll, wenn nur eine Fahrt des Türsystems für die Messungen herangezogen wird.
51
Der alternativen Auslegung, wonach – wie im Anspruch 1 gefordert – nur eine Öffnungsfahrt und/oder eine Schließfahrt durchgeführt wird und in jeder der drei Phasen (Beschleunigungsphase, Phase konstanter Geschwindigkeit und Bremsphase) die Größen nicht nur einmal, sondern mehrfach erfasst werden, steht der Unteranspruch 7 entgegen. Denn aufgrund des dortigen Rückbezuges auf den Anspruch 1 muss auch das in Bezug genommene Verfahren nach Anspruch 1 mit Messungen der betreffenden Größen des Türsystems in wenigstens einem und somit auch genau einem Zeitpunkt jeder der drei Bewegungsphasen durchführbar sein.
52
7.2 Die Beschreibung ist bei der Auslegung der Patentansprüche in Bezug auf die lineare Regression nicht hilfreich, da die Ausführungen dazu (Absätze 0006, 0007 und 0027 bis 0034) nur sehr knapp gehalten sind und zusätzliche Fragen aufwerfen.
53
So ist bereits die Überschrift über dem Absatz 0027 „Lernen der Modellparameter“ und die Angabe in Absatz 0027, wonach die „Modellparameter q’ … über die Methode der linearen Regression gelernt werden“, für den Fachmann unverständlich, da der Fachmann ein „Lernen“ nur in Verbindung mit künstlichen neuronalen Netzwerken kennt. Derartige neuronale Netze werden im Streitpatent aber an keiner Stelle beschrieben.
54
Weiterhin ist beispielsweise der Übergang von dem Gleichungssystem 10, welches noch zum Systemmodell gehört, zum Gleichungssystem 11, mit der die lineare Regression starten soll, nicht nachvollziehbar. Beide Gleichungssysteme umfassen einen Vektor X, jedoch mit unterschiedlicher Form (Spaltenvektor bzw. z × 3-Matrix) und unterschiedlichen Inhalten.
55
In Absatz 0032 wird ein Vektor yvorhergesagt definiert, ohne dass dessen Bedeutung erläutert oder dieser in der nachfolgenden „Auslegung der Ergebnisse“ ab Absatz 0035 von Bedeutung wird.
56
7.3 Die von der Beschwerdegegnerin zum Beleg des Fachwissens vorgelegten aktuellen Unterlagen aus der Internet-Enzyklopädie Wikipedia konnten zu keiner anderen Beurteilung führen, da durch diese lediglich in allgemeiner Form belegt ist, was der Fachmann mit dem Begriff lineare Regression verbindet und wie er bei dieser methodisch vorgeht.
57
Eine Anleitung, wie Messwerte an einem Türsystem zu ermitteln sind und wie man diese dann mittels einer linearen Regression mathematisch verarbeitet, ist diesen Unterlagen nicht zu entnehmen.
58
8. Der hilfsweise gestellte Antrag, das Patent unter Streichung von Patentanspruch 7 aufrechtzuerhalten, räumt zwar einen augenfälligen Widerspruch zum erteilten Patentanspruch 1 aus, da im erteilten Patentanspruch 7 ausdrücklich beansprucht ist, dass genau drei Messungen vorgenommen werden, während gemäß Patentanspruch 1, wie unter Punkt 7.1 ausgeführt, aufgrund des notwendigen Merkmals der linearen Regression zwingend eine Vielzahl von Messungen erforderlich ist.
59
An der unzureichenden Offenbarung der Erfindung gemäß Patentanspruch 1 ändert die Streichung des Patentanspruch 7 jedoch nichts, so dass hinsichtlich des Hilfsantrags der gleiche Widerrufsgrund vorliegt wie bei der erteilten Fassung.
60
9. Vor dem obigen Hintergrund kommt es auf die anderen geltend gemachten Widerrufsgründe nicht an.
61
9.1 Insbesondere kommt es nicht darauf an, dass der von der Einsprechenden im Rahmen des Widerrufsgrundes nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 PatG weiter geltend gemachte Einwand, wonach durch den Patentanspruch 1 ein mathematisches Verfahren als solches unter Schutz gestellt werde (§ 1 Abs. 3 Nr. 1 PatG), nach Auffassung des Senats nicht gegeben ist. Denn außer der zweifellos mathematischen Methode der linearen Regression und einer Systemmodellierung sind im Patentanspruch 1 mit dem Türsystem und der Bestimmung von Drehmoment, Geschwindigkeit sowie Beschleunigung auch eindeutig technische Merkmale genannt. Zudem liegt der Erfindung die technische Aufgabe zugrunde, Masse und Reibung des Türsystems zu bestimmen.
62
9.2 Es kommt auch nicht darauf an, ob der Gegenstand des Patents auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, was hier ebenfalls nicht der Fall ist:
63
Nach Einschätzung des Senats stellt die Abbildung der allgemeinen Bewegungsgleichung in einem Systemmodell, um später mittels einer linearen Regression Messwerte statistisch verarbeiten zu können, kein technisches Mittel dar, das einen Beitrag zur Lösung der gestellten Aufgabe leisten würde.
64
Vielmehr werden in der Systemmodellierung die bekannten Gleichungen 1 und 2 bzw. 3 lediglich umgeformt, um schließlich zur Gleichung 9 zu gelangen, die dann in Vektorform (Gleichung 10) formuliert wird.
65
Eine konstruktive Änderung der technischen Gegebenheiten ist mit dieser mathematischen Umformung nicht verbunden.
66
Daher müsste das Erstellen eines Systemmodells (Merkmale 1.6 und 1.7), gleichermaßen wie das Merkmal 1.8, in dem offensichtlich eine mathematische Methode genannt ist, bei der Prüfung, ob der Widerrufsgrund der fehlenden Patentfähigkeit nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 1 Abs. 1, § 4 PatG vorliegt, unberücksichtigt bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 26. Oktober 2010 – X ZR 47/07, GRUR 2011, 125, Rn. 31 – Wiedergabe topografischer Informationen).
67
Nur die technischen Merkmale betrachtend, die die Lösung des technischen Problems mit technischen Mitteln bestimmen oder zumindest beeinflussen, ergibt ein Vergleich mit dem Inhalt der Druckschrift WO 2005/073119 A2 [D3], dass das Verfahren gemäß Patentanspruch 1 zumindest nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (§ 4 PatG) beruht.
68
Die Druckschrift D3 offenbart – ausgedrückt in den Worten des Streitpatents – nach ihrer Beschreibung und ihren Patentansprüchen 1 bis 3 ein
69
M1.1 Verfahren zur automatischen Bestimmung der Reibung FµDoor und der Masse md eines von einem Motor angetriebenen Türsystems, insbesondere Schiebetürsystems (Seite 18, letzter Absatz bis Seite 19, erster Absatz),
70
M1.2 bei dem während einer Öffnungsfahrt und/oder während einer Schließfahrt des Türsystems in aufeinanderfolgenden Zeitpunkten einerseits eine die zur Betätigung des Türsystems erforderliche Gesamtkraft repräsentierende Größe (Seite 23, Anspruch 1: „measuring … the torque of a door motor driving the door“) und
71
M1.3 andererseits die Geschwindigkeit (Seite 23, Anspruch 3: „A method according to any one of the preceding claims 1-2 characterized in that the method further comprises the step of: measuring the velocity of the door …“) und die Beschleunigung (Seite 23, Anspruch 2: „the method further comprises the step of: measuring the acceleration of the door …“) des Türsystems repräsentierende weitere Größen gemessen werden,
72
M1.8teils die Reibung und die Masse des Türsystems bestimmt werden (Ansprüche 4, 5: „calculating one or more of the parameters: door mass, frictional force applied to the door“; Ansprüche 12, 13: “working out one or more of the parameters: door mass, frictional force applied to the door“).
73
Damit sind die bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit zu berücksichtigenden Merkmale des Verfahrens gemäß Patentanspruch 1 des Streitpatents aus dem Stand der Technik bekannt.
74
Die Patentinhaberin ist zwar der Auffassung, dass die Formulierung des Rückbezugs des Anspruchs 3 auch auf den Anspruch 2, woraus folgt, dass gemäß Druckschrift D3 sowohl Geschwindigkeit als auch Beschleunigung optional in ein und demselben Verfahren gemessen werden sollen, fehlerhaft sei.
75
Aber selbst dies zugunsten der Patentinhaberin unterstellt, würde das Verfahren nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen, denn die Patentansprüche 2 und 3 geben dem Fachmann bereits Anlass zu der Überlegung, ob und inwieweit die gleichzeitige Messung beider Größen möglich und sinnvoll sein könnte. Diese Überlegung würde den Fachmann dann aber zu einem Verfahren mit den im Patentanspruch 1 gemäß Streitpatent genannten technischen Merkmalen führen, die bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit zu berücksichtigen wären.
76
Der Umstand, dass gemäß Streitpatent ein anderes Systemmodell erstellt wird und andere mathematische Näherungsverfahren angewandt werden als in der Druckschrift D3 vorgesehen, wäre dagegen unbeachtlich.
77
10. Somit war der Beschwerde der Einsprechenden stattzugeben und das Patent unter gleichzeitiger Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zu widerrufen.


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