Patent- und Markenrecht

Patenteinspruchsbeschwerdeverfahren – “Anordnung zur Erfassung von Berührungen auf einer Trägerplatte und Verfahren zur Herstellung eines Sensors” – zu den Anforderungen an die elektronische Aktenführung im DPMA – das schriftlich begründete, von der Patentabteilung separat signierte elektronische Dokument genügt den vom Bundesgerichtshof ausgestellten Erfordernissen an Wirksamkeit – vollständiges Beschlussdokument, dem die Signaturen mittelbar zugerechnet werden können, liegt vor

Aktenzeichen  20 W (pat) 28/12

Datum:
12.5.2014
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Gerichtsort:
München
Dokumenttyp:
Beschluss
Normen:
§ 47 Abs 1 S 1 PatG
§ 77 S 1 PatG
§ 79 Abs 3 Nr 2 PatG
§ 125a PatG
§ 5 Abs 2 EAPatV
Spruchkörper:
20. Senat

Tenor

In der Beschwerdesache


betreffend das Patent 10 2008 004 423
hat der 20. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2014 durch den Vorsitzenden Richter Dipl.-Phys. Dr. Mayer, die Richterin Kopacek sowie die Richter Dipl.-Ing. Gottstein und Dipl.-Ing. Albertshofer
beschlossen:
Der Beschluss der Patentabteilung 56 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 14. Juni 2012 wird aufgehoben und das Patent 10 2008 004 423 wird widerrufen.

Tatbestand

I.
1
Auf den Einspruch hat die Patentabteilung 56 des Deutschen Patent- und Markenamtes das Patent 10 2008 004 423 mit Beschluss vom 14. Juni 2012 (verkündet am Ende der Anhörung am 14. Juni 2012) beschränkt aufrechterhalten. Mit Datum vom 9. August 2012 hat die Patentabteilung mit Hinweis auf den in der Anhörung verkündeten Beschluss die schriftliche Fassung des Beschlusses mit Begründung erstellt, die den Parteien jeweils am 16. August 2012 zugestellt worden ist.
2
Gegen diesen Beschluss hat die Einsprechende am 5. September 2012, eingegangen per Telefax beim Deutschen Patent- und Markenamt am gleichen Tag, Beschwerde eingelegt.
3
Der Senat hat durch Beschluss vom 5. März 2013 der Präsidentin des Deutschen Patent- und Markenamts den Beitritt zum Beschwerdeverfahren gemäß § 77 S. 1 PatG anheimgegeben, da über grundsätzliche Rechtsfragen im Zuge der elektronischen Aktenführung zu entscheiden sei. Die Präsidentin des Deutschen Patent- und Markenamts hat mit Schriftsatz vom 7. Mai 2013 den Beitritt zum Beschwerdeverfahren erklärt. Sie vertritt u. a. die Auffassung, im Zuge der vollelektronischen Aktenführung und Beschlusserstellung könne die Existenz einer Beschluss-Urschrift nicht mehr gewährleistet werden. Der Umstand, dass sich in der elektronischen Akte mehrere begründete, wirksam elektronisch signierte Beschlussexemplare befänden und damit kein urschriftliches Beschlussdokument vorliege, stelle keinen wesentlichen Verfahrensfehler dar. Das Festhalten an konventionellen Verfahrensweisen scheine in Bezug auf die neuen technischen Gegebenheiten nicht zielführend. Zudem befinde sich in der elektronischen Verfahrensakte mindestens ein Beschlussexemplar, das mit einer Begründung versehen und durch alle Mitglieder der Patentabteilung signiert sei. Es sei aber zuzugeben, dass die Signaturpraxis des Deutschen Patent- und Markenamts (DPMA) für das gerichtliche Verfahren derzeit unübersichtlich gestaltet sei, weil die elektronische Akte dadurch viele Dateikomponenten enthalte, die einander zugeordnet werden müssten, weshalb ein neues Konzept für das Signaturverfahren erstellt werde. Soweit der Senat eine Zurückverweisung des Verfahrens in Erwägung ziehe, sei dies jedoch dann nicht in Betracht zu ziehen, wenn das Beschwerdegericht aufgrund der ihm vorliegenden Dokumente zu einer abschließenden Sachentscheidung in der Lage sei.
4
In der mündlichen Verhandlung am 9. Oktober 2013 sind mit den Bevollmächtigten der Parteien und mit den Vertretern des DPMA die aus Sicht des Senates problematischen Verfahrensabläufe im Zuge der Einführung der elektronischen Akte ausführlich erörtert worden. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2013 wird insoweit Bezug genommen.
5
In einem nachgelassenen Schriftsatz vom 14. Februar 2014 hat das DPMA zu den vom Senat für klärungsbedürftig erachteten Fragen Stellung genommen (vgl. Bl. 250 ff. d. A.).
6
In der Fortsetzung der mündlichen Verhandlung am 12. Mai 2014 hat das DPMA ausführlich zu den teilweise bereits in Kraft gesetzten Neuerungen der elektronischen Verfahrensabläufe bei der Beschlusserstellung in Patent- und Gebrauchsmustersachen sowie zu den geplanten Verbesserungen in Bezug auf die Aktenklarheit vorgetragen. Auf die dem Senat überreichte Präsentation wird insoweit Bezug genommen. Auf Nachfrage des Senats erklären der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin und der Bevollmächtigte der Beschwerdegegnerin, dass sie keinen Antrag auf Zurückverweisung des Verfahrens an das DPMA stellen.
7
Im Termin vom 12. Mai 2014 beantragt die Einsprechende und Beschwerdeführerin,
8
den Beschluss der Patentabteilung 56 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 14. Juni 2012 aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
9
Die Patentinhaberin und Beschwerdegegnerin beantragt in der mündlichen Verhandlung,
10
die Beschwerde zurückzuweisen.
11
Die Bevollmächtigte der Präsidentin des DPMA stellt keinen Antrag.
12
Das Patent in der beschränkt aufrechterhaltenen Fassung umfasst insgesamt 4 Patentansprüche. Der unabhängige Patentanspruch 1 in der vom Deutschen Patent- und Markenamt beschränkt aufrechterhaltenen Fassung hat folgenden Wortlaut:
13

14

15
Bezüglich der abhängigen Patentansprüche 2 bis 4 wird auf den Akteninhalt verwiesen.
16
Die Einsprechende und Beschwerdeführerin ist der Meinung, dass der Patentanspruch 1 nicht zulässig sei, da er über die ursprüngliche Offenbarung hinausgehe und das Streitpatent die Erfindung nicht so deutlich offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen könne. Des Weiteren hält sie den Gegenstand der Anspruchsfassung für nicht patentfähig. Sie stützt ihre Argumentation bezüglich fehlender Neuheit und erfinderischer Tätigkeit insbesondere auf die im Verfahren befindliche Druckschrift DE 10 2004 026 672 B4 (D1), die in der mündlichen Verhandlung diskutiert wurde.
17
Die Patentinhaberin tritt dem Vorbringen der Einsprechenden entgegen. Sie hält den Patentanspruch 1 für zulässig. Zudem offenbare das Streitpatent die Erfindung so deutlich, dass ein Fachmann sie ausführen könne. Den Gegenstand der Anspruchsfassung hält sie für patentfähig. Er sei durch den im Verfahren befindlichen Stand der Technik weder neuheitsschädlich vorweggenommen noch dem Fachmann nahe gelegt.
18
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze samt allen Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2013 und vom 12. Mai 2014 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

II.
19
Entsprechend den zu § 79 Abs. 3 PatG ergangenen Rechtsprechungsgrundsätzen übt der Senat sein bestehendes Ermessen dahingehend aus, keine Zurückverweisung des Verfahrens an das DPMA auszusprechen.
20
Dies gründet sich zum Einen auf den Umstand, dass die elektronische Akte des DPMA zumindest ein Beschlussexemplar, dem die elektronischen Signaturen der zuständigen Prüfer der Patentabteilung 56 zugeordnet werden können, enthält (a). Zum Anderen ist nach Auffassung des Senats zu berücksichtigen, dass der vorliegende Fall zu einer Anzahl von Fällen gehört, die in einem überschaubaren, abgeschlossenen Zeitraum im Rahmen der Einführungsphase der elektronischen Akte im DPMA in der Vergangenheit aufgetreten sind, und derartige Verfahrensfehler aufgrund der vom DPMA umgesetzten Änderungen künftig vermieden werden können (b).
21
a) Die Zurückverweisung steht nach § 79 Abs. 3 PatG im Ermessen des Gerichts (vgl. BGH BlPMZ 07, 290 – Jahresgebührzahlung für Teilanmeldungen). Das Gericht kann, muss aber – selbst bei schweren Verfahrensverstößen – nicht zurückverweisen (vgl. BGH BlPMZ 97, 359 – Top Selection; 98, 150 – Active Line). Nach § 79 Abs. 3 Nr. 2 PatG kann eine Zurückverweisung bei Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels zwar erfolgen, wobei ein solcher Verfahrensmangel auch bei der Unwirksamkeit eines Beschlusses wegen fehlender Unterschrift vorliegen kann (vgl. Schulte/Püschel, Patentgesetz, 9. Aufl., § 79 Rn. 24). Selbst wenn – wie der Senat im Beitrittsbeschluss vom 5. März 2013 ausgeführt hat – ein ordnungsgemäß signiertes, begründetes Beschluss-Urdokument in der elektronischen Akte fehlt, da sich die Signaturdateien der zuständigen Prüfer nicht nur jeweils auf ein Exemplar des Beschlusses beziehen und unmittelbar diesem zugeordnet werden können, sondern weitere Dokumente umfassen, bedingt dies nicht zwingend die Zurückverweisung des Verfahrens an das DPMA.
22
Der Beschluss der Patentabteilung ist in der Anhörung vom 14. Juni 2012 verkündet worden und ist somit wirksam. In der elektronischen Akte befindet sich zudem zumindest ein gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 PatG schriftlich begründetes Beschlussexemplar, dem die qualifizierten elektronischen Signaturen der drei zuständigen Prüfer der Patentabteilung 56, die den jeweiligen handschriftlichen Unterschriften gleichzusetzen sind, zugeordnet werden können. Dies ist anzunehmen, auch wenn nicht ein einzelnes bestimmtes elektronisches Beschluss-Dokument als solches mit qualifizierten elektronischen Signaturen versehen worden ist, sondern die gesamten PDF-Dateien „Beschluss Aufrechterhaltung – Signiert“ und damit ein ganzes Konvolut an elektronischen Dokumenten, und zwar jeweils zweifach, bestehend aus dem Beschluss-Dokument als solchem, dem Anlagenverzeichnis, der Rechtsmittelbelehrung und der Niederschrift über die Anhörung (vgl. hierzu BPatG Beschl. v. 24. Oktober 2013 – 10 W (pat) 13/12; BPatG Beschl. v. 25. Juli 2013 – 10 W (pat) 2/13 zur Problematik der Signierung mehrerer Beschlussexemplare). Insbesondere unterscheidet sich der vorliegende Fall jedenfalls von den den Entscheidungen BPatG Beschl. v. 19. Februar 2014 – 19 W (pat) 16/12 und BPatG Beschl. v. 28. März 2013 – 12 W (pat) 36/12 zugrunde liegenden Konstellationen, in denen jeweils Zurückverweisungen (auch) aufgrund des Umstands ausgesprochen wurden, dass die elektronische Signatur von zumindest einem zuständigen Prüfer nicht vorhanden war und somit begründete Zweifel aufkamen, ob lediglich ein Entwurfsdokument vorlag.
23
Es gilt in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass der Bundesgerichtshof auch auf anderen Rechtsgebieten, die ein handschriftliches Unterschriftserfordernis von Schriftstücken zwingend vorsehen und die eigenhändige Unterschrift grundsätzlich als unerlässliche Wirksamkeitsvoraussetzung erfordern, wie etwa bei fristwahrenden Schriftsätzen im Zivilprozess z. B. die Rechtsmitteleinlegung, Ausnahmen von diesem Unterschriftserfordernis zugelassen hat, solange sichergestellt ist, dass aus dem Schriftstück der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden soll, sowie die Person, von der sie ausgeht, hinreichend zuverlässig entnommen werden können; außerdem muss feststehen, dass es sich bei dem Schriftstück nicht nur um einen Entwurf handelt, sondern dass dieses mit Wissen und Willen des Berechtigten dem jeweiligen Empfänger zugeleitet worden ist. Deshalb soll das Fehlen einer Unterschrift bei Vorliegen besonderer Umstände ausnahmsweise unschädlich sein, wenn sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Willen ergibt, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen (vgl. BGH NJW 2005, 2068, 2088 – Berufungsbegründung mittels Computerfax ohne eingescannte Unterschrift; NJW 2009, 2311 – Berufungseinlegung durch unvollständige Original-Rechtsmittelschrift). Damit wird nicht zuletzt dem Anspruch der Prozessbeteiligten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4, Art. 21 und Art. 103 Abs. 1 GG Rechnung getragen, die es verbieten, den Zugang zur jeweiligen nächsten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfG NJW 1987, 2067; NJW 1988, 1255; NJW 2004, 2887). Darüber hinaus hat die Rechtsprechung das Erfordernis der handschriftlichen Unterschriftsleistung des Berechtigten vor allem im Hinblick auf den technischen Fortschritt in einem erheblichen Umfang relativiert (vgl. BGH NJW 2000, 2340).
24
Das schriftlich begründete, von der Patentabteilung 56 separat signierte elektronische Dokument genügt nach Auffassung des Senats den vom Bundesgerichtshof aufgestellten Erfordernissen an die – ausnahmsweise – Wirksamkeit jedenfalls deshalb, weil zumindest ein vollständiges Beschlussdokument vorliegt, dem wie vorliegend Signaturen der Entscheidenden zumindest mittelbar zugerechnet werden können, d. h. es geht daraus ein erkennbarer Wille aller Entscheidenden hervor und das Dokument ist vom Willen zur Zuleitung an die Beteiligten getragen, sodass hier eine Abgrenzung zum Vorliegen eines bloßen Entwurfs gewährleistet ist.
25
Die vom DPMA zur Signierung der elektronischen Dokumente eingesetzte sogenannte „Detached Signature“ erfüllt nunmehr die Anforderungen des § 5 Abs. 2 EAPatV (Fassung vom 12. November 2013 bis 9. Januar 2014) bzw. § 5 Abs. 3 EAPatV (aktuell seit 10. Januar 2014 geltende Fassung).
26
b) Der Senat erachtet im Rahmen seines Ermessens das Absehen von einer Zurückverweisung an das DPMA im Ergebnis auch deswegen für sachgerecht, als der vorliegende Fall zu einer begrenzten Anzahl von Fällen in einem begrenzten Übergangszeitraum in der Vergangenheit gehört und nach den vom DPMA in der mündlichen Verhandlung dargestellten und zum Teil bereits umgesetzten Verfahrensabläufen sichergestellt ist, dass Verfahrensfehler der dargestellten Art weitgehend vermieden werden können.
27
Wie das DPMA in seiner Präsentation in der mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2014 ausgeführt hat (vgl. Anlage zum Protokoll, Blatt 320 bis 330 der Gerichtsakte), wird sich in der elektronischen Akte künftig nur mehr ein von der zuständigen Prüfungsstelle bzw. –abteilung signiertes Beschluss-Urdokument befinden, von dem Ausfertigungen erstellt werden können. Anhand des elektronisch erzeugten Signaturblattes kann zudem die Wirksamkeit der Unterschriften nachvollzogen werden.
28
Damit zeigt sich, dass die dargestellten verfahrensrechtlichen Mängel einen zwischenzeitlich beendeten Zeitabschnitt mit einer begrenzten Anzahl von Fällen betroffen haben und daher einer zeitlich begrenzten Einführungsphase des Datenverarbeitungssystems im DPMA geschuldet waren. In diesem Zusammenhang gilt es auch in besonderem Maße zu berücksichtigen, dass in einem komplexen Datenverarbeitungssystem wie dem vorliegenden Mängel und Unwägbarkeiten bei verfahrensrechtlichen Umsetzungen nicht von vornherein auszuschließen sind. Es erscheint dem Senat daher angemessen, die in dieser Übergangszeit aufgetretenen Mängel keiner formellen Sanktionierung zu unterziehen, sondern sie unter dem Gesichtspunkt der für die Zukunft sichergestellten verfahrenskonformen Vorgehensweise im Hinblick auf die begrenzte Zahl von Fällen für einen Übergangszeitraum in der Vergangenheit zu akzeptieren. Damit wird auch dem Prinzip des Bestandsschutzes des Verwaltungshandelns Rechnung getragen.
29
Der Senat weist gleichwohl darauf hin, dass die vom DPMA angekündigten Verbesserungen zur Aktenwahrheit und -klarheit neben den bereits umgesetzten Änderungen für zwingend erforderlich zu erachten sind, wenn auch davon auszugehen sein wird, dass diese Ziele nicht in kurzer Zeit umsetzbar sind.
30
Bezüglich des Akteneinsichtsrechts der Verfahrensbeteiligten geht der Senat aufgrund der Ausführungen des DPMA in der mündlichen Verhandlung am 12. Mai 2014 davon aus, dass in allen Beschwerdeverfahren auf schriftlichen Antrag eines Verfahrensbeteiligten dieser die elektronische Akte in gleicher Weise und mit identischem Inhalt erhält, wie sie auch dem jeweils erkennenden Senat vom DPMA vorgelegt wird.
III.
31
Die zulässige Beschwerde hat Erfolg, da der Patentgegenstand auf keiner erfinderischen Tätigkeit beruht, und die Patentfähigkeit nach § 1 Abs. 1 i. V. m. § 4 PatG somit nicht gegeben ist.
32
1. Der Gegenstand des Streitpatents betrifft ausweislich der Beschreibungseinleitung in der Patentschrift eine Anordnung zur Erfassung von Berührungen auf einer Trägerplatte, welche aus einem isolierenden Material besteht, wobei auf der Trägerplatte mindestens ein die Berührung der Trägerplatte detektierender Sensor angeordnet ist, welcher mit einer Auswerteelektronik verbunden ist (vgl. Streitpatent, Abs. [0001]).
33
Die Aufgabe der Erfindung bestehe darin, eine Anordnung zur Erfassung von Berührungen auf einer Trägerplatte anzugeben, welche einfach herzustellen sei und bei welcher die erzeugten Ströme einfach auszuwerten seien (Abs. [0016]).
34
Zur Lösung schlägt das Patent in der aufrechterhaltenen Fassung eine Vorrichtung vor, welche folgendermaßen gegliedert werden kann:
35
(M1) Anordnung zur Erfassung von Berührungen auf einer Trägerplatte,
36
(M2) welche aus einem isolierenden Material besteht,
37
(M3) wobei auf der Trägerplatte mindestens ein, die Berührung detektierender, kapazitiver Sensor angeordnet ist,
38
(M4) welcher mit einer Auswerteelektronik verbunden ist,
39
(M5) wobei der aus einem transparenten Material bestehende Sensor
40
(M6) mit mindestens einer transparenten Sensorelektrode
41
(M7) in einem durchsichtigen Bereich der Trägerplatte
42
(M8) auf deren Rückseite angeordnet ist,
43
und wobei
44
(M9) die Trägerplatte in einem ersten Bereich (6) durchsichtig
45
(M10) und in einem zweiten Bereich (7) undurchsichtig ausgebildet ist,
46
(dadurch gekennzeichnet,)
47
(M11) dass sich die jeweils über eine elektrische Leitung mit den Sensorelektroden verbundene Auswerteelektronik
48
(M12) auf der Rückseite der Trägerplatte
49
(M13) in dem zweiten undurchsichtigen Bereich (7) entlang des durchsichtigen Bereichs (6) erstreckt,
50
(M14) dass hinter dem, die transparenten Sensorelektroden tragenden durchsichtigen Bereich der Trägerplatte ein Display angeordnet ist, und
51
(M15) dass die transparente Sensorelektrode ein Netz von elektrisch leitenden Verbindungen
52
(M16) aus einer auf die Trägerplatte aufgetragenen und getrockneten elektrisch leitenden Paste aufweist.
53
2. Als Fachmann ist nach Überzeugung des Senats ein Entwicklungsingenieur für Sensortechnik mit mehrjähriger Erfahrung in der Konstruktion und Herstellung von berührungsempfindlichen Bedienelementen anzusehen. Dieser Fachmann verfügt über Kenntnisse und Erfahrungen der verschiedenen Beschichtungstechniken, wie beispielsweise Bedampfen und Dickschichttechnik, sowie über Kenntnisse über die hierbei verwendeten Werkstoffe.
54
Der Senat legt den auslegungsbedürftigen Begrifflichkeiten in der Anspruchsfassung nachfolgendes Verständnis zugrunde.
55
Soweit der Patentanspruch 1 fordert, dass sich eine „Auswerteelektronik auf der Rückseite der Trägerplatte in dem zweiten undurchsichtigen Bereich (7) entlang des durchsichtigen Bereichs (6) erstreckt“ (vgl. Merkmale M12 und M13), so bedeutet dies für den einschlägigen Fachmann, dass die Auswerteelektronik außerhalb des durchsichtigen Bereichs, im undurchsichtigen Bereich der Trägerplatte untergebracht bzw. angeordnet ist (vgl. auch Patentschrift, Abs. [0019]).
56
Hinsichtlich dem anspruchsgemäßen „Netz von elektrischen Verbindungen“, einer Formulierung, die nur im Merkmal M15 des Patentanspruchs 1 und nicht in der Beschreibung des Patents verwendet wird, schließt sich der Senat dem in der mündlichen Verhandlung dargelegten Vortrag der Patentinhaberin an, dass es sich dabei nicht um eine homogene Schicht, sondern um eine strukturierte leitfähige Fläche handelt, die auch Löcher aufweisen, mithin auch in Form eines klassischen Netzes strukturiert sein kann (vgl. Patentschrift, Abs. [0055] bis [0057] i. V. m. Fig. 5 b).
57
3. Zur aufrechterhaltenen Fassung
58
3.1 Die Erfindung ist zur Überzeugung des Senats ausführbar offenbart, da die im Patent enthaltenen Angaben dem fachmännischen Leser so viel an technischer Information vermitteln, dass er mit seinem Fachwissen und seinem Fachkönnen in der Lage ist, die Erfindung erfolgreich auszuführen (BGH, Urteil vom 13. Juli 2010 – Xa ZR 126/07 – Klammernahtgerät).
59
Insbesondere sind dem einschlägigen Fachmann aus seinem Fachwissen entsprechende elektrisch leitfähige Pasten bekannt, mit denen mittels Dickschichttechnik transparente, elektrisch leitende Verbindungen auf einer Trägerplatte hergestellt werden können.
60
3.2 Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag ist jedoch mangels Beruhens auf einer erfinderischen Tätigkeit nicht patenfähig.
61
Der Senat erachtet die Lehre gemäß der Druckschrift DE 10 2004 026 672 B4 (D1) als Ausgangspunkt für die patentgemäße Lehre.
62
Die Druckschrift D1 offenbart eine Berührungsschalteinrichtung mit mindestens einer kapazitiven Berührungs- oder Touchsensorelektrode, die an der dem Bediener abgewandten Seite einer durchgängigen, ein dielektrisches Trägermaterial aufweisenden Bedienblende im Bedienbereich angeordnet ist (vgl. D1, Abs. [0001], Fig. 2, Bezz. 10, 16, 22; Abs. [0046], [0047]). Aus dieser Druckschrift D1 ist mithin in Übereinstimmung mit dem Anspruchsgegenstand eine Anordnung zur Erfassung von Berührungen auf einer Trägerplatte bekannt (Merkmal M1), welche aus einem isolierenden Material besteht (Merkmal M2), wobei auf der Trägerplatte mindestens ein, die Berührung detektierender, kapazitiver Sensor angeordnet ist (Merkmal M3).
63
Der kapazitive Sensor 10 ist mit einer Auswerteelektronik 34 verbunden (vgl. D1, Fig. 2, Bezz. 10, 24, 30, 32, 34; Abs. [0010], [0011], [0046]; Merkmal M4).
64
Bei der bekannten Anordnung ist der aus einem transparenten Material bestehende Sensor mit mindestens einer transparenten Sensorelektrode 10 in einem durchsichtigen Bereich der Bedienblende 18, in der Diktion des Streitpatents eine Trägerplatte, auf deren Rückseite angeordnet (vgl. Abs. [0047], „Die Bedienblende 18 der Berührungsschalteinrichtung besteht bevorzugt aus einem überwiegend transparenten oder einem transluzenten, dielektrische Trägermaterial 16 mit einer auf der einem Bediener 12 abgewandten Seite 14 überwiegend transparenten, elektrisch leitenden Schicht, welche die Touchelektrode 10, die Leiterbahn 24 und die Kontaktzone 24 bilden.“;
Merkmale M5, M6, M7, M8
).
65
Die Trägerplatte („Bedienblende 18“) ist in einem ersten Bereich durchsichtig und in einem zweiten Bereich undurchsichtig ausgebildet (vgl. D1, Abs. [0018]; [0034]; Fig. 4 (ohne Dekorschicht), Fig. 5 (mit Dekorschicht 28) Merkmale M9, M10).
66
Bei der aus der Druckschrift D1 bekannten Anordnung ist gemäß den Figuren 2 und 5 auf der Rückseite der Bedienblende 18 (= Trägerplatte) in dem undurchsichtigen Bereich (vgl. Fig. 4 bzw. Fig. 5 (punktiertes Gitternetz)) eine Auswerteelektronik 34 angeordnet; folglich erstreckt sie sich auf der Rückseite der Trägerplatte in dem zweiten undurchsichtigen Bereich entlang des durchsichtigen Bereichs (Merkmale M12, M13). Die Sensorelektrode 10 ist über eine elektrische Leitung (Leiterbahn 24) und eine Ankopplungskapazität 26, 32 mit der Auswerteelektronik 34 verbunden (vgl. Fig. 2, Abs. [0046]).
67
Soweit die Patentinhaberin vorträgt, dass sich die Vorrichtung gemäß Streitpatent von der bekannten Vorrichtung dadurch unterscheide, dass anspruchsgemäß eine galvanische Kopplung, also eine leitende Verbindung (ohne Ankopplungskapazität Zk (vgl. D1, Abs. [0054]; Fig. 2)) zwischen Sensorelektrode und Auswerteelektronik vorgesehen sei, und der einschlägige Fachmann dies bei der Anordnung nach der Druckschrift D1 nicht vorsehen würde, so muss sie sich entgegenhalten lassen, dass auch das Streitpatent nicht ausschließt, dass die dort genannte Auswerteelektronik eine derartige Ankopplungskapazität aufweisen kann. Da der einschlägige Fachmann zudem der Druckschrift D1 entnimmt, dass diese Ankopplungskapazität Teil der Auswerteelektronik ist (vgl. D1, Abs. [0053], „
Die ankoppelnde Fläche 32 ist Teil eines elektronischen Schaltungsaufbaus 34
, der einen Schaltungsträger mit elektronischen Bauteilen umfasst und zur Ansteuerung und Auswertung der Touchsensorelektrode 10 dient.“, Unterstreichung hinzugefügt) und diese über eine Leiterbahn 24 mit der Sensorelektrode verbunden ist (vgl. D1, Fig. 2), ist dieses Merkmal aus fachmännischer Sicht durch die Druckschrift D1 vorbekannt (Merkmal M11).
68
Hinter dem die transparente Sensorelektrode 10 tragenden durchsichtigen Bereich der Trägerplatte (Bedienblende) ist ein Display angeordnet (vgl. Fig. 5, „On/Off“, Abs. [0033], „Insbesondere ergeben sich deutliche Vorteile in Verbindung mit Hinterlegung der transparenten oder transluzenten Sensorflächen oder deren Hinterlegung mit Displayeinheiten.“, Abs. [0034], „Die transparenten, einen Sensor umgebenden Bereiche, die nicht durch eine Dekor- und/oder Schutzschicht vollständig lichtdeckend abgedeckt sind, können mit einer LCD oder OLED-Anordnung oder dergleichen Anzeigeeinrichtung oder einer LED-Anordnung mit oder ohne Lichtführung, einer Anordnung flächiger OLED- oder EL-Leuchten oder dergleichen Beleuchtungseinrichtung hinterlegt sein.“;
Merkmal M14).
69
Gemäß den Ausführungen in der Druckschrift D1 handelt es sich bei den Sensorelektroden um insbesondere transparente elektrisch leitende Schichten bzw. elektrisch leitende Strukturen, die Sn-oxid, In-Sn-oxid (ITO) oder dergleichen als elektrisch leitendes Metalloxid aufweisen (vgl. Abs. [0015]). Da bei fachmännischer Lesart unter einer elektrisch leitenden Struktur nicht nur homogene elektrisch leitfähigen Schichten, sondern auch netzartig strukturierte elektrisch leitende Schichten zu subsumieren sind, geht aus der Druckschrift D1 unmittelbar und eindeutig hervor, dass die bekannte Sensorelektrode ein Netz von elektrisch leitenden Verbindungen (=“elektrisch leitende Struktur“) im Sinne des fachmännischen Verständnisses der Streitpatentschrift aufweist (Merkmal M15).
70
Von diesem bekannten Stand der Technik nach der Druckschrift D1 unterscheidet sich der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nur dadurch, dass der aus der Druckschrift D1 bekannten Anordnung nicht explizit entnommen werden kann, dass die elektrisch leitenden Verbindungen aus einer auf die Trägerplatte aufgetragenen und getrockneten elektrisch leitenden Paste bestehen (Merkmal M16).
71
Diese Vorgehensweise ist dem Fachmann aber bereits durch den in der Druckschrift D1 enthaltenen Hinweis auf die Herstellung von Sensorelektroden mittels standardisierter Druck-, und Beschichtungsprozesse nahe gelegt (vgl. D1, Abs. [0013]), bei denen bekanntlich pastöse Schichten auf ein Substrat aufgetragen und anschließend getrocknet werden. Die hierbei verwendeten Pasten, mit denen transparente und leitfähige Schichten hergestellt werden, sind dem Fachmann geläufig, da sie in handelsüblicher Form erhältlich sind (vgl. Patentschrift, Abs. [0054]).
72
Damit wird der Gegenstand des verteidigten Patentanspruchs in seiner Gesamtheit durch die Druckschrift DE 10 2004 026 672 B4 (D1) in Verbindung mit dem Fachwissen und Fachkönnen des hier angesprochenen Fachmanns nahegelegt (BGH, Urteil vom 12. Dezember 2012 – X ZR 134/11, GRUR 2013, 363 – Polymerzusammensetzung).
73
Der Meinung der Patentinhaberin, dass die Druckschrift D1 als Ausgangspunkt für die Beurteilung der Patentfähigkeit des Streitpatents nicht geeignet sei, da es bei der aus der Druckschrift D1 bekannten Vorrichtung wegen der dort vorgesehenen Dekorier- und Isolierschicht 28 (vgl. D1, Fig. 2, Bezz. 28, Abs. [0046]) gar nicht möglich sei, hinter dem, die transparenten Sensorelektroden tragenden durchsichtigen Bereich der Trägerplatte ein Display anzuordnen, kann sich der Senat nicht anschließen.
74
Die Dekor- und Isolierschicht 28 kann gemäß den Ausführungen in der Druckschrift D1 ganzflächig oder teilflächig ausgebildet sein (vgl. D1, Abs. [0052]). Mit dem vorgeschlagenen Design ergeben sich deutliche Vorteile in Verbindung mit der Hinterlegung transparenter oder transluzenter Sensorflächen oder deren Hinterlegung mit Displayeinheiten, bei denen es sich beispielsweise um LCD oder OLED-Anordnungen handeln kann (vgl. D1, Abs. [0033] und [0034]). Mithin ist auch bei der bekannten Anordnung ein Display hinter der transparenten Sensorelektrode offenbart.
75
3.3 Bei dieser Sachlage bedarf es keiner Entscheidung, ob der Gegenstand des Patentanspruchs 1 über den Inhalt der Anmeldung in der Fassung hinausgeht, in der er beim Deutschen Patent- und Markenamt ursprünglich eingereicht worden ist.
76
4. Wegen der fehlenden Patentfähigkeit des selbständigen Patentanspruchs 1 in der aufrechterhaltenen Fassung war das Patent folglich insgesamt zu widerrufen (BGH, Beschluss vom 27. Juni 2007 – X ZB 6/05, BGHZ 173, 47 – Informationsübermittlungsverfahren II). Im Übrigen war ein eigenständiger erfinderischer Gehalt der abhängigen Patentansprüche für den Senat nicht ersichtlich und ist auch von der Patentinhaberin nicht vorgetragen worden (für das Nichtigkeitsverfahren vgl. BGH, Urteil vom 29. September 2011 – X ZR 109/08, GRUR 2012, 149, Leitsatz a – Sensoranordnung).


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