Sozialrecht

Anerkannter Sachverständiger, besondere berufliche Betroffenheit, Schädigungsfolgen, Weiteres Sachverständigengutachten, Dissoziative Bewegungsstörung, Kein Gutachten, Nervenärztliche Gutachten

Aktenzeichen  L 15 VG 29/17

Datum:
10.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 35282
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BVG § 30
OEG § 1
OEG § 10a

 

Leitsatz

1. Das Tatbestandsmerkmal von § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG „allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt“ ist erfüllt, wenn sich die zu einer Schwerbeschädigung führende Schädigung bis zum Stichtag 15.05.1976 ereignet hat und diese für sich betrachtet einen GdS von mindestens 50 erreicht. Die Schädigung muss nicht ausschließliche Ursache für die vorliegenden Gesundheitsschäden sein. Es kommt nicht darauf an, ob diese Schädigung im Nachhinein durch weitere Schädigungen nach dem Stichtag überlagert und beeinflusst wird.
2. Die vor dem Stichtag erfolgten Schädigungen sind bzgl. der Schädigungen ab 16.05.1976 nur dann als Mitverursachungsbeiträge – und nicht als Vorschäden – zu berücksichtigen, wenn alleine durch sie ein GdS von 50 ausgelöst worden ist.
3. Vorliegend kann offen bleiben, ob ein fortgesetzter sexueller Missbrauch durch ein- und dieselbe Person unter bestimmten Voraussetzungen als einheitliche Gewalttat anzusehen ist und nur dann unter die Beschränkungen des § 10a OEG fällt, wenn diese Gewalttat am 15.05.1976 bereits abgeschlossen gewesen ist.

Verfahrensgang

S 30 VG 12/14 2017-08-03 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 3. August 2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG.
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Die Klägerin hat, wie das SG zu Recht entschieden hat, keinen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente wegen den o.g. erlittenen Übergriffen im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Der Bescheid vom 28.11.2012 in der Fassung des Bescheids vom 14.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.04.2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Gegenstand des Verfahrens ist ausschließlich die Gewährung einer Beschädigtenrente und damit die Höhe des GdS einschließlich der Frage einer besonderen beruflichen Betroffenheit gemäß § 30 Abs. 2 BVG, da diese keinen isolierten Streitgegenstand darstellt; bei ihr handelt es sich lediglich um einen Teilfaktor zur Bemessung des GdS, der wiederum nur Tatbestandsmerkmal für Leistungsansprüche ist (vgl. die Urteile des Senats vom 19.07.2011 – L 15 VG 20/10 – und 31.07.2018 – L 15 VU 3/13). Entsprechend der Annahme der Klägerin im Schriftsatz vom 26.04.2017 sind insbesondere eine Ausgleichsrente gemäß § 32 BVG oder ein Berufsschadensausgleich gemäß § 30 Abs. 3 BVG (der Anspruch auf Anerkennung eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG ist gegenüber dem BSA nach § 30 Abs. 3 BVG selbständig, eine gegenseitige Abhängigkeit besteht nicht, vgl. die Urteile des Senats vom 23.05.2017 – L 15 VU 1/11 – und vom 31.07.2018, a.a.O.) nicht Gegenstand. Der Beklagte hat hierüber bisher nicht entschieden.
Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 OEG wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Nach § 31 Abs. 1 BVG erhalten Beschädigte eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30.
Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschädigt worden sind, erhalten gem. § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG auf Antrag Versorgung, solange sie
1. allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind und
2. bedürftig sind und
3. im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch setzt zunächst voraus, dass ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff zu einer gesundheitlichen Schädigung geführt hat, die wiederum die geltend gemachten Schädigungsfolgen bedingen. Der vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriff, die gesundheitliche Schädigung sowie die Schädigungsfolgen müssen dabei im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein. Für den zwischen diesen drei „Gliedern der Kausalkette“ erforderliche ursächliche Zusammenhang genügt es, wenn dieser mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegeben ist (vgl. BSG, Urteil vom 25.03.2004, Az.: B 9 VS 1/02 R).
I.
Bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG (und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette) geht der Senat von folgenden rechtlichen Maßgaben aus (vgl. z.B. Urteile v. 05.02.2013 – L 15 VG 22/09, vom 20.10.2015 – L 15 VG 23/11 – und 16.11.2015 – L 15 VG 28/13; zum Ganzen vgl. auch BSG, Urteile v. 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R sowie B 9 V 3 /12 R, v. 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R, sowie vom 18.11.2015 – L 15 VG 1/14 R):
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist zu berücksichtigen, dass die Verletzungshandlung im OEG entsprechend dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt ist (vgl. BSG, Urteil v. 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R, m.w.N.). Gleichwohl orientiert sich die Auslegung an der im Strafrecht gewonnenen Bedeutung des auch dort verwendeten rechtstechnischen Begriffs des „tätlichen Angriffs“ (vgl. insbesondere BSG, Urteil v. 28.03.1984 – B 9a RVg 1/83). Die Auslegung hat sich mit Rücksicht auf den das OEG prägenden Gedanken des lückenlosen Opferschutzes aber weitestgehend von subjektiven Merkmalen (z.B. einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) gelöst (st. Rspr. seit 1995; vgl. BSG, Urteil v. 07.04.2011, a.a.O., m.w.N.). Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat das BSG vornehmlich aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden (vgl. z.B. Urteil v. 29.04.2010 – B 9 VG 1/09 R).
Der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist also grundsätzlich unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§ 113, 121 StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.).
Soweit eine gewaltsame Einwirkung vorausgesetzt wird, hat das BSG entschieden, dass der Gesetzgeber durch den Begriff des „tätlichen Angriffs“ den schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in rechtlich nicht zu beanstandender Weise begrenzt und den im Strafrecht uneinheitlich verwendeten Gewaltbegriff eingeschränkt hat (vgl. BSG, Urteil v. 07.04.2011, a.a.O., m.w.N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB (vgl. hierzu z.B. Fischer, StGB, 57. Aufl., § 240, Rdnr. 8 ff, m.w.N.) zeichnet sich der tätliche Angriff gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, d.h. er wirkt physisch auf einen anderen ein (vgl. das strafrechtliche Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB).
Ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.), setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus; das BSG ist einem an Aggression orientierten Begriffsverständnis des tätlichen Angriffs letztlich nicht gefolgt (st. Rspr. seit 1995; vgl. BSG, Urteile vom 18.10.1995 – B 9 RVg 4/93 und B 9 RVg 7/93 bzgl. sexuellen Missbrauchs an Kindern). Dahinter steht der Gedanke, dass auch nicht zum (körperlichen) Widerstand fähige Opfer von Straftaten den Schutz des OEG genießen sollen (vgl. BSG v. 07.04.2011, a.a.O.); in Fällen sexuellen Missbrauchs an Kindern ist für die „unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Kindes“ entscheidend, dass die Begehensweise, nämlich die sexuelle Handlung, eine Straftat war, unabhängig davon, ob bei der Tatbegehung das gewaltsam handgreifliche (oder das spielerische) Moment im Vordergrund steht (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.).
Die von der Klägerin geltend gemachten Handlungen des sexuellen Missbrauchs und die weiteren vorgetragenen Gewalttaten durch die Beschuldigten müssen – ebenso wie die anderen beiden Glieder der Kausalkette (s.o.: primäre Schädigung und die geltend gemachten Schädigungsfolgen) – nachgewiesen sein. Wie der Senat wiederholt (vgl. z.B. die Urteile vom 05.05.2015 – L 15 VG 31/12, 18.05.2015 – L 15 VG 17/09 ZVW, 20.10.2015 – L 15 VG 23/11 und 26.01.2016 – L 15 VG 30/09) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 – B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 – 9/9a RV 1/92; Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./ Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128, Rdnr. 3b).
II.
Entsprechend den vorgenannten Bestimmungen muss der Angriff gem. § 1 Abs. 1 S. 1 OEG im Sinne der erwähnten dreigliedrigen Kausalkette (vgl. BSG, Urteil vom 25.03.2004, Az.: B 9 VS 1/02 R) also zu einer primären Schädigung (2. Glied) geführt haben, die wiederum die geltend gemachten Schädigungsfolgen (3. Glied) bedingt.
Die Beurteilung des Zusammenhangs folgt, wie ansonsten im Versorgungsrecht auch, der Theorie der wesentlichen Bedingung (ständige Rspr. des BSG, vgl. z.B. Urteile vom 23.11.1977, Az.: 9 RV 12/77, vom 08.05.1981, Az.: 9 RV 24/80, vom 20.07.2005, Az.: B 9a V 1/05 R, und vom 18.05.2006, Az.: B 9a V 6/05 R). Diese beruht auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie: Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Als rechtserheblich werden allerdings nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben.
Eine potentielle Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977, Az.: 10 RV 15/77). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als hinreichende Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei das Wort „hinreichend“ nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, a.a.O., § 128, Rdnr. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße – abstrakte oder konkrete – Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteil vom 26.11.1968, Az.: 9 RV 610/66). Haben mehrere Ursachen zu einem Schaden beigetragen, ist eine vom Schutzbereich des BVG umfasste Ursache dann rechtlich wesentlich, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges – verglichen mit den mehreren übrigen Umständen – annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014, Az.: B 9 V 6/13 R). Im Einzelnen bedarf es dazu der wertenden Abwägung der in Betracht kommenden Bedingungen. Im Einzelfall muss die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinne als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (vgl. BSG, a.a.O.).
1. Unter Beachtung dieser Maßgaben ist wie die Beteiligten und das SG auch der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin in dem genannten Gesamtzeitraum Opfer zahlreicher vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe durch verschiedene Personen geworden ist. Dies ergibt sich insbesondere aus den glaubhaften Angaben der Klägerin und dem Gutachten der Dipl.-Psych. L. vom 11.01.2012.
Zudem besteht nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens kein Zweifel daran, dass die Klägerin unter Bedingungen aufgewachsen ist, wie die zum Beispiel von der Sachverständigen E. beschriebenen fehlenden ausreichenden emotionalen Fürsorge im Elternhaus, der frühen Übernahme von Verantwortung, der erzwungenen Mitarbeit, dem belastenden (asozialen) Umfeld, der zunehmenden Isolation und dem Kontaktverlust zu Gleichaltrigen, dem häufigen Fehlen in der Schule. Hinzukommt, wie die Sachverständige Dr. P. plausibel dargelegt hat, die anlagebedingte psychische Minderbelastbarkeit und die mögliche kognitive Beeinträchtigung durch hirnorganische Schädigungen, wobei sich entsprechend dem Hinweis der Sachverständigen auch die Kombination der genannten Faktoren ungünstig auf die Klägerin ausgewirkt hat. Diese ungünstigen Bedingungen und Faktoren stellen keine Angriffe im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG dar.
2. Gegenstand des Verfahrens sind somit die von der Klägerin im Verfahren geltend gemachten und vom Beklagten verbindlich anerkannten Angriffe im obigen Sinn, die auch von den Sachverständigen zugrunde gelegt wurden, wie sich aus den beiden Gutachten vom 21.05.2015 und 23.04.2016 ergibt.
Nicht zu berücksichtigen sind die (eben) im Einzelnen genannten „ungünstigen Bedingungen“, die aber auch zum Teil von der Klägerin (wie etwa am 05.11.2014 der „Bildungsentzug“) vorgetragen worden sind. Diese stellen offensichtlich keine rechtswidrigen tätlichen Angriffe im Sinne von § 1 OEG dar, da es hier bereits an der Tätlichkeit in diesem Sinne fehlt, soweit überhaupt von Handlungen anderer Personen auszugehen wäre.
3. Aufgrund der schädigenden Ereignisse, d.h. der genannten Angriffe, ist der Verschlimmerungsanteil der komplexen PTBS der Klägerin als Schädigungsfolge anzuerkennen. In diesem Störungsbild sind die depressiven, somatoformen und Angstsymptome sowie dissoziativen Bewegungseinschränkungen enthalten.
Dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere aus dem plausiblen und fundierten Gutachten der Sachverständigen E.. Der Senat macht sich nach eigener Prüfung diese sachverständige Feststellung zu eigen.
Eine psychotische Erkrankung besteht bei der Klägerin dagegen nicht. Wie die Fachärztin E. nachvollziehbar dargelegt hat, können die berichteten psychotischen Symptome auch bei anderen Krankheitsbildern auftreten und sind im Rahmen der komplexen PTBS zu werten. Eindeutige Ich-Störungen haben zu keiner Zeit vorgelegen. Hinweise für organische Ursachen finden sich nicht.
Im Übrigen sieht der Senat keine Veranlassung dafür, die exakte Diagnosestellung im Einzelnen zu erörtern bzw. in Hinblick auf die o.g. versorgungsärztliche Äußerung von Dr. K. in Frage zu stellen. Wie die Sachverständige E. zu Recht betont hat, ist die Bezeichnung der Diagnose für die Beurteilung des GdS letztlich nicht ausschlaggebend. Maßgebend sind vielmehr die Funktionseinschränkungen der Klägerin. Es kommt aus Sicht des Senats also nicht darauf an, ob die Diagnose der komplexen PTBS unangreifbar ist. An der von der Sachverständigen festgestellten und in die Bewertung einbezogenen Funktionseinschränkungen (s.o.) hat der Senat keine Zweifel.
4. Die o.g. Voraussetzungen für die Gewährung einer Beschädigtenrente sind jedoch nicht erfüllt. Insgesamt ist für die Schädigungsfolgen nur ein GdS von 20 anzusetzen.
Auch dies ergibt sich aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere aus den plausiblen Gutachten der Sachverständigen Dr. P. und E.
a. Dabei sind für die im Zeitraum bis 15.05.1976 begangenen Übergriffe gegen die Klägerin die Voraussetzungen von § 10a OEG zu beachten. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 18.11.2015 – B 9 V 1/14 R) ist das Tatbestandsmerkmal von § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG „allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt“ erfüllt, wenn sich die zu einer Schwerbeschädigung führende Schädigung bis zu dem genannten Stichtag ereignet hat und diese schädigenden Ereignisse für sich betrachtet einen GdS von mindestens 50 und damit die Schwerbeschädigteneigenschaft erreichen. Die Schädigung muss nicht ausschließliche Ursache für die vorliegenden Gesundheitsschäden sein. Es kommt nicht darauf an, ob diese Schädigungen im Nachhinein durch weitere Schädigungen nach dem Stichtag überlagert und beeinflusst werden. Eine derart restriktive Auslegung, dass also an sich der Härtefallregelung unterfallende Schädigungen im Nachhinein wieder ausgeschlossen wären, ist mit Sinn und Zweck der Härtefallregelung des § 10a OEG nicht vereinbar (a.a.O.).
b. Dementsprechend sind, wovon der Beklagte zutreffend ausgeht, die vor dem Stichtag erfolgten Taten bzgl. der Angriffe ab 16.05.1976 nur dann als Mitverursachungsbeiträge – und nicht als Vorschäden – zu berücksichtigen, wenn alleine durch sie ein GdS von 50 ausgelöst worden ist, da nur dann die Voraussetzungen von § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sind.
Eine Lösung dieser von der Literatur (Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, § 10a OEG, Rdnr. 4) aufgezeigten und vom Beklagten vorliegend (s. den Schriftsatz vom 30.05.2018) als Ausfluss einer undifferenzierten und unreflektierten Gesetzgebung bezeichneten Problematik durch die (von Rademacker, a.a.O.) präferierte Annahme einer fortgesetzten Handlung muss hier aufgrund der bestehenden Sachlage bereits von vornherein ausscheiden. So wurde vorgeschlagen (a.a.O.), dass ein fortgesetzter sexueller Missbrauch durch ein und dieselbe Person unter bestimmten Voraussetzungen als einheitliche Gewalttat anzusehen sei und nur dann unter die Beschränkungen des § 10a OEG falle, wenn diese Gewalttat am 15.05.1976 bereits abgeschlossen gewesen sei; hierfür „spreche nach Sinn von § 10a OEG Einiges“. Diese Voraussetzungen sind beim streitgegenständlichen Geschehen jedoch klar nicht gegeben, da es – anders als in dem der Entscheidung des Senats vom 18.02.2014 (L 15 VG 2/09) zugrundeliegenden Sachverhalt (s. das o.g. Urteil des BSG vom 18.11.2015 hierzu) – vorliegend um völlig unterschiedliche Angriffe im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch (zahlreiche) verschiedene Täter geht.
c. Daraus ergibt sich hier Folgendes:
(1) Wie die Sachverständigen Dr. P. und E. in ihren Gutachten plausibel dargelegt haben, liegt hinsichtlich der bis zum genannten Stichtag erfolgten Übergriffe ein GdS von mindestens 50 gerade nicht vor. Anzunehmen ist allenfalls ein GdS von 30, wie sich auch aus der ergänzenden Stellungnahme der Fachärztin E. nachvollziehbar ergibt.
Der Senat macht sich auch diese sachverständigen Feststellungen der beiden Gutachterinnen nach eigener Prüfung zu eigen.
Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass der Vorfall im Hausflur bereits vor dem genannten Stichtag erfolgt wäre, ergäbe sich, wie insbesondere auch aus dem plausiblen Gutachten von Dr. P., aber auch aus der ergänzenden Stellungnahme der Fachärztin E. vom 24.03.2017 folgt, kein GdS von 50.
Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Sachverständigengutachten von PD Dr. K., das der Beklagte in Auftrag gegeben hat. Dabei kann in vollem Umfang auf die überzeugenden Darlegungen der Sachverständigen E. verwiesen werden, die sich detailliert mit dem Gutachten auseinandergesetzt und plausibel dargelegt hat, dass die von der Gutachterin PD Dr. K. erfolgte Einteilung, dass die schädigenden Ereignisse mit Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der Somatisierungsstörung, der PTBS und der dissoziativen Bewegungsstörungen kausale Ursachen seien, nicht nachvollziehbar ist. Wie die Sachverständige E. in ihrem Gutachten herausgearbeitet hat, liegt eine „normale“ PTBS mit Sicherheit nicht vor, da hierfür die Symptome nicht ausreichend vorhanden sind und im Übrigen auch in der Begutachtung durch PD Dr. K. nicht ausreichend beschrieben worden sind. Entsprechend den nachvollziehbaren Darlegungen der Gutachterin E. hat Dr. K. auch nicht erklären können, wie die von ihr vorgenommene eindeutige Trennung zwischen der rezidivierenden depressiven Episode und einer komplexen PTBS, Somatisierung und dissoziativen Bewegungsstörungen im Sinne einer Entstehung zustande gekommen ist. Der Senat teilt die Einschätzung der Sachverständigen, dass die Einteilung von PD Dr. K. willkürlich ist, und folgt Ersterer, dass die komplexe PTBS sowohl durch die schädigungsbedingten als auch durch die nichtschädigungsbedingten Ursachen entstanden ist und dass eine daneben bestehende Somatisierungsstörung, eine dissoziative Bewegungsstörung sowie auch die depressive Symptomatik in dieses Störungsbild mit eingeht und deshalb keiner eigenen Diagnose bedarf. Mit der Sachverständigen E. geht der Senat ebenfalls davon aus, dass die Bestimmung des GdS durch PD Dr. K. sehr willkürlich erfolgt ist. Für die einzelnen Symptomkomplexe sind keine eigenen Störungsbilder zu benennen, da wie dargelegt die benannten Symptome in die komplexe PTBS mit eingehen. Entsprechend der plausiblen Einschätzung der Fachärztin E. ist auch der Ansatz mit einem GdB von 20 für den nicht schädigungsbedingten Vorschaden nicht nachvollziehbar.
(2) Unter Berücksichtigung der ab 16.05.1976 erfolgten Angriffe im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist kein GdS von mindestens 30 festzustellen. Dies folgt ebenfalls aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme.
Wie sich nach Auswertung aller vorliegenden Unterlagen, Angaben und vor allem der Sachverständigengutachten – besonders deutlich – ergibt, sind die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin multifaktoriell bedingt. Wie insbesondere die Sachverständige E. ausdrücklich dargelegt hat, ist es aufgrund der vielfältigen Ursachen „kaum möglich“, einzelne Ursachen der Entstehung den (einzelnen) psychiatrischen Gesundheitsstörungen zuzuordnen. Sowohl die als nicht schädigungsbedingt gewerteten Ursachen als auch die nach dem OEG zu berücksichtigenden tragen zur Entwicklung des heute vorliegenden Störungsbilds bei. Schließlich ist eine Aufteilung der Verursachungsbeiträge bzgl. des Zeitpunkts 15.05.1976 zumindest zusätzlich schwierig.
Der Senat schließt sich trotz deshalb bestehender Bedenken jedoch der – sicherlich nicht restriktiven – Auffassung der Sachverständigen E. an, dass unter Beachtung der o.g. Kausalitätskriterien zur Mitursächlichkeit ein gewisser Anteil der (komplexen) PTBS kausal (im Sinne der Verschlimmerung) auf die schädigenden Ereignisse zurückgeführt werden kann. Er sieht jedoch keinen Ansatzpunkt dafür, über die von der Sachverständigen angenommene GdS-Höhe von 20 noch hinauszugehen. Dies ergibt sich insbesondere auch aus der Zusammenschau mit dem Gutachten von Dr. P. und unter Berücksichtigung der bereits im Einzelnen dargelegten Einwände gegen das Gutachten von PD Dr. K..
Etwas anderes folgt auch nicht unter der Annahme, dass sich der Vorfall im Hausflur erst nach dem 16.05.1976 zugetragen haben könnte. Denn selbst unter Einbeziehung dieses Vorfalls, die die Sachverständige vorgenommen hat, ist kein höherer GdS (als 20) nachgewiesen. Zudem hat das SG zutreffend darauf hingewiesen, dass die Klägerin durch entschlossene und erfolgreiche Gegenwehr die Situation in größer Schnelligkeit bereinigen konnte. Schließlich ist dessen ungeachtet vor allem aber auch bereits wegen der Vielzahl der schädigenden Ereignisse die Kausalität (s. im Einzelnen oben) fraglich; die Beurteilung der Sachverständigen Dr. P., dass das Ereignis im Hausflur – gemeinsam mit den Schlägen der Lehrerin als einzige Vorfälle – vorübergehende starke Gefühle der Hilflosigkeit und Bedrohung auszulösen vermocht habe, erscheint aus Sicht des Senats im Hinblick auf die (auch nach den Angaben der Klägerin festzustellende) Kürze des Vorfalls nicht unangreifbar und stellt für sich allein noch keinen Beleg für einen wesentlichen Mitverursachungsbeitrag dar. Allein wegen dieses einen Ereignisses ist eine GdS-Erhöhung von 20 auf 30 nicht angezeigt.
Vor allem aber ist nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen, dass sich der Vorfall tatsächlich vor dem genannten Stichtag ereignet hat. Wie der Beklagte zutreffend dargelegt hat (s. die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 23.06.2016), hat die Klägerin zwar (im Rahmen der aussagepsychologischen Untersuchung durch die Dipl.-Psych. L. vom 30.11.2011) eindeutig berichtet, dass das Ereignis im Hausflur im Sommer stattgefunden habe, wobei sie damals zwölf oder zwölfeinhalb Jahre alt gewesen sei. Daher kommt als Tatzeitpunkt Sommer 1976 in Betracht. Ob die Tat jedoch vor oder nach dem 16.05.1976 geschehen ist, kann der Angabe der Klägerin unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin ihre Aussage mehr als 30 Jahre nach dem Ereignis getätigt hat, nicht sicher entnommen werden. Eine monatsgenaue Zuordnung dürfte retrospektiv, wovon auch der Beklagte ausgegangen ist, kaum möglich sein. Nachdem auch die Witterungsverhältnisse im Jahr 1976 als besonders heiß („Katastrophensommer“) zu kennzeichnen sind, ist es aus Sicht des Senats gut möglich, dass die von der Klägerin wohl erinnerten sommerlichen Temperaturverhältnisse bereits vor dem genannten Stichtag vorgelegen haben können, vgl. z.B. die sommerlichen Tage 08./09.05.1976 (Recherche z.B. bei www.kachelmann-wetter.com/de/messwerte/ bayern/tageshoechsttemperatur/19760510-0000z.htmlm, Messwerte und Klimadaten).
d) Im Übrigen ist der GdS auch nicht wegen besonderer beruflicher Betroffenheit der Klägerin zu erhöhen, § 30 Abs. 2 BVG.
Zwar wurde im Verfahren dargelegt, dass die Klägerin nicht mehr arbeiten könne. Auch ist eine Erhöhung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit im Rahmen des OEG grundsätzlich möglich (siehe Urteil des BSG vom 18.11.2015, a.a.O., m.w.N.). Die Schädigungsfolgen müssen auch nicht alleiniger Grund für die besondere berufliche Betroffenheit sein (vgl. z.B. Dau, in: Knickrehm, a.a.O. § 30 BVG, Rdnr. 16, m.w.N.). Der GdS ist auch höher zu bewerten, wenn der Betroffene in seinem Beruf erst durch das Zusammenwirken von Schädigungsfolgen mit anderen schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen besonders betroffen ist und hierfür die Schädigungsfolgen wesentlich und damit Ursache im Sinne der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm sind, weil sie neben anderen Ursachen annähernd gleichwertig zur besonderen beruflichen Betroffenheit beigetragen haben (vgl. die Urteile des BSG vom 18.05.2006 – B 9 a V 6/05 R – und vom 29.11.1973 – 10 RV 617/72).
Diese Voraussetzung ist vorliegend jedoch nicht gegeben. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist nicht im oben genannten Sinne wahrscheinlich, dass die Klägerin wegen der nach dem Stichtag erfolgten Angriffe beruflich besonders betroffen wäre. Im Einzelnen kann hierzu auf die Erwägungen hinsichtlich der Kausalität und der multifaktoriellen Verursachung der schwierigen (gesundheitlichen) Situation der Klägerin verwiesen werden.
Der Senat folgt auch hinsichtlich der Beurteilung der Kausalität bzgl. der besonderen beruflichen Betroffenheit der plausiblen Darlegung der Sachverständigen E., dass sowohl die als nicht schädigungsbedingt gewerteten Ursachen als auch die nach dem OEG berücksichtigten Ursachen gleichermaßen zur Entwicklung des heute vorliegenden Störungsbilds beitragen. Da aber für die vor dem Stichtag erfolgten Angriffe § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG auch hinsichtlich von § 30 Abs. 2 BVG gilt, kommt den daraufhin nur noch ab 16.05.1976 berücksichtigungsfähigen Angriffen keine wesentliche Mitursächlichkeit im o.g. Sinn zu, weil sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein eben nicht mindestens so viel Gewicht haben wie die übrigen Umstände zusammen (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 V 6/13 R).
Zu weiteren Ermittlungen besteht kein Anlass und erst recht keine verfahrensrechtliche Pflicht. Es ist nicht im Ansatz ersichtlich, dass mit weiteren Methoden, die nicht bereits von den anerkannten Sachverständigen Dr. P. und E. angewandt worden wären, einzelne Verursachungsbeiträge hinsichtlich der psychiatrischen Gesundheitsbeeinträchtigung der Klägerin „herausgerechnet“, d.h. ermittelt werden könnten.
Nach alledem ist die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


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