Sozialrecht

Anerkennung als Berufskrankheit

Aktenzeichen  S 5 U 150/17

Datum:
9.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 164285
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII § 9 Abs. 2

 

Leitsatz

Die beim Kläger bestehende Lendenwirbelsäulenerkrankung ist keine Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV. Für deren Anerkennung fehlt es am wesentlichen Ursachenzusammenhang der Erkrankung durch die berufliche Tätigkeit im Sinne des Vollbeweises. (Rn. 57) (redaktioneller Leitsatz)

Gründe

Das Gericht hat in der vorliegenden Streitsache nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden, da die Streitsache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 105 Abs. 1 SGG).
Die form- und fristgerecht beim zuständigen Sozialgericht Würzburg erhobene Klage ist insoweit unzulässig, als sich das Klagebegehren und der Klageantrag auf die Gewährung einer Verletztenrente richtet.
Insoweit fehlt es an einem vorher durchgeführten Verwaltungsverfahren, weil die Beklagte nicht konkret über einzelne Leistungen wie Verletztenrente entschieden hat, sodass es insoweit an der zur Statthaftigkeit einer Leistungsklage notwendigen vorherigen Verwaltungsentscheidung fehlt (BSG, Urteil vom 30.10.2007, B 2 U 4/06 R; vom 06.09.2005 B 2 U 28/06 R).
Die im Übrigen zulässige Klage erweist sich als unbegründet.
Das Gericht nimmt insoweit Bezug auf die zutreffende Begründung im Widerspruchsbescheid vom 23.05.2017 (§ 136 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Ergänzend gilt Folgendes:
Nach § 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII sind Versicherungsfälle neben Arbeitsunfällen auch Berufskrankheiten.
Berufskrankheiten sind gemäß § 9 Abs. 1 SGB VII Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII genannten Tätigkeiten erleidet.
In Ziffer 2108 der Anlage zur BKV hat die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.
Derartig allgemein als Berufskrankheit bezeichnete Erkrankungen sind als solche zu entschädigen, wenn sie durch eine versicherte Tätigkeit im Einzelfall verursacht oder verschlimmert worden sind. Voraussetzung für die Anerkennung im Einzelfall ist der Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Verrichtung einer versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper (Einwirkungskausalität) sowie zwischen der schädigenden Einwirkung und dem Gesundheitsschaden/Krankheit (haftungsbegründende Kausalität).
Das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale versicherte Tätigkeit, relevante schädigende berufliche Einwirkung und Körperschaden/Krankheit muss im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen sein. Ein solcher ist gegeben, wenn ein an Sicherheit grenzender Grad der Wahrscheinlichkeit vorliegt, so dass vernünftige Zweifel nicht bleiben. Es muss also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Überzeugung des Gerichtes feststehen, dass eine versicherte Tätigkeit, eine schädigende Einwirkung und ein Gesundheitsschaden vorliegen.
Der nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilende ursächliche Zusammenhang muss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein. Eine solche ist gegeben, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Fakten die für den Kausalzusammenhang sprechenden Tatsachen so stark überwiegen, dass sich darauf die richterliche Überzeugung stützen kann (BSG, Urteil vom 02.04.2009, B 2 U 9/08 R).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe erweist sich der Bescheid vom 17.02.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.05.2017 als richtig.
Die Einwirkungskausalität ist im vorliegenden Fall bezüglich der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 der BKV gemäß den Feststellungen des Präventionsdienstes der Beklagten gegeben.
Das Gericht legt für die Beurteilung der Streitsache die amtlichen Merkblätter zur BK Nr. 2108 (Bek des BMAS vom 01.09.2006, BArbBl 10/2006, S. 30) sowie die Medizinischen Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule (Konsensempfehlungen, Trauma und Berufskrankheit 3/2005 S. 211 ff.; 4/2005 S. 320 ff.) und den BK-Report 2/03 als derzeit aktuelle medizinisch-wissenschaftliche Grundlage zugrunde.
Nach diesen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen sind folgende Kriterien bei der Prüfung der beruflich bedingten Verursachung von Bandscheibenschäden zu berücksichtigen:
1. Die Erfüllung der beruflichen Belastung.
2. Die Objektivierung einer altersuntypischen bandscheibenbedingten Erkrankung.
3. Die Objektivierung eines belastungskonformen Schadensbildes.
4. Das Fehlen relevanter schicksalhafter Krankheitsursachen oder konkurrierender Verursachungsmöglichkeiten statischer, entzündlicher oder anlagebedingter Genese .
5. Eine plausible zeitliche Korrelation zwischen Exposition und der Entwicklung des Schadensbildes.
Eine bandscheibenbedingte Erkrankung im Sinne der BK Nr. 2108 bis 2110 ist definitionsgemäß eine Erkrankung der Wirbelsäule, die in ursächlicher Wechselbeziehung einer Bandscheibenschädigung steht, bei Vorliegen eines chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerdebildes mit entsprechendem morphologischem Substrat und Funktionseinschränkungen (bestätigt durch BSG, Urteil vom 31.05.2005, B 2/U 12/04 R, s. auch Merkblatt zur BK 2108 a. a. O.; Mehrtens/Brandenburg, Die BerufskrankheitenVerordnung (BKV) M 2108 S. 21 ff.):
Lokales Lumbalsyndrom;
mono- und/oder polyradikuläres lumbales Wurzelreizsyndrom;
Kaudasyndrom (s. amtl. Merkblatt)
Lokales Lumbalsyndrom; lumbales Wurzelsyndrom (Konsensempfehlungen S. 216)
Morphologisch: Altersuntypische Höhenminderung des Bandscheibenraumes, Verschmälerung des Zwischenwirbelraumes;
Verdichtung der Deck- und Grundplatten der Wirbelkörper (Osteochondrose);
Veränderungen der kleinen Wirbelgelenke (Spondylose) können auf bandscheibenbedingte Bandscheibenerkrankungen hinweisen (amtl. Merkblatt);
daneben sind als bildgebende Befunde zu beachten: Bandscheibenprotrusion und -prolaps oder Bandscheibenprolaps oder Chondrose mit Bandscheibenverschmälerung mit Nervenwurzelbedrängung ggf. i.V. m. Retrospondylose, Spondylarthrose, Foramenstenose und/oder Spinalkanalstenose (im Ausnahmefall bei engem Spinalkanal auch Bandscheibenprotrusion mit Zeichen einer Reizung oder Schädigung der Nervenwurzeln).
Kriterien für einen entsprechenden korrespondierenden klinischen Befund sind:
Symptom: Schmerz durch Bewegung
Klinik: Segmentbefund mit provozierbarem Schmerz im radiologisch auffälligen Segment (Höhenminderung des Bandscheibenraumes, Sklerose, Spondylose, dorsale Spondylophyten, Spondylarthrose, Gefügelockerung), wobei der radiologische Befund über die Schwankungsbreite des altersentsprechenden Befundes hinausgehend = altersuntypisch sein muss.
Funktionell: Entfaltungsstörung der Wirbelsäule
Neurologisch: Zeichen einer Nervenwurzelreizung im betroffenen Segment.
Eine Objektivierung eines belastungskonformen Schadensbildes ist gemäß den Konsensempfehlungen auf S. 212 beschrieben durch den Vergleich der Veränderungen zwischen Beschäftigten mit hoher Wirbelsäulenbelastung und der Normalbevölkerung hinsichtlich folgender Kriterien (s. auch Mehrtens/Brandenburg M 2108 S. 42-44):
a) Lebensalter beim Auftreten der Schädigung
b) Ausprägungsgrad in einem bestimmten Alter = alterstypische/altersuntypische Veränderung insbesondere der Bandscheiben, wobei diese beiden Kriterien schon als Voraussetzung für eine bandscheibenbedingte Erkrankung vorliegen müssen
c) Verteilungsmuster der Bandscheibenschäden an der Lendenwirbelsäule z. B. Betonung an den unteren Bandscheibensegmenten (Konsensempfehlungen S. 216); Vorliegen einer Begleitspondylose außerhalb der betroffenen unteren Bandscheibensegmente (Konsensempfehlungen S. 212, 214, 216, 217)
Dieses Verteilungsmuster entspricht auch dem von W. angegebenen Schadensbild (Zunahme der degenerativen Veränderungen) an den Bandscheiben vom Sprungsegment L3/L4 distal im Sinne einer Osteochondrose und Zunahme der degenerativen Verschleißerscheinungen an den Wirbelkörpern vom Sprungsegment L3/L4 cranial im Sinne einer Spondylose.
Für eine positive Indizwirkung muss die Begleitspondylose über das Altersmaß hinausgehen (altersuntypisch sein) und mindestens zwei Segmente in der Regel oberhalb des Bandscheibenschadens betreffen
d) Lokalisationsunterschiede zwischen biomechanisch hoch und mäßig belasteten Wirbelsäulenabschnitten bei gleichen Personen (Konsensempfehlungen S. 214) z. B. gleichzeitiges Auftreten von degenerativen Verschleißerscheinungen an belastungsfernen Wirbelsäulenabschnitten (z. B. HWS) spricht gegen einen Ursachenzusammenhang Aussparung der beiden unteren Segmente spricht gegen einen Ursachenzusammenhang (Konsensempfehlungen S. 216).
Nach Prüfung dieser Gesichtspunkte ist anhand bestimmter Kriterien (Konsensempfehlungen S. 216, 217) abzuwägen, ob der wesentliche Ursachenzusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und dem Gesundheitsschaden gegeben ist.
Diese Abwägungskriterien beziehen sich auf (Konsensempfehlungen S. 216):
Die Lokalisation des morphologischen Schadensbildes, den Degenerationszustand der gesamten Wirbelsäule, das Vorhandensein einer Begleitspondylose als Positivkriterium, Art und Ausprägung prädispositioneller Faktoren sowie ggf. die spezielle Ausprägung der beruflichen Exposition (z. B. durch sog. Spitzenbelastungen).
Selbst wenn man der Auffassung der Beklagten nicht folgen würde, dass eine Bandscheibenschädigung an der Halswirbelsäule, die stärker ausgeprägt ist als an der Lendenwirbelsäule und mit einer klinischen Erkrankung einhergeht, nicht gegen einen wesentlichen Ursachenzusammenhang der Erkrankung durch die berufliche Tätigkeit sprechen würde, so fehlt es im vorliegenden Fall schon an dem Nachweis des Vorliegens einer bandscheibenbedingten Erkrankung im oben bezeichneten Sinne im Sinne des Vollbeweises.
Für den Nachweis einer bandscheibenbedingten Erkrankung im Sinne der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV genügt nicht das Vorliegen des radiologischen Bildes einer bandscheibenbedingten Erkrankung im Sinne es eines Bandscheibenvorfalles, einer altersuntypischen Bandscheibenprotrusion und/oder einer altersuntypischen Chondrose sondern es muss nach Konsensempfehlungen eine korrelierende klinische Symptomatik hinzukommen.
Diese äußert sich in einer Gefügelockerung und Schmerzprovokation im gleichen Segment entsprechend dem klinischen Befund, einer Funktionsstörung des entsprechenden Wirbelsäulenabschnittes sowie dem entsprechenden Segment zuzuordnenden Nervenwurzelreizungen oder Nervenwurzelfunktionsausfällen.
Unter Berücksichtigung der im Rahmen der Gutachten Dr. A vom 25.09.2014 und Prof. Dr. C vom 14.09.2015 erhobenen Befunde ist eine dem bildgebenden Befund korrelierende Symptomatik nicht nachgewiesen. Im Rahmen der gutachtlichen Untersuchung durch Dr. A zeigte sich ein Druckschmerz und Klopfschmerz über der unteren Lendenwirbelsäule, Brust- und Halswirbelsäule und dem hinteren Beckenkamm, sodass eine entsprechende Schmerzprovokation der betroffenen Lendenwirbelsäulensegmente L3 bis S1 nicht gegen die übrigen Abschnitte der Lendenwirbelsäule und auch nicht gegen die übrigen Abschnitte der Brust- und Halswirbelsäule abgrenzbar war.
Ebenso wenig zeigten sich in Segmenten L3 bis S1 zuzuordnende Nervenwurzelreizungen oder Nervenwurzelfunktionsausfälle.
Im Rahmen der gutachtlichen Untersuchung Prof. Dr. C wurde zwar ein Druckschmerz im Bereich der Lendenwirbelsäule bei L3 bis L5 beschrieben und eine entsprechende Schmerzsymptomatik im Bereich der Halswirbelsäule und Brustwirbelsäule verneint, jedoch ergaben sich im Rahmen der dortigen Untersuchung ebenso wenig Hinweise für den geschädigten Wirbelsäulensegmenten zuzuordnende Nervenwurzelreizungen oder Nervenwurzelfunktionsausfällen.
Auch pseudoradikuläre Schmerzausstrahlungen (in die Oberschenkelmuskulatur) wurden weder im Rahmen der gutachtlichen Untersuchung durch Dr. A noch durch Prof. Dr. C festgestellt, sodass die Ausführungen Prof. Dr. C´s in seinem Gutachten vom 14.09.2015, dass ein lokales Lumbalsyndrom im Sinne der Konsensempfehlungen beim Kläger gegeben ist, nicht bestätigt werden können.
Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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