Aktenzeichen S 6 AS 1284/15
Leitsatz
Der wesentliche Zweck der Ausnahmeregelung des § 11 Abs. 3 S. 2 SGB II besteht in der Verwaltungsvereinfachung bei der Berücksichtigung von Einkommen. In all den Fällen, in denen der Zufluss einer Einnahme der Verwaltung erst zu einem Zeitpunkt bekannt wird, zu dem eine Berücksichtigung für den Folgemonat nicht mehr möglich ist, verbleibt es bei den allgemein gültigen Regelungen, insbesondere dem Zuflussprinzip, und der Rückabwicklung durch Rücknahme- bzw Aufhebungsbescheid. (Rn. 29 – 36) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Notwendige außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
III. Die Berufung wird zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht gem. §§ 90, 92, § 87 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum sachlich und örtlich nach § 51 Abs. 1 Nr. 4a, § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG zuständigen Sozialgericht Nürnberg erhobene Anfechtungsklage, § 54 Abs. 1Satz 1 Alt. 1 SGG, ist zulässig.
Es fehlt der Klage auch nicht deswegen an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis, weil es, wie der Beklagte zutreffend festgestellt hat, bezogen auf den gesamten Bewilligungszeitraum Oktober 2014 bis März 2015 keinen Unterschied macht, ob die Anrechnung von Weihnachtsgeld im November oder Dezember 2014 erfolgt ist. Denn darauf kommt es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid nicht an.
In der Sache erweist sich die Klage jedoch als unbegründet.
Zu Recht hat der Beklagte die ihm nachträglich bekannt gewordene Zahlung von Weihnachtsgeld an die Klägerin zu 1) im Monat November 2014 berücksichtigt und den ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom 23.12.2013 entsprechend korrigiert. Der angefochtene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 20.01.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.02.2015 ist daher rechtmäßig und verletzt die Klägerinnen nicht in ihren Rechten, § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
Unbestritten und zutreffend ist, dass das Weihnachtsgeld in Höhe von 446,48 EUR in einem Monat sowohl die eigene Hilfebedürftigkeit der Klägerin zu 1), als auch die der mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebende Klägerin zu 2), nicht zum vollständigen Wegfall gebracht, wohl aber verringert hat, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 Abs. 1 u Abs. 2 Satz 2 SGB II. Als einmaliges Einkommen i.S.v. § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II, welches nicht nach § 11 Abs. 3 Satz 3 SGB II a.F. (in der ab 01.04.2011 geltenden Fassung, nachstehend als a.F. bezeichnet; ab 01.08.2016: § 11 Abs. 3 Satz 4 SGB II) auf einen Zeitraum von sechs Monaten gleichmäßig aufzuteilen ist, würde dieses Geld nach § 11 Abs. 3 Satz 1 SGB II grundsätzlich ihren Leistungsanspruch in dem Monat herabsetzen, in dem es zugeflossen ist, also vom ihnen zur Deckung ihres Lebensunterhalts hätte verwendet werden können (s. Schmidt in Eicher, Komm. zum SGB II, 3. Aufl. 2013, § 11 Rn. 35). Ausgehend vom tatsächlichen Zufluss wäre dies der November 2014 gewesen, da laut vorgelegtem Bankauszug das Weihnachtsgeld dem Konto der Klägerin zu 1) am 27.11.2014 gutgeschrieben wurde.
In bestimmten Fällen ist jedoch abweichend von dieser „reinen Zuflusstheorie“ die Anrechnung für einen anderen Zeitraum vorgesehen (s. zur sog „modifizierten Zuflusstheorie“ zuletzt BSG v. 10.08.2016 – B 14 AS 51/15 R).
So sind etwa nach der Vorschrift des § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II a.F. einmalige Einnahmen erst in dem auf den Zufluss folgenden Monat zu berücksichtigen, wenn der Leistungsträger im eigentlichen Zuflussmonat bereits Leistungen erbracht hat.
Es handelt sich dabei nicht etwa um die Fiktion eines späteren Einkommenszuflusses, sondern um eine Bestimmung, auf welchen Leistungszeitraum ein tatsächlich bereits zugeflossener Betrag anzurechnen ist.
Sinn und Zweck dieser Regelung besteht darin Verwaltungsaufwand zu vermeiden, der andernfalls durch eine Vielzahl notwendiger Aufhebungs- und Rücknahmeverfahren sowie weiterer, der damit möglicherweise verbundener Erstattungsstreitigkeiten, entstehen würde (s. Schmidt in Eicher, Komm. zum SGB II, 3. Aufl. 2013, § 11 Rn. 36; Striebinger in Gagel, Komm. zum SGB II/SGB III, 62. EG Juni 2016, § 11 SGB II, Rn. 43).
Denn Leistungen der Grundsicherung sollen wegen ihrer bedarfsdeckenden Funktion monatlich im Voraus erbrachten werden, § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II a.F. (in der ab 01.04.2011 geltenden Fassung, nachstehend als a.F. bezeichnet; ab 01.08.2016: § 42 Abs. 1 SGB II). Im Zeitpunkt der Leistungserbringung steht somit für den Grundsicherungsträger regelmäßig nicht fest, ob – und ggf. in welcher Höhe – in dem Monat, für den er die Leistung erbringt, dem Hilfebedürftigen Einkommen zufließen wird.
Folglich müsste er entweder alle Bewilligungsbescheide grundsätzlich für vorläufig erklären, um so rückwirkend einen möglicherweise eingetretenen Einkommenszufluss im Rahmen einer dann stets noch zu treffenden endgültigen Entscheidung berücksichtigen zu können oder er müsste die bereits erbrachten Leistungen durch den Erlass von Aufhebungsbescheiden ganz bzw. teilweise nachträglich korrigieren. Darüber hinaus wären die ggf. zu Unrecht gewährten Leistungen sodann zurückzufordern und Erstattungsansprüche notfalls im Wege der Verwaltungsvollstreckung durchzusetzen.
Der Gesetzgeber hat dieses unerwünschte Ergebnis dadurch verhindert, indem er nachträglich bekannt gewordenes Einkommen erst im Folgemonat zur Anrechnung kommen lässt, also für einen Zeitraum, für den noch keine Leistungen ausbezahlt wurden.
Damit erspart er dem Leistungsträger nicht nur zusätzliche Verwaltungsverfahren, sondern eröffnet ihm auch die Möglichkeit, den überzahlten Betrag – ähnlich wie bei einer Aufrechnung – direkt einbehalten zu können.
Der Normzweck des § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II a.F. kann aber dann nicht mehr erfüllt werden, wenn der Leistungsträger die Leistungen auch für den darauf folgenden Monat bereits erbracht hat.
Da es bei diesem Sachverhalt ohnehin einer Aufhebung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides sowie der Rückforderung zu viel gewährter Leistungen bedarf, führt die Verschiebung des Anrechnungszeitraums auf den Folgemonat nicht mehr zu dem angestrebten Ziel einer Verwaltungsvereinfachung.
Somit ist aber der Anlass für ein Abweichen vom dem für die Einkommensberücksichtigung geltenden Zuflussprinzip entfallen.
Zudem verlangt die Absicht der Grundsicherung nach SGB II, eine gegenwärtig vorhandene Hilfebedürftigkeit zu beseitigen, eine direkte Gegenüberstellung von aktuellem Bedarf und tatsächlich vorhandenem Einkommen. Ein grundloses Abgehen von dieser Forderung ist daher nicht gerechtfertigt.
Es verbleibt daher in diesen Fällen beim Grundsatz der Einkommensberücksichtigung im Zuflussmonat nach § 11 Abs. 3 Satz 1 SGB II, (LSG Baden-Württemberg v. 25.06.2014 – L 2 AS 2373/13; SG Konstanz v. 16.04.2013 – S 11 AS 2587/12).
Die entscheidende Kammer verkennt allerdings nicht, dass sich die Klägerinnen hinsichtlich ihrer Auffassung, wonach auch in der hier vorliegenden Fallkonstellation eine Einkommensanrechnung im Folgemonat, mithin also im Dezember 2014, vorzunehmen wäre, auf den eindeutigen Gesetzeswortlaut berufen können (s.a. LSG Niedersachsen-Bremen v. 09.02.2015 – L 11 AS 1352/14 B ER).
Es ist ihnen aber entgegenzuhalten, dass wesensgemäß abstrakt formulierte Rechtsvorschriften grundsätzlich einer Auslegung zugänglich sind. Dies gilt umso mehr, wenn es sich, wie etwa bei der Regelung des § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II, um eine Ausnahmevorschrift handelt (s. LSG Baden-Württemberg v. 25.06.2014 – L 2 AS 2373/13).
Ausgehend von der oben näher beschriebenen Bestimmung des § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II a.F. und den Prinzipien der Grundsicherung nach dem SGB II hält es das Gericht daher für zwingend geboten, den Anwendungsbereich dieser Norm teleologisch auf die Fälle zu beschränken, in denen der Zufluss einer einmaligen Einnahme dem Leistungsträger im Folgemonat bekannt wird und von ihm noch bei Auszahlung der in diesem Monat zu gewährenden Leistungen berücksichtigt werden kann (s.a. SG Konstanz v. 16.04.2013 – S 11 AS 2587/12, das für dieses Auslegungsergebnis auch systematische und historische Aspekte anführt; grds. zur teleologischen Auslegung s. u.a. BSG v. 23.06.2016 – B 14 AS 4/15 R).
Nachdem der Beklagte die für den Monat Dezember zu gewährenden Leistungen zum Zeitpunkt der Kenntnis des im November überwiesenen Weihnachtsgeldes bereits ausgezahlt hatte, war das Geld also im November 2014 – dem Zuflussmonat – als Einkommen der Klägerinnen bedarfsmindernd auf die ihnen zu gewährenden Leistungen anzurechnen, und nicht später gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II im Monat Dezember 2014.
Folgerichtig hat der Beklagte deshalb die für den November 2014 zu gewährenden Leistungen neu berechnet und dabei zusätzlich zu dem Eltern- und dem Kindergeld auch das Weihnachtsgeld der Klägerin zu 1) in Höhe von 446,48 EUR als Einkommens der Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt.
Entsprechend der geänderten Bedarfslage errechnet sich daher für die Klägerin zu 1) ein auf 159,66 EUR und für die Klägerin zu 2) ein auf 66,77 EUR reduzierter Leistungsbetrag.
Nicht zu beanstanden ist, deshalb, dass der Beklagte den ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom 23.10.2014 gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) durch den streitgegenständlichen Bescheid vom 20.01.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.02.2015 insoweit teilweise aufgehoben und die für November 2014 von ihm unrechtmäßig gezahlten Leistungen in Höhe von 216,60 EUR (308,25 EUR./.159,66 EUR) bzw. 90,59 EUR (157,26 EUR./. 66,77 EUR) nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 50 SGB X zurückgefordert hat.
Im Ergebnis konnte die Klage daher keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Da die Berufungssumme des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG von 750,00 EUR vorliegend nicht erreicht wird, hatte die Kammer auch über die Zulassung der Berufung zu entscheiden.
Die in vorliegendem Rechtsstreit entscheidungserhebliche Frage, für welchen Zeitraum einmaliges Einkommens zu berücksichtigen sei, wenn der Leistungsträger erst im Folgemonat des Zuflusses Kenntnis davon erhält und zu diesem Zeitpunkt auch die Leistungen für den Folgemonat schon erbracht hat, ist bislang vom BSG noch nicht entschieden worden, insbesondere deshalb, weil es in dem unter dem Az.: B 4 AS 32/14 R geführten Verfahren letztlich nicht mehr darauf ankam.
In der obergerichtlichen Rechtsprechung werden zu dieser Problematik kontroverse Auffassungen vertreten (s. LSG Baden-Württemberg v. 25.06.2014 – L 2 AS 2373/13 einerseits und LSG Niedersachsen-Bremen v. 09.02.2015 – L 11 AS 1352/14 B ER andererseits).
Ihre Klärung liegt daher im allgemeinen Interesse.
Das erkennende Gericht hat dem vorliegenden Rechtsstreit folglich grundsätzliche Bedeutung beigemessen, und daher die Berufung nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.