Aktenzeichen L 19 R 747/14
SGB VI § 43 Abs. 1, Abs. 2 S. 2, Abs. 3, § 240 Abs. 1 Nr. 1
Leitsatz
1. Zu den Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente.
2. Zur Einsatzfähigkeit eines Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 16 R 374/12 2013-11-13 GeB SGBAYREUTH SG Bayreuth
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 13.11.2013 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht Bayreuth hat zu Recht entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Weitergewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung über August 2008 hinaus hat. Auch sonst besteht keine Verpflichtung der Beklagten zur Rentengewährung an den Kläger.
Ein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung setzt nach § 43 Abs. 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) voraus, dass ein Versicherter voll erwerbsgemindert ist, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit aufzuweisen hat und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt hat.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gelten, hat der Kläger bei vorherigem Rentenbezug im Anschluss daran unproblematisch erfüllt. Durch die Pflichtbeitragszeiten aus Schadensersatz und den Bezug von Leistungen nach dem SGB II und damit verbundener Arbeitslosigkeit bzw. zeitweiser Arbeitsunfähigkeit wären diese Voraussetzungen im Übrigen für einen evtl. später erneut eingetretenen medizinischen Leistungsfall derzeit ebenfalls unproblematisch erfüllt.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ergänzend führt § 43 Abs. 3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Auch bei einem Weitergewährungsantrag ist die Erfüllung der Rentenvoraussetzungen zum jeweiligen Zeitpunkt des erneut geltend gemachten Anspruches unmittelbar zu prüfen und nicht nur ein Vergleich zur Periode der Rentengewährung vorzunehmen, ob demgegenüber eine Besserung eingetreten ist oder nicht. Insofern sind also zunächst die rechtlichen Gegebenheiten ab Anfang September 2008 bedeutsam. Sämtliche ärztliche Sachverständige – insbesondere auch speziell für das neurologisch-algesiologische Fachgebiet die Gutachterin Dr. C. – sind sich darin einig, dass die Gesundheitsstörungen des Klägers im hier streitigen Zeitraum ab September 2008 nicht so schwerwiegend waren, dass sie bei Beachtung der eingeschränkten Arbeitsbedingungen eine quantitative Reduzierung der üblichen Arbeitszeit von mindestens 6 Stunden täglich erfordern würden. Die vom Hausarzt Dr. D. geäußerte gegenteilige Auffassung ist nicht näher begründet und nicht aus den Befunden hergeleitet. Ihr kann zur Überzeugung des Senats nicht gefolgt werden.
Der Senat hat aus den ärztlichen Feststellungen vielmehr die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger ab September 2008 im genannten zeitlichen Rahmen leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten kann und auch in der Lage ist, zu entsprechenden Arbeitsplätzen zu gelangen. Hinsichtlich der Arbeitsbedingungen kommen Tätigkeiten im Freien und unter ungünstigen Umgebungsbedingungen nicht in Betracht. Auch längeres und dauerndes Stehen und Gehen, erhöhte Unfallgefährdungen, übermäßige nervliche Belastungen, längere Überkopfarbeiten, Zwangshaltungen, häufiges Bücken und häufiges Treppensteigen sind zu vermeiden. Schließlich ist auch die Konfrontation mit Alkohol und Nikotin am Arbeitsplatz auszuschließen.
Ein Anspruch des Klägers auf eine volle Erwerbsminderungsrente ab September 2008 kann auch nicht anderweitig begründet werden. Zwar könnte eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zusätzlich auch dann in Betracht kommen, wenn zwar keine quantitative Einschränkung besteht, jedoch die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Ausnahmefall (sog. Katalogfall) vorliegen würden. Für die Ermittlung, ob ein solcher Ausnahmefall besteht, ist nach dem BSG (Urt. v. 09.05.2012, B 5 R 68/11 R – zitiert nach juris) mehrschrittig vorzugehen. Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen kommen, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen und, falls eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, wäre im dritten Schritt von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären. Für den Senat ergeben sich – zumindest solange die Auswirkungen der Alkoholerkrankung nicht fortschreiten – keine durchgreifenden Zweifel an der Einsatzfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, da sein Restleistungsvermögen etwa Reinigungsarbeiten sowie das Sortieren, das Zureichen oder Verpacken leichter Gegenstände zulässt. Beim Kläger ist zur Überzeugung des Senats auch die sogenannte Wegefähigkeit, d.h. die Möglichkeit zu einem Arbeitsplatz zu gelangen, zu bejahen, da er nach den ärztlichen Feststellungen im September 2008 öffentliche Verkehrsmittel nutzen konnte und die Wege zu und von den Haltestellen innerhalb üblicher Zeit zu Fuß zurücklegen konnte.
Dementsprechend lässt sich beim Kläger ab September 2008 weder das Vorliegen von voller, noch von teilweiser Erwerbsminderung – wie hilfsweise geltend gemacht – überzeugend belegen und es besteht kein Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI.
Ein Antrag auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ist nicht gestellt worden. Der Kläger hätte auch keinen Anspruch darauf. Zwar ist auf Grund seines Geburtsjahrganges eine grundsätzliche Möglichkeit zu bejahen, dass er zu dem von § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI erfassten Personenkreis gehören könnte. Da er aber keine höher qualifizierte Tätigkeit ausgeübt hatte und damit grundsätzlich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar ist (vgl. Gürtner in Kasseler Kommentar, Stand August 2012, § 240 SGB VI, Rn. 101 – 114), ergibt sich keine Berufsunfähigkeit. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, auf den er verweisbar ist, ist der Kläger nach der oben beschriebenen Beurteilung des Senats bei Beachtung der Anforderungen an die Arbeitsbedingungen ohne zeitliche Einschränkung einsatzfähig.
Auch in der Folgezeit nach September 2008 ist beim Kläger nach der Gutachtenslage eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens an geeigneten Arbeitsplätzen des allgemeinen Arbeitsmarktes auf weniger als 3 Stunden täglich – also volle Erwerbsminderung – oder weniger als 6 Stunden – also teilweise Erwerbsminderung – zur Überzeugung des Senats nicht gegeben; allenfalls lag und liegt zeitweilig Arbeitsunfähigkeit vor, die aber gerade noch nicht eine dauerhafte Erwerbsminderung darstellt. Auch hinsichtlich der zumutbaren Arbeitsbedingungen waren in dem Zeitraum nach September 2008 keine wesentlichen Änderungen dokumentiert, so dass die Ausführungen zur Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im September 2008 (vgl. oben) in gleicher Weise für den sich anschließenden Zeitraum gelten. Insofern war auch der weitere Hilfsantrag des Klägers auf eine erneute Rentengewährung zu einem späteren Zeitpunkt nicht begründet.
Zur Überzeugung waren keine weiteren Ermittlungen erforderlich sind. Die beim Kläger aktuell vorliegende Behandlung betrifft eine bekannte und im Verfahren gewürdigte Gesundheitsstörung (Gonarthrose), wobei nach Abschluss der Rekonvaleszenz eine Besserung gegenüber der zuvor bestehenden Einschränkungen angestrebt ist. Anhaltspunkte für eine im Rahmen der Behandlung neu eingetretene weitergehende Schädigung sind nicht vorgetragen und nicht ersichtlich.
Der Senat sah sich nicht gehalten, den Rechtsstreit zu vertagen. Allein die Anregung auf eine Zeugeneinvernahme reicht nicht aus. Dieser Anregung war auch inhaltlich nicht nachzukommen, da noch nicht einmal in Ansatzpunkten erkennbar geworden ist, zu welchem Beweisthema die Vermieterin des Klägers als Zeugin gehört werden solle.
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten und die hierzu ergangene erstinstanzliche Entscheidung sind somit im Ergebnis insgesamt nicht zu beanstanden und die Berufung ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.