Sozialrecht

Anspruch auf Landesblindengeld

Aktenzeichen  S 11 BL 18/18

Datum:
4.12.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 42461
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BayBlindG Art. 1

 

Leitsatz

Zum erforderlichen Umfang der Taubheit zur Gewährung von Taubblindengeld. (Rn. 18 – 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 06.04.2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2018 verurteilt, dem Kläger ab 18.10.2018 Taubblindengeld zu gewähren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Beklagte erstattet dem Kläger 3/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten.

Gründe

Das Sozialgericht München ist sachlich und örtlich zuständig. Die form- (§ 90 SGG) und fristgerecht (§ 87 SGG) erhobene Klage ist zulässig.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung von Taubblindengeld.
Mit Bescheid vom 16.02.2018 war der Anspruch des Klägers auf Zahlung von Blindengeld anerkannt worden.
Taubblind i.S. des Art. 1 BayBlindG ist ein blinder Mensch mit vollständigem Hörverlust oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit. Eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit liegt bei einem Hörverlust von mindestens 80 v.H. (Artikel 1 Abs. 3 BayBlindG) vor.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und nach Einvernahme des Klägers in der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass beim Kläger eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit mit einem Hörverlust von 80 v.H. vorliegt und damit ein Anspruch auf Gewährung von Taubblindengeld besteht.
Der Sachverständige, Privatdozent Dr. E., der den Kläger am 18.10.2018 untersucht hat, führt in seinem Gutachten vom 18.01.2018 aus, dass entsprechend der Tabelle zur Ermittlung des prozentualen Hörverlustes nach Boenninghaus und Röser von 1973 ein prozentualer Hörverlust von 80% für das rechte und das linke Ohr und damit eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit vorliegt. Hierzu ist festzustellen, dass das Gutachten Dr. E. das einzige Gutachten ist, das de lege artis erstellt wurde. Wie auch der Beklagte in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 08.08.2019 feststellt, wurde das Sprachaudiogramm vom 23.04.2018 durch den behandelnden Arzt Dr. D. nicht de lege artis durchgeführt, da die Werte bei 60 dB und 100 dB nicht gemessen wurden. Bezüglich des bei Dr. E. erhobenen Tonaudiogramms korrelieren die Ergebnisse sehr deutlich mit dem Tonaudiogramm von Dr. D. vom 23.04.2018. Der durchschnittliche Hörverlust aus den Werten 250 Hertz, 500 Hertz und 1 Kilohertz aus dem Tonaudiogramm rechts ergibt 61 dB und links 56 dB. Das Ergebnis korreliert deutlich mit dem Hörverlust für Zahlen im Sprachaudiogramm von 55 dB. Eine Aggravation sieht der Sachverständige als sehr unwahrscheinlich an, da es außergewöhnlich schwierig ist, wiederholt den Hörverlust im Tonaudiogramm mit einem Hörverlust für Zahlen im Sprachaudiogramm zu korrelieren. Das einfache Gesamtwortverstehen für Einsilber beträgt rechts 85 und links 130. Aus der Tabelle Boenninghaus und Röser von 1973 ergibt sich damit ein prozentualer Hörverlust von 80% für das rechte und das linke Ohr.
Auch die Sozialmedizinerin Dr. H. stellte in ihrer Stellungnahme vom 20.03.2019 für den Beklagten fest, dass das Tonaudiogramm vom 23.04.2018 sehr deutlich mit dem gutachterlich erhobenen Tonaudiogramm korreliert. Das beim Kläger wohl vorliegende Usher-Syndrom 2 sei gekennzeichnet durch eine angeborene unterschiedlich ausgeprägte Schwerhörigkeit, die sich nicht verstärken würde. Hier sei davon auszugehen, dass beim Kläger eine seit Geburt unveränderte hochgradige Schwerhörigkeit vorliegt. Hierzu hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, dass sein Hörvermögen schleichend, insbesondere in den letzten zwei bis drei Jahren, wesentlich schlechter geworden ist. Das berichtet der Kläger auch bei der Antragstellung bezüglich der Schwerbehinderung im Mai 2017. Im Rahmen des Antrages auf Schwerbehinderung wurde der Kläger im Übrigen im Bescheid vom 14.02.2018 vom Beklagten darauf aufmerksam gemacht, einen Antrag auf Gewährung von Taubblindengeld zu stellen, da sich bei der Begutachtung vom 24.01.2018 Hinweise auf eine hochgradige Hörminderung ergeben hätten. Es kann damit nicht davon ausgegangen werden, dass die Schwerhörigkeit im selben Maße seit Geburt vorliegt. Im Sprachaudiogramm vom 23.04.2018 ist das Einsilbenverständnis bei 60 und 100 dB nicht gemessen worden. Hinsichtlich des tonaudiografischen Ergebnisses bei dieser Untersuchung vom 23.04.2018 ist festzustellen, dass das tonaudiometrische Ergebnis mit dem erhobenen Tonaudiogramm durch Dr. E. sehr deutlich korreliert, was auch in der Stellungnahme des Beklagten vom 20.03.2019 festgestellt wird. Bei der Untersuchung durch Dr. E. wurde im Sprachaudiogramm ein Hörverlust von 80% festgestellt. Bei der Untersuchung Dr. E. beträgt das einfache Gesamtverstehen für Einsilber rechts 85 und links 135, sodass sich daraus ein prozentualer Hörverlust von 80% und damit eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits ergibt. Der Sachverständige führt aus, dass der durchschnittliche Hörverlust im Tonaudiogramm deutlich mit dem Hörverlust für Zahlen im Sprachaudiogramm korreliert und eine Aggravation sehr unwahrscheinlich ist. Des Weiteren ist für das Gericht nachvollziehbar, dass bei der Berechnung des prozentualen Hörverlustes im Sprachaudiogramm minimale Abweichungen zu einer deutlichen Änderung des prozentualen Hörverlustes von 5 bis 10 Prozent führen. Der Kläger hat hierzu auch mitgeteilt, dass im Sprachaudiogramm verwendete Wörter, wie „Maus“, „Haus“ von ihm immer schwerer zu verstehen sind. Der Sachverständige Dr. E. führt nachvollziehbar aus, dass auch eine geringe altersbedingte Verschlechterung sich prozentual im Hörverlust bemerkbar machen kann. Die Ausführungen des HNO-Arztes Dr. G. in seiner Stellungnahem vom 17.11.2019 nach Aktenlage für den Beklagten konnten das Gericht nicht überzeugen. Dr. G. führt aus, dass im Sprachaudiogramm vom 18.10.2018 (Dr. E.) der Abstand zwischen der Kurve der Verstehensquote der Zahlwörter und der Verstehensquote der einsilbigen Wörter sehr gering sei. Im Normalfall sei hier ein größerer Abstand zu fordern. Des Weiteren führt Dr. G. aus, ein so geringer Abstand beruhe in der Regel auf ungenauen Angaben, Konzentrationsstörungen oder Fehlmessungen. Da die Verstehensquote der einsilbigen Worte mit der Voruntersuchung übereinstimme, spreche mehr dafür, dass die Verstehensquote der Zahlwörter im Sprachaudiogramm vom 18.10.2018 zu schlecht angegeben wurde. Hierzu hatte jedoch der Sachverständige Dr. E. ausgeführt, dass bereits ein, zwei schlecht oder falsch verstandene Wörter zu einer Abweichung führen könne. Die Stellungnahme nach Aktenlage ist daher nicht geeignet, die gutachtlichen Feststellungen des Dr. E., der den Kläger untersucht hat und in seinem ausführlichen Gutachten und in den ergänzenden Stellungnahmen nachvollziehbar ausgeführt hat, dass beim Kläger eine Taubheit grenzende Schwerhörigkeit vorliegt, zu widerlegen.
Eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit ist nach Auffassung des Gerichts erst ab dem Zeitpunkt der Untersuchung Dr. E. nachgewiesen. Daher war Taubblindengeld erst ab diesem Zeitpunkt zu gewähren.
Da beim Kläger ab dem 18.10.2018 eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit mit einem Hörverlust von 80% nachgewiesen ist, war der Klage insoweit stattzugeben und im Übrigen, soweit das Taubblindengeld für die Zeit ab Antragstellung gefordert wird, abzuweisen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG. Insoweit war zu berücksichtigen, dass die Klage zum Teil abgewiesen wurde.


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