Sozialrecht

Anwendung der Regelung des § 145 SGB III

Aktenzeichen  L 10 AL 134/15

Datum:
23.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 1734
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 109, § 143, § 144, § 151, § 160 Abs. 2 Nr. 1 u. 2, § 193
SGB III § 137 Abs. 1, § 148 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Keine Anwendung der Regelung des § 145 SGB III bei einem Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von mehr als drei Stunden täglich. (Rn. 15)

Verfahrensgang

S 7 AL 228/14 2015-04-30 Urt SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 30.04.2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 11.02.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.05.2014 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Streitgegenstand ist der Bescheid vom 11.02.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.05.2014, mit dem es die Beklagte abgelehnt hat, dem Kläger unter Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 16.08.2013 höheres Alg ab 12.07.2013 zu zahlen.
Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte ihren Bewilligungsbescheid vom 16.08.2013 abändert. Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht nicht erhoben worden sind. Bei Erlass des Bewilligungsbescheides vom 16.08.2013 hat die Beklagte das Recht zutreffend angewandt und ist vom richtigen Sachverhalt ausgegangen. Dem Kläger steht lediglich für die Zeit vom 12.07.2013 bis 10.07.2014 ein Anspruch auf Alg iHv 47,85 € täglich zu.
Ein Anspruch auf Alg setzt nach § 137 Abs. 1 SGB III Arbeitslosigkeit (Nr. 1), eine Arbeitslosmeldung (Nr. 2) und die Erfüllung der Anwartschaftszeit (Nr. 3) voraus. Diese Voraussetzungen hat der Kläger für die Zeit ab dem 12.07.2013 dem Grunde erfüllt. Die Beklagte hat insofern ab dem 12.07.2013 Alg dem Grunde nach gewährt. Insbesondere lagen zur Überzeugung des Senats die Voraussetzungen der objektiven Verfügbarkeit iSv § 138 Abs. 1 Nr. 3 iVm Abs. 5 Nr. 1 SGB III vor. Danach ist ua Voraussetzung für die Annahme, der Arbeitnehmer stehe den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung, dass er eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann und darf. Weder die Beklagte nach ihrem Gutachten des Dr. B. vom 01.08.2013 noch die DRV nach ihrem Gutachten des Dr. S. vom 31.10.2013 haben bim Kläger ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von weniger als 15 Stunden wöchentlich festgestellt. Letztlich wird dies auch von den Gutachten im Rentenverfahren vor dem SG München () bestätigt. So geht die Gutachterin Dr. S. unter dem 05.10.2015 von einem durchgehend vollschichtigen Leistungsvermögen und die Gutachter Dr. H. (Gutachten vom 25.08.2016) – dieser wurde vom Kläger als Gutachten nach § 109 SGG benannt – und Dr. D. (Gutachten vom 09.05.2016) von einem drei bis unter sechs stündigem täglichen Leistungsvermögen aus. Es sind keinerlei hinreichend konkrete Anhaltspunkte erkennbar, dass der Kläger in der Zeit des Alg-Bezuges nur noch über ein unter dreistündiges tägliches Leistungsvermögen verfügt hat. So geht zwar die behandelnde Ärztin Dr. W. in ihrem Schreiben vom 18.08.2014 von einem aktuellen Leistungsvermögen von unter drei Stunden täglich aus. Diese Feststellung bezog sich damit aber auf einen Zeitpunkt nach dem Ende des Bezuges von Alg. Dort ist von einer deutlichen Zunahme der depressiven Symptomatik die Rede, so dass dies eine höhere Leistungsfähigkeit im streitgegenständlichen Zeitraum nicht ausschließt. Gleiches gilt für ihre Feststellung im Attest vom 30.03.2015. Dort ist ebenfalls von einer Verschlechterung die Rede. Die weiteren Ausführungen der Dr. W. vom 28.01.2013, 23.04.2013, 16.10.2013 und 09.11.2015, die im Rentenverfahren vorgelegt worden sind, treffen zur Leistungsfähigkeit des Klägers keine konkrete Aussage. Auch das Gutachten des Herrn R. für die Beklagte vom 05.12.2017 trifft keine Feststellungen in Bezug auf die Leistungsfähigkeit für den streitgegenständlichen Zeitraum. Schließlich wurde zwar in einem Gutachten der Dres. P., S., Sch., B. vom 15.06.2012 seinerzeit ein tägliches Leistungsvermögen von unter drei Stunden angenommen. Gleichzeitig wurde dort aber ausgeführt, eine Besserung sei nicht unwahrscheinlich und voraussichtlich in drei bis sechs Monaten zu erwarten. Damit steht dies der Annahme eines Leistungsvermögens von drei bis sechs Stunden täglich während des Bezuges von Alg vom 12.07.2013 bis 10.07.2014 nicht entgegen, sondern lässt dies vielmehr plausibel erscheinen. Zeitlich am nächsten zum Leistungsbezug hatte Dr. Sch. in ihrem Entlassungsbericht vom 17.07.2013 dann auch ein solches Leistungsvermögen angenommen.
Damit bedurfte es vorliegend keiner Fiktion der objektiven Verfügbarkeit über § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Danach hat Anspruch auf Alg auch eine Person, die allein deshalb nicht arbeitslos ist, weil sie wegen einer mehr als sechsmonatigen Minderung ihrer Leistungsfähigkeit versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigungen nicht unter den Bedingungen ausüben kann, die auf dem für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarkt ohne Berücksichtigung der Minderung der Leistungsfähigkeit üblich sind, wenn eine verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung nicht festgestellt worden ist. Der Kläger war aber – aufgrund obiger Ausführungen – zur vollen Überzeugung des Senats ab dem 12.07.2013 in der Lage, eine Beschäftigung mit mindestens 15 Stunden wöchentlich auszuüben, so dass § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB III vorliegend nicht einschlägig ist. Bereits nach seinem Wortlaut bezieht er sich alleine auf den Fall einer Leistungsfähigkeit von unter drei Stunden täglich über eine Dauer von mehr als sechs Monaten und nicht auf den Fall einer Leistungsfähigkeit von drei bis sechs Stunden täglich. Andere Leistungseinschränkungen führen nicht zur Fiktionswirkung (Winkler in Gagel, SGB II/SGB III, Stand 12/2015, § 145 SGB III Rn 20 mwN). Dafür besteht systematisch auch kein Bedürfnis, da es wegen der Erfüllung der Voraussetzungen des § 138 Abs. 5 Nr. 1 SGB III keiner Fiktion der objektiven Verfügbarkeit bedarf. Somit scheidet eine entsprechende Anwendung ebenfalls aus. Wenn ein Arbeitnehmer objektiv verfügbar ist, selbst aber von seiner Leistungsunfähigkeit überzeugt ist, kann er sich nicht auf § 145 SGB III und die Nahtlosigkeitsregelung stützen (vgl Winkler aaO Rn 23). Für die Anwendung des § 145 SGB III ist kein Raum, wenn sowohl die Beklagte als auch der Rentenversicherungsträger von einem positiven Leistungsvermögen ausgehen (vgl LSG Berlin, Urteil vom 12.06.2003 – L 14 AL 2/01 – juris).
Der Kläger war im Umfang von 30 Wochenstunden subjektiv verfügbar. Er hat sich nach dem schriftlichen Antrag als auch nach dem Vermerk über die persönliche Vorsprache am 14.08.2013 für leidensgerechte leichte Tätigkeiten im Umfang von (lediglich) 30 Wochenstunden gemäß dem Gutachten der Beklagten zur Verfügung gestellt.
Demzufolge hat die Beklagte zu Recht mit Bescheid vom 16.08.2013 das Alg anhand eines Bemessungsentgelts von 100,95 € bemessen und daraus folgend täglich 47,85 € an den Kläger gezahlt. Das ursprüngliche Bemessungsentgelt nach § 151 Abs. 1 Satz 1 SGB III von 134,60 € täglich war um 1/4 nach § 151 Abs. 5 Satz 1 SGB III zu kürzen. Danach ist dann, wenn der Arbeitslose nicht mehr bereit oder in der Lage, die im Bemessungszeitraum durchschnittlich auf die Woche entfallende Zahl von Arbeitsstunden zu leisten, das Bemessungsentgelt für die Zeit der Einschränkung entsprechend dem Verhältnis der Zahl der durchschnittlichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitsstunden, die die oder der Arbeitslose künftig leisten will oder kann, zu der Zahl der durchschnittlich auf die Woche entfallenden Arbeitsstunden im Bemessungszeitraum, zu vermindern. Einschränkungen des Leistungsvermögens bleiben unberücksichtigt, wenn Alg nach § 145 SGB III geleistet wird (§ 151 Abs. 5 Satz 2 SGB III). Wie oben ausgeführt, war der Kläger zur Überzeugung des Senates im Zeitraum des Alg-Bezuges nur in der Lage, bis unter sechs Stunden täglich Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben. Damit ergibt sich eine Wochenarbeitszeit von – zugunsten des Klägers von der Beklagten aufgerundet – allenfalls 30 Stunden, die in Verhältnis zu den 40 Wochenstunden des letzten Arbeitsverhältnisses zu setzen sind, und dementsprechend das Alg um 1/4 zu kürzen ist. Unabhängig von der objektiven Verfügbarkeit hat sich der Kläger auch subjektiv nur bis zur von der Beklagten im ärztlichen Gutachten festgestellten Anzahl möglicher drei bis unter sechs Stunden wöchentlich den Vermittlungsbemühungen zur Verfügung gestellt. Ein Fall des § 145 SGB III liegt – wie oben ausgeführt – nicht vor, so dass ein Absehen von einer Kürzung im Hinblick auf § 151 Abs. 5 Satz 1 SGB III nicht in Betracht kommt.
Soweit der Kläger vorgebracht hat, die Höhe des Alg habe sich an den zur Arbeitslosenversicherung entrichteten Beiträgen zu orientieren, ist dem durch die Ermittlung des Bemessungsentgelts nach § 151 Abs. 1 Satz 1 SGB III Rechnung getragen worden. Die Kürzung nach § 151 Abs. 5 Satz 1 SGB III beruht darauf, dass wegen der mangelnden Verfügbarkeit für versicherungspflichtige Tätigkeiten von mehr als 30 Wochenstunden sich dementsprechend auch die Vermittlungsbemühungen der Beklagten nur auf Stellen mit einem entsprechenden Stundenanteil beziehen konnten. Als gemeinsames Ziel wurde insofern auch die Aufnahme von Mini-Jobs, Midi-Jobs und kurzfristigen Beschäftigungen vereinbart. Hätte der Kläger eine entsprechende Arbeitsstelle aufnehmen können, weil eine Vermittlung erfolgreich gewesen wäre, wäre seine Arbeitszeit im Vergleich zur früheren Tätigkeit reduziert gewesen. Dies ist folglich auch bei der Bemessung des Alg zu berücksichtigen, das Ersatz für den ausfallenden Lohn während der Arbeitslosigkeit darstellen soll (vgl dazu im Einzelnen zur fiktiven Bemessung von Alg: Urteil des Senats vom 22.06.2017 – L 10 AL 74/16 – juris).
Da der Kläger das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, beträgt die Anspruchsdauer nach § 147 Abs. 1 iVm Abs. 2 SGB III insgesamt 12 Monate. Nach § 339 Satz 1 SGB III entspricht dabei jeder Monat 30 Tage, so dass die Beklagte zutreffend für 360 Tage Alg bewilligt hat. Diesen Anspruch hat sie durch die Zahlungen bis 10.07.2014 erfüllt, weshalb sich die Anspruchsdauer auf Null gemindert hat, § 148 Abs. 1 Nr. 1 SGB III. Der Kläger hat für die Zeit ab 11.07.2014 keinen weiteren Anspruch mehr.
Die Berufung war nach alledem zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Berufung nach § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, sind nicht ersichtlich.


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