Sozialrecht

Eingruppierung eines polnischen Lagerarbeiters mit Hochschulabschluss

Aktenzeichen  S 4 R 875/16

Datum:
21.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 2859
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
FANG Art. 6 § 4 Abs. 3 S. 3
FRG § 15 Abs. 1
FRG § 22 Abs. 1 S. 1
SGB VI § 256 b Abs. 1 S. 1
SGB VI Anlage 13
SGB X § 44 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Eine Versicherte, die in Polen nach Erwerb der allgemeinen Hochschulreife als Lagerleiterin tätig war, ist nach fünfjähriger Berufserfahrung in Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI einzugruppieren. (Rn. 17 – 22)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 18. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. September 2016 verpflichtet, die Bescheide vom 5. Januar 2012 und 18. Mai 2016 teilweise zurückzunehmen und die Altersrente der Klägerin für schwerbehinderte Menschen unter Zuordnung der Zeit vom 1. Februar 1980 bis 31. Januar 1981 in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI neu festzustellen.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte hat der Klägerin 1/4 ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

Die zum sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Augsburg form- und fristgerecht erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist zulässig, erweist sich jedoch nur teilweise als begründet.
Der Bescheid vom 18.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.09.2016 ist insoweit rechtswidrig und aufzuheben, als die Beklagte es abgelehnt hat, den Bescheid vom 05.01.2012 teilweise zurückzunehmen und die Berechnung der Altersrente der Klägerin für schwerbehinderte Menschen unter Zuordnung der Zeit vom 01.02.1980 bis 31.01.1981 in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI vorzunehmen. Hinsichtlich der Einstufung der von der Klägerin in der Zeit vom 01.02.1977 bis 31.01.1980 ausgeübten Tätigkeit in die Qualifikationsgruppe 5 der Anlage 13 zum SGB VI ist der Bescheid vom 18.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.09.2016 nicht zu beanstanden. Nicht durch Klage angefochten ist der Bescheid vom 18.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.09.2016 insoweit, als die Beklagte die Tätigkeit der Klägerin vom 02.04.1974 bis 30.05.1988 dem Wirtschaftsbereich 01 zugeordnet hat.
Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall teilweise erfüllt. Bei Erlass der Rentenbewilligungsbescheide vom 05.01.2012 und 18.05.2016 hat die Beklagte § 256b Abs. 1 Satz 1 SGB VI in Verbindung mit der Anlage 13 zum SGB VI unrichtig angewandt und der Klägerin deshalb Sozialleistungen zu Unrecht vorenthalten. Der Klägerin stehen Leistungen aufgrund einer Zuordnung der Versicherungszeiten zu Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI auch für die Zeit vom 01.02.1980 bis 31.01.1981 zu.
Die von der Klägerin in Polen zurückgelegten Beitragszeiten sind nach Art. 4 Abs. 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 09.10.1975 (Bundesgesetzblatt 1976 II, Seite 396) in die bundesdeutsche gesetzliche Rentenversicherung zu übernehmen. Da die Klägerin ihren Wohnsitz bereits seit 31.05.1988 im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland hat, ist das Abkommen von 1975 trotz des deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens vom 08.12.1990 (siehe Art. 27 Abs. 2 des deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens vom 08.12.1990) und des mittlerweile erfolgten EU-Beitritts von Polen anzuwenden. Nach Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes vom 12.03.1976 zum Abkommen vom 09.10.1975 (Bundesgesetzblatt 1976 II, Seite 393) in der Fassung durch Art. 20 Nr. 2 und 3 des Rentenreformgesetzes 1992 vom 18.12.1989 (Bundesgesetzblatt 1989 I, S. 2261) sind die nach dem polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigenden Zeiten bei der Feststellung einer Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung in Anwendung des Fremdrentengesetzes (FRG) und des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) zu berücksichtigen, solange der Berechtigte – wie die Klägerin – im Gebiet der Bundesrepublik nach dem Stand vom 02.10.1990 wohnt.
Nach § 15 Abs. 1 FRG werden die bei einem nicht-deutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegten Beitragszeiten so behandelt, als ob es sich um inländische Beitragszeiten handeln würde. Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 FRG werden für Zeiten der in §§ 15 und 16 FRG genannten Art Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Satz 2 und Satz 9 SGB VI ermittelt. Übergangsrecht kommt der Klägerin nicht zugute. Nach Art. 6 § 4 Abs. 3 Satz 3 FANG ist das FRG uneingeschränkt in seiner vom 01.07.1990 an geltenden Fassung anzuwenden, da die bereits am 31.05.1988 in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelte Klägerin erstmals für einen Zeitraum nach dem 31.12.1995 Anspruch auf Zahlung einer Rente hatte.
§ 256b Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI zufolge werden Entgeltpunkte nach Durchschnittsverdiensten ermittelt, die sich nach Einstufung der Beschäftigung in eine der in Anlage 13 genannten Qualifikationsgruppen und nach Zuordnung der Beschäftigung zu einem der in Anlage 14 genannten Bereiche ergeben. Nach Anlage 13 zum SGB VI sind Versicherte in eine der aufgeführten Qualifikationsgruppen einzustufen, wenn sie deren Qualifikationsmerkmale erfüllen und eine entsprechende Tätigkeit ausgeübt haben. Haben Versicherte aufgrund langjähriger Berufserfahrung Fähigkeiten erworben, die üblicherweise denen von Versicherten einer höheren Qualifikationsgruppe entsprechen, sind sie in diese Qualifikationsgruppe einzustufen. In „Qualifikationsgruppe 4 Facharbeiter“ sind Personen einzustufen, die nach abgeschlossener Ausbildung in einem Ausbildungsberuf die Facharbeiterprüfung bestanden haben und im Besitz eines Facharbeiterzeugnisses (Facharbeiterbrief) sind oder denen aufgrund langjähriger Berufserfahrung entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen im Beitrittsgebiet die Facharbeiterqualifikation zuerkannt worden ist. In „Qualifikationsgruppe 5 angelernte und ungelernte Tätigkeiten“ werden Personen eingruppiert, die eine Ausbildung auf Teilgebieten eines Ausbildungsberufes abgeschlossen haben und im Besitz eines entsprechenden Zeugnisses sind, Personen die in einer produktionstechnischen oder anderen speziellen Schulung für eine bestimmte Tätigkeit angelernt worden sind sowie Personen ohne Ausbildung oder spezielle Schulung für die ausgeübte Tätigkeit.
Bei der notwendigen analogen Anwendung der auf die Verhältnisse in der ehemaligen DDR zugeschnittenen Eingruppierungsmerkmale ist von der im Herkunftsgebiet erworbenen beruflichen Ausbildung und Qualifikation unter Beachtung des dort geltenden beruflichen, schulischen und universitären Bildungssystems auszugehen. Sodann ist zu fragen, welcher Qualifikationsgruppe – übertragen auf die Verhältnisse in der DDR – diese berufliche Ausbildung und Qualifikation materiell entspricht (Urteile des Bundessozialgerichts – BSG – vom 23.09.2003, Az. B 4 RA 48/02 R, und vom 12.11.2003, Az. B 8 KN 2/03, juris).
In Anwendung dieser Grundsätze sind zwar die von der Klägerin in der Zeit vom 01.02.1980 bis 31.01.1981 als Lagerleiterin zurückgelegten Beitragszeiten in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI einzustufen. Eine Einstufung auch der in der Zeit vom 01.02.1977 bis 31.01.1980 als Lagerleiterin zurückgelegten Beitragszeiten in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI kommt jedoch nicht in Betracht.
Die Klägerin verfügt über keine der in Anlage 13 zum SGB VI für die „Qualifikations-gruppe 4 Facharbeiter“ genannte Qualifikation. Ein Ausbildungsberuf konnte in Polen durch die Ausbildung an Berufsschulen oder durch betriebliche Lehre erlangt werden. An den Berufsschulen wurden Absolventen der 7- bzw. später 8-jährigen Grundschule innerhalb von 2 bis 3 Jahren zu Facharbeitern ausgebildet. Die Ausbildungsdauer bei betrieblicher Ausbildung lag zwischen 2 und 4 Jahren bzw. ab Anfang der siebziger Jahre bei 2 bis 3 Jahren. Für Absolventen des allgemeinbildenden Lyzeums gab es seit den 60iger Jahren für eine eher geringe Anzahl von Facharbeiterberufen eine einjährige Ausbildung an postlyzealen Schulen (Michael Müller in DAngVers 10/95, Die Qual mit den Qualifikationsgruppen, S. 354 ff., dort S. 357). Die Klägerin hat keine dieser Ausbildungen absolviert.
Eine Zuordnung zu Qualifikationsgruppe 4 kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Klägerin aufgrund langjähriger Berufserfahrung eine Qualifikation erlangt hat, die der Qualifikationsgruppe 4 entspricht. Unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung entwickelten Auslegungsgrundsätze ist erforderlich, dass der höherwertige Beruf während eines Zeitraums ausgeübt wurde, der ausreicht, um die theoretischen und praktischen Fähigkeiten für eine vollwertige Berufsausübung auch ohne formelle Ausbildung zu vermitteln. Hierbei kommt es jeweils auf den ausgeübten Beruf an. In Anlehnung an die Rechtsprechung zu den Leistungsgruppen ist jedenfalls davon auszugehen, dass eine langjährige Berufstätigkeit nicht früher als nach einer regulären Ausbildung zu dem Erwerb entsprechender Fachkenntnisse und Fähigkeiten führen kann (BSG, Urteil vom 10.07.1985, Az. 5a RKn15/84, juris). Da der Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten neben der Arbeit üblicherweise wesentlich länger als eine gezielte Unterweisung während einer geordneten mehrjährigen Ausbildung dauert, ist regelmäßig die doppelte Zeit der üblichen Ausbildung anzusetzen (Urteile des Bayer. LSG vom 19.03.2014, Az. L 1 R 1000/12, und des Hess. LSG vom 22.07.2014, Az. L 2 R 43/13, juris).
Eine der Qualifikationsgruppe 4 entsprechende Tätigkeit hat die Klägerin unstreitig ab dem 01.02.1981 als Lagerleiterin ausgeübt. Nach Ansicht des Gerichts ist die Tätigkeit der Klägerin als Lagerleiterin bereits ab 01.02.1980 in die Qualifikationsgruppe 4 einzustufen. Denn wie oben ausgeführt erwarben die Absolventen der Grundschule ab den 1970iger Jahren eine Facharbeiterqualifikation durch eine 2- bis 3-jährige Ausbildung. Infolgedessen kann von einer durchschnittlichen Regelausbildungszeit von 2 1/2 Jahren für eine Facharbeiterausbildung in Polen ausgegangen werden (so auch Urteil des SG Berlin vom 05.11.2014, Az. S 31 R 2522/10, Bl. 67 ff. der Gerichtsakte; ähnliche Vorgehensweise für die Qualifikationsgruppe 2: Urteil des Hess. LSG vom 22.07.2014, Az. L 2 R 43/13, juris). Die doppelte Zeit der üblichen Ausbildung betrug somit fünf Jahre. Das von der Beklagten zitierte Rechtsgutachten des Instituts für Ostrecht München e.V. bietet für den Erwerb einer beruflichen Grundausbildung keine zusätzlichen bzw. abweichenden Erkenntnisse. Unter Berücksichtigung der Zeiten des Mutterschutzes und des Erziehungsurlaubes kann davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ihre Tätigkeit als Lagerleiterin bereits ab 01.02.1980 vollwertig auf dem Niveau eines Facharbeiters ausgeübt hat.
Die von der Klägerin vom 04.09.1969 bis 25.06.1972 und vom 01.01.1973 bis 31.7.1974 ausgeübte Tätigkeit als Vorarbeiterin in der Flachsindustrie kann nicht mitgezählt werden und zu einer früheren Einstufung in Qualifikationsgruppe 4 führen. Denn es handelt sich bei der Tätigkeit als Vorarbeiterin in der Flachsindustrie um eine völlig andere Tätigkeit mit einem anderen Zugangsberuf als dem des Lageristen.
Nachvollziehbare Belege dafür, dass die Klägerin abweichend von der angewandten typisierenden Betrachtungsweise bereits zu einem früheren oder erst zu einem späteren Zeitpunkt das Facharbeiterniveau erreicht hat, liegen nicht vor. Insbesondere liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es für den Beruf des Lageristen in Polen eine nur einjährige postlyzeale Ausbildung für Absolventen des allgemeinbildenden Lyzeums gegeben hat. Angesichts dessen kann die Klägerin nicht – wie begehrt – bereits nach zwei Jahren (Verdoppelung einer einjährigen postlyzealen Ausbildungszeit) und somit unter Berücksichtigung der Zeiten des Mutterschutzes und des Erziehungsurlaubes ab 01.02.1977 in die Qualifikationsgruppe 4 eingestuft werden.
Nach Auffassung des Gerichts kann nicht generell bei Vorliegen der allgemeinen Hochschulreife von einem früheren Erlangen der Qualifikation durch langjährige Berufserfahrung und damit von einem atypischen Fall ausgegangen werden. Denn die Allgemeinbildung, die zum Erwerb der allgemeinen Hochschulreife vermittelt wird, unterscheidet sich stark von den Kenntnissen und Fähigkeiten, die im Rahmen einer Berufsausbildung vermittelt werden. Die Tatsache, dass die Klägerin Lagerleiterin und nicht bloße Lagerarbeiterin war, kann ebenfalls nicht zu einer früheren Einstufung in Qualifikationsgruppe 4 aufgrund eines atypischen Falles führen. Mit dieser Argumentation könnte lediglich die Einstufung in eine noch höhere Qualifikationsgruppe als die Qualifikationsgruppe 4 geltend gemacht werden. Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist jedoch lediglich die Ablehnung der Beklagten, eine frühere Höherstufung in Qualifikationsgruppe 4 vorzunehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht der Entscheidung in der Hauptsache. Die Klägerin war mit ihrer auf eine vier Jahre frühere Eingruppierung in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI gerichteten Klage lediglich im Umfang von einem Jahr erfolgreich. Nach Auffassung des Gerichts war es deshalb sachgerecht, dass die Beklagte der Klägerin 1/4 ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten erstattet.


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