Sozialrecht

Ermessensausübung bei der Gewährung eines Gründungszuschusses zur Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit

Aktenzeichen  L 9 AL 49/14

Datum:
20.4.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB III aF 58 Abs. 2

 

Leitsatz

Im Rahmen der nach § 58 Abs. 2 SGB III aF vorzunehmenden Ermessensausübung stellt eine schematische Anknüpfung an ermessenslenkende Weisungen der Bundesagentur – ohne ausreichende Prüfung des Einzelfalles – einen Ermessensfehlgebrauch dar. (Rn. 26 – 29) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 34 AL 711/12 2013-11-13 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 13.November 2013 aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Juli 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2012 verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Weitergewährung des Gründungszuschusses über den 23. Juli 2012 hinaus unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG München vom 13.11.2013 ist zulässig und im Sinne des Antrags des Klägers auch begründet. Der Senat konnte im vorliegenden Fall gemäß § 124 Abs. 2 SGG nach Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid vom 12.07.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.08.2012, mit dem die Beklagte den Antrag des Klägers vom 27.06.2012 auf Weitergewährung des Gründungszuschusses über den 23.07.2012 hinaus abgelehnt hat. Da der Kläger den Berufungsantrag auf die Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung beschränkt hat, war über eine eventuelle Ermessensreduzierung auf Null vorliegend nicht zu entscheiden. Maßgeblich für die Förderung der selbständigen Tätigkeit des Klägers als Rechtsanwalt durch Weitergewährung des zuvor bereits für neun Monate bewilligten Gründungszuschusses über den 23.07.2012 hinaus ist § 58 Abs. 2 SGB III in der Fassung des Gesetzes vom 20.07.2006 (im Folgenden: a.F.). Da der Kläger seine von der Beklagten geförderte selbständige Tätigkeit vor der gesetzlichen Neuordnung der Regelungen zum Gründungszuschuss durch §§ 93 und 94 SGB III mit Wirkung ab 01.04.2012 bereits begonnen hatte, ist gemäß § 422 Abs. 1 SGB III das im Jahr 2011 geltende Recht weiter anzuwenden. Gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 SGB III a.F. kann der Gründungszuschuss für weitere sechs Monate in Höhe von monatlich 300,- EUR geleistet werden, wenn die geförderte Person ihre Geschäftstätigkeit anhand geeigneter Unterlagen darlegt. Nach Ablauf des ersten Förderzeitraumes von neun Monaten reduziert sich die Förderung der selbständigen Tätigkeit der Leistungsempfänger daher von einer (bisher geleisteten) Sicherung des Lebensunterhaltes auf einen reduzierten Zuschuss zur Sicherung ihrer sozialen Absicherung in Höhe von 300,- EUR monatlich. Dem liegt die Einschätzung zu Grunde, dass sich die Existenzgründung nach der ersten Förderphase so weit gefestigt hat, dass der Lebensunterhalt der Leistungsempfänger aus der selbständigen Tätigkeit bestritten werden kann (vergleiche Stratmann in Niesel/Brand, SGB III, 5. Auflage, § 58, Rdnr. 4 unter Hinweis auf BT-Drucksache 16/1696, S. 31).
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 58 Abs. 2 Satz 1 SGB III a.F. sind im vorliegenden Fall erfüllt. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten seine (erfolgreiche) Geschäftstätigkeit durch geeignete Unterlagen dargelegt. Weiterer Ausführungen dazu bedarf es nicht.
Auf der Rechtsfolgenseite steht die vom Kläger begehrte Weitergewährung des Gründungszuschusses über den 23.07.2012 gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 SGB III a.F. im Ermessen der Beklagten. Der Senat kann die Entscheidung der Beklagten daher nur im Sinne einer Rechtskontrolle daraufhin überprüfen, ob die Beklagte ihr Ermessen entsprechend den Vorgaben von § 39 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) rechtmäßig ausgeübt hat oder ob ein Ermessensfehler im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG vorliegt und der Kläger hierdurch beschwert ist. Er hat jedoch keine eigenen Ermessens- und Zweckmäßigkeitserwägungen anzustellen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl, § 54 Rdnr. 28).
Aus § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I und § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG ergeben sich zwei Schranken der Ermessensausübung: Das Ermessen ist entsprechend dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens sind einzuhalten. Hieraus haben Rechtsprechung und Literatur verschiedene Kategorien von Ermessensfehlern (Ermessensnichtgebrauch, Ermessensüberschreitung, Ermessensunterschreitung, Ermessensfehlgebrauch) entwickelt, wobei die Begrifflichkeiten und Unterteilung in die einzelnen Fallgruppen z.T. nicht einheitlich vorgenommen wird (vgl. insoweit BSG, Urt. v. 18.03.2008 – B 2 U 1/07 R -, juris Rn. 16; Keller, a.a.O., Rn. 27).
Vorliegend liegt ein Ermessensfehlgebrauch der Beklagten vor. Dieser ist u.a. dann gegeben, wenn eine Behörde die abzuwägenden Gesichtspunkte rechtlich fehlerhaft gewichtet hat, also eine sogenannte Abwägungsdisproportionalität vorliegt. Des Weiteren liegt ein Ermessensfehlgebrauch vor, wenn die Behörde ihrer Ermessensbetätigung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat. Deshalb haben die Tatsacheninstanzen in tatsächlicher Hinsicht zu überprüfen, ob die Behörde die Tatsachen, die sie ihrer Ermessensentscheidung zugrunde gelegt hat, zutreffend und vollständig ermittelt hat (vgl. zum Ganzen BSG, Urt. v. 09.11.2010 – Az. B 2 U 10/10 R -, juris Rn. 15).
Nach den Feststellungen des Senats hat die Beklagte bei ihrer Ermessensentscheidung über die Weitergewährung des Gründungszuschusses über den 23.07.2012 hinaus schematisch und pauschalisierend anhand der ermessenslenkenden Weisungen der Agentur für Arbeit W-Stadt auf die ihrer Auffassung nach ausreichenden Gewinneinkünfte des Klägers aus seiner selbstständigen Tätigkeit abgestellt. Zu einer rechtsfehlerfreien Ermessensausübung hätte es jedoch der umfassenden Prüfung der Besonderheiten des Einzelfalles des Klägers bedurft (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 16.06.1999, Az. B 9 V 4/99 R; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.10.2013, Az. L 9 AL 150/12).
Die Beklagte hat ihre ablehnenden Entscheidung im Wesentlichen – quasi als „tragende Säule“ – auf die ermessenslenkenden Weisungen der Agentur für Arbeit W-Stadt gestützt, welche festlegen, dass ein Selbständiger, dessen Gewinn vor Steuern über 1.127 EUR monatlich beträgt, die soziale Absicherung aus eigenen finanziellen Mitteln übernehmen kann. Die schematische Anknüpfung der Beklagten an den Grenzbetrag von 1.127,- EUR monatlich – ohne ausreichende Prüfung des vorliegenden Einzelfalles – wird insbesondere aus der Begründung der Beklagten zum Widerspruchsbescheid vom 03.08.2012 deutlich, mit der die Beklagte ihre Begründung zum Ausgangsbescheid vom 12.07.2012 ersetzte. Nachdem die Beklagte für den Kläger für die Monate Mai und Juni 2012 einen Gewinn vor Steuern in Höhe von 4.472,- EUR monatlich errechnete, führte sie in der Begründung ihres Widerspruchsbescheides weiter aus: „Der Betrag i. H. v. 1.127,- EUR mtl. wird von dem erzielten Gewinn bei weitem übertroffen. Es war nach alledem nicht ermessensfehlerhaft oder gar ermessensmissbräuchlich, den Antrag auf Weitergewährung des Gründungszuschusses abzulehnen.“ Anders als in dem vom Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 17.10.2013 (Az. L 9 AL 150/12) entschiedenen Verfahren fand daher im hier vorliegenden Fall offensichtlich keinerlei Einzelfallprüfung der Beklagten statt, da die Beklagte die Ablehnung der streitigen Leistung allein mit der Überschreitung des oben genannten Grenzbetrages begründet hat.
Der in den ermessenslenkenden Weisungen der Agentur für Arbeit festgelegte Grenzbetrag von 1.127,- EUR monatlich vor Steuern ist jedoch nach den Feststellungen des Senats im hier zu prüfenden Einzelfall keineswegs geeignet, die Eigenleistungsfähigkeit des Klägers für seine Aufwendungen zur sozialen Absicherung zu begründen. Dies ergibt sich bereits aus der im streitigen Zeitraum für die Mietregion der Stadt L. maßgeblichen Höchstgrenze bezüglich angemessener Kosten für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 SGB II und § 29 SGB XII in Höhe von ca. 600,- EUR Bruttokaltmiete für einen Drei-Personen-Haushalt. Bei der Prüfung der Eigenleistungsfähigkeit des Klägers hätte die Beklagte zur angemessenen Prüfung der Besonderheiten des Einzelfalles des Klägers in jedem Fall die ortsüblichen Wohnkosten sowie die Zahl der unterhaltsberechtigten Familienangehörigen des Klägers in die Ermessensausübung mit einbeziehen müssen. Die Beklagte hätte quasi die Grenze der individuellen Eigenleistungsfähigkeit des Klägers selbst bestimmen müssen. Da es sich bei der Eigenleistungsfähigkeit um einen Ermessensgesichtspunkt handelt, kann nicht der Senat die genannte Grenze festlegen. Aus genau diesem Grund ist es auch nicht möglich, dass der Senat die Entscheidung der Beklagten mit der Erwägung „hält“, das maßgebende Einkommen des Klägers läge „auf jeden Fall“ über der Grenze der Eigenleistungsfähigkeit. Die Beklagte wird folglich aufgrund der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Ablehnungsbescheides (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG), durch den der Kläger auch beschwert ist, über den Antrag des Klägers auf Weitergewährung des Gründungszuschusses über den 23.07.2012 hinaus unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden haben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 13.11.2013 ist daher im Sinne des von ihm am 23.02.2017 gestellten Antrages begründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (vgl. § 160 Abs. 2 SGG).


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