Sozialrecht

Hilflosigkeit eines Kindergartenkindes nach Lebertransplantation

Aktenzeichen  S 15 SB 79/16

Datum:
4.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 16073
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 48 Abs. 1 S. 1
VersMedV Anlage Teil A Ziff. 5

 

Leitsatz

1 Kann die wesentliche Änderung bezüglich der ursprünglich angenommenen Hilflosigkeit nicht im Vollbeweis bewiesen werden, so geht dies zu Lasten des die Beweislast tragenden beklagten Landes; die Voraussetzungen des Merkzeichens “H” sind dann weiterhin festzustellen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2 Im Vergleich der Sachlage zwischen den beiden Widerspruchsbescheiden liegt keine wesentliche Änderung vor, wenn weiter eine ständige Überwachung aufgrund der Gabe von Immunsuppressiva erforderlich ist und deshalb eine massiv erhöhte Infektanfälligkeit besteht. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3 Vermehrte Krankheitszeiten und erhebliche Fehltage im Kindergarten zur Ansteckungsvermeidung aufgrund der Erkrankung anderer Kinder begründen einen weit über den Altersdurchschnitt hinausgehenden Pflege- und Überwachungsbedarf. (Rn. 22 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
4 Ein altersüberdurchschnittlicher Anleitungsbedarf bis etwa zum zehnten Lebensjahr ergibt sich aus der Notwendigkeit zeitlich exakt einzunehmender Medikamente sowie dem Erfordernis, eine Stunde davor sowie eine halbe Stunde danach keine Speisen zu sich nehmen zu dürfen. (Rn. 24 – 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, unter Abänderung des Bescheides vom 22.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2016 über den 22.10.2015 hinaus (weiterhin) die Voraussetzungen für das Merkzeichen “H” anzuerkennen.
II. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt der Beklagte in vollem Umfang.

Gründe

Die zulässige Klage ist in vollem Umfang begründet. Die Klägerin hat auch über den 22.10.2015 hinaus einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen „H“.
Hilflos sind diejenigen, die infolge von Gesundheitsstörungen – nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und dem Einkommensteuergesetz „nicht nur vorübergehend“ – für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist (Teil A Ziff. 4.der „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ -VG-, Anlage zur sog. Versorgungsmedizin-Verordnung, Stand: 23.12.2016, Bundesgesetzblatt I, S. 3234).
Im Rahmen der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen sind nicht nur die bei der Hilflosigkeit genannten „Verrichtungen“ zu beachten. Auch die Anleitung zu diesen „Verrichtungen“, die Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung (z. B. durch Anleitung im Gebrauch der Gliedmaßen oder durch Hilfen zum Erfassen der Umwelt und zum Erlernen der Sprache) sowie die notwendige Überwachung gehören zu den Hilfeleistungen, die für die Frage der Hilflosigkeit von Bedeutung sind (Teil A Ziff. 5 a) der VG).
Bei angeborenen, erworbenen oder therapieinduzierten schweren Immundefekten ist Hilflosigkeit für die Dauer des Immunmangels, der eine ständige Überwachung wegen der Infektionsgefahr erforderlich macht, anzunehmen (vgl. Teil A Ziff. 5 d) nn) der VG).
Mögliche Rechtsgrundlage für die im Bescheid vom 22.10.2015 festgestellte Entziehung des Merkzeichens „H“ wäre allein § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X -. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Eine wesentliche Änderung ist zum einen etwa dann anzunehmen, wenn sich der gesundheitliche Zustand dergestalt verbessert oder verschlechtert hat, dass sich hieraus eine Herabsetzung oder Erhöhung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 oder nunmehr die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Merkzeichen vorliegen oder aber auch nicht mehr vorliegen.
Die Kammer konnte sich nicht mit hinreichender Sicherheit davon überzeugen, dass im Vergleich zum bestandskräftigen Widerspruchsbescheid vom 24.03.2014 im Hinblick auf die dort angenommene „Hilflosigkeit“ eine wesentliche Änderung eingetreten wäre. Wenn diesbezüglich die wesentliche Änderung der Verhältnisse nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, d. h. unter Vollbeweis bewiesen ist, so geht dies zu Lasten des Beklagten, der hierfür die Beweislast trägt.
Bereits im Jahr 2014 war Grund für die Annahme von „Hilflosigkeit“, dass die Klägerin einer ständigen Überwachung bedurfte, um jedes vermeidbare Infektionsrisiko zu umgehen. Die Situation ist bis heute nicht wesentlich anders. Wie sich aus dem schlüssigen und überzeugenden Gutachten von Dr. L. vom 09.01.2018 und ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 15.03.2018 ergibt, liegt bei ihr wegen der Gabe von Immunsuppressiva nach wie vor eine massiv erhöhte Infektanfälligkeit vor. Es sind nach der Vorgabe der behandelnden Ärzte alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um eine Ansteckung mit den üblichen Kinder- und Infektionskrankheiten zu vermeiden. Die Eltern haben für die Klägerin gezielt einen Kindergarten mit relativ wenig Kindern (insgesamt rd. 30 Kinder) ausgewählt. Dennoch sind häufig Erkrankungen im Umlauf, so dass die Klägerin nach Angaben der Mutter rund die Hälfte aller Kindergartentage fehle. Dies führte nun dazu, dass der Kindergarten mittlerweile schon einen „halben Platz“ angeboten habe. Bei Grippe-Epidemien (im Frühjahr) beispielsweise könne die Klägerin zudem nach Aussage der Mutter nur mit Mundschutz außer Haus.
Dr. L. verweist zu Recht auf die Nebenwirkungen der verabreichten Immunsuppressiva, welche sehr häufig zu einer herabgesetzten Immunabwehr und damit erhöhten Infektanfälligkeit führen, bei Kindern noch mehr als bei Erwachsenen. Dass bei der Klägerin eine massiv erhöhte Infektanfälligkeit vorliegt, ergibt sich laut Dr. L. u. a. aus dem Befund des behandelnden Kinderarztes Dr. H. vom 11.05.2017, wonach in den 12 Monaten davor rd. 28 Arzt-Patienten-Kontakte, 10 davon im direkten Zusammenhang mit akuten Infektionen stattgefunden hatten. Besonders betont Dr. L., dass sich die Klägerin trotz einer Masernimpfung mit Masern angesteckt hatte, was einen stationären Aufenthalt erforderlich machte. Zudem wies sie auf die lange Erkrankungsdauer etwa bei einer stattgehabten Norovirus-Infektion hin. Die vermehrten Krankheitszeiten machen somit bei der Klägerin zusätzlich (neben der Prävention) einen weit über den Altersdurchschnitt hinausgehenden Pflege- und Überwachungsbedarf erforderlich.
Auch die Verabreichung der erforderlichen Medikation erfordert eine intensive Überwachung und Anleitung. So müssen die entsprechenden Medikamente exakt alle 12 Stunden eingenommen werden (derzeit 07.30 Uhr und 19.30 Uhr). Die Klägerin darf eine Stunde vor der Verabreichung und eine halbe Stunde danach nicht essen. Dies ist (verständlicherweise) bei einem Kind dieser Altersgruppe nicht leicht vermittelbar. Aufwendig ist es auch, wie die Mutter in der mündlichen Verhandlung vom 04.07.2018 schilderte, immer für einen ausreichenden Sonnenschutz zu sorgen. Durch die Immunsuppressiva hat die Klägerin ein etwa 70fach erhöhtes Risiko an Hautkrebs zu erkranken. So muss sie immer, wenn sie draußen ist, mit einem hohen Lichtschutzfaktor eingecremt werden und eine Kopfbedeckung tragen.
Trotz der altersentsprechenden Entwicklung der Klägerin ist die Kammer somit davon überzeugt, dass sie im Vergleich zu den Altersgenossen einer besonders intensiven Überwachung und Anleitung im Ablauf eines jeden Tages bedarf. Plausibel ist auch die Einschätzung von Dr. L., wonach bei der Klägerin mindestens bis zum 10. Lebensjahr eine besonders intensive Anleitung und Überwachung erforderlich sein wird, so dass bis dahin in jedem Fall die Voraussetzungen für das Merkzeichen „H“ vorliegen. Frühestens dann ist die Klägerin kognitiv dazu in der Lage, selbst die entsprechenden Vorsorgemaßnahmen zur Vermeidung von Infektionen zu treffen (wie etwa das Vermeiden von Kontakten mit kranken Personen, häufiges Händewaschen, etc.).
Aus den genannten Gründen war der Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 22.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2016 bei der Klägerin weiterhin (über den 22.10.2015 hinaus) die Voraussetzungen für das Merkzeichen „H“ anzuerkennen.
Da allein dies beantragt war, ist von einem vollen Klageerfolg auszugehen.
Der Beklagte hat damit die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in vollem Umfang zu tragen (gemäß §§ 183, 193 SGG).


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