Sozialrecht

Kein Anspruch auf Krankengeld wegen nicht nachgewiesener Arbeitsunfähigkeit

Aktenzeichen  L 5 KR 472/14

Datum:
17.1.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 107771
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 44 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Wird die Arbeitsunfähigkeit über einen Zeitpunkt hinaus nicht nachgewiesen, besteht diesbezüglich auch kein Anspruch auf Krankengeld. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Beschäftigung als Reinigungskraft im Innenbereich eines Flughafens und die Tätigkeit als Spülerin von Geschirr oder Hygienekraft der Sanitäranlagen bei 35 Arbeitsstunden pro Woche beinhaltet das Schulden leichter Arbeiten in gleichbleibend vollklimatisierten Räumlichkeiten. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3 Wenn das gerichtlich beauftragte Gutachten in Übereinstimmung mit den Krankenunterlagen keine Arbeitsunfähigkeit über einen Zeitpunkt hinaus mehr bestätigt, dann kann darauf die Klageabweisung gestützt werden, auch wenn das nach § 109 SGG eingeholte Gutachten zu einem anderen Ergebnis gelangt. Insbesondere gilt das, wenn dieses über zwei Jahre später einen Rückschluss auf eine angeblich durchgehend bestehende Arbeitsunfähigkeit zieht, obwohl die festgestellte Erkrankung einen episodenhaften Verlauf mit Schwankungen habe. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 29 KR 477/12 2014-09-25 GeB SGMUENCHEN SG München

Tenor

I.
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 25.09.2014 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber unbegründet. Die Beklagte hat zu Recht im streitgegenständlichen Bescheid vom 14.2.2012 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 4.4.2012 die Bewilligung von Krankengeld über den 27.2.2012 hinaus abgelehnt. Denn Arbeitsunfähigkeit ist wie im angegriffenen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 25.9.2014 zutreffend ausgeführt über diesen Zeitpunkt hinaus nicht nachgewiesen, so dass die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt ist. Auf den Entfall des Versicherungsschutzes mit Krankengeldanspruch infolge einsetzender Familienversicherung bei einer AUB-Lücke ab 15.4.2012 kommt es damit nicht mehr an.
1. Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben gesetzlich Krankenversicherte wie der Kläger Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht. Arbeitsunfähigkeit liegt nach der Begriffskonkretisierung der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG, Urt. v. 14.2.2001 – B 1 KR 30/00 R; 4.4.2006 – B 1 KR 21/05 R) vor, wenn der Betroffene seine zuletzt vor Eintritt des Versicherungsfalles aus dem Krankengeld-Schutz resultierenden Versicherungsverhältnis konkret ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur auf die Gefahr hin, seinen Zustand zu verschlimmern, verrichten kann (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 7.6.2016 – L 5 KR 200/13, Rn. 15 – zitiert nach juris). Der Maßstab für die AU ergibt sich aus dem Umfang des Versicherungsschutzes im jeweils konkret bestehenden Versicherungsverhältnis (BSG, Urteil vom 4.4.2006 – B 1 KR 21/05 R, Rn. 12 mwN – zitiert nach juris).
In Anwendung dieser Grundsätze ist dazu festzustellen, dass die Klägerin nach dem Akteninhalt sowie nach ihren eigenen Angaben zuletzt in einer Beschäftigtenversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V stand als Reinigungskraft im Innenbereich des Flughafens B-Stadt und dort mit Arbeiten als Spülerin von Geschirr oder Hygienekraft der Sanitäranlagen betraut war bei 35 Stunden Arbeitszeit pro Woche. Damit schuldete sie leichte Arbeiten in gleichbleibend vollklimatisierten Räumlichkeiten.
2. Diese Arbeiten konnte sie auf Grund orthopädischer Erkrankung nach der Meniskusoperation am 3.11.2011 sowie der nachfolgenden ambulanten orthopädischen Rehabilitation 14.12.2011 bis 13.1.2012 im Therapiezentrum L./A-Stadt der Fachärztin für Orthopädie Dr. W. nicht ausüben. Im Anschluss hieran bestand – obgleich seither Dr. W. bereits Arbeitsfähigkeit angenommen hatte – während des IRENA-Programmes zur Nachbehandlung und Stabilisierung der Rehabilitation krankengeldberechtigende Arbeitsunfähigkeit u.a. wegen einer somatoformen Schmerzerkrankung der Klägerin. Insoweit ist der überzeugenden Einschätzung des Orthopäden und Schmerztherapeuten Dr. G. zu folgen, an welchen der eine AUB ausstellende Allgemeinarzt Dr. K. die Klägerin weitergeleitet hatte. Dessen Einschätzung ist auch zu folgen, wonach ein Ende der Arbeitsunfähigkeit mit dem Ablauf des IRENA-Programmes eingetreten ist. Denn seiner fachärztlichen Kompetenz als Orthopäde sowie als Schmerztherapeut kommt wegen der somatoformen Schmerzerkrankung der Klägerin höherer Beweiswert zu, als der AUB des Dr. (T. Univ.) E. I., welcher als Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin nicht die Kompetenz auf dem im Falle der Klägerin bedeutsamen algesiologischem Gebiet zukommt. Insofern ist es nicht entscheidend, dass der Stellungnahme des MDK-Arztes Dr. K. vom 13.2.2012 wegen der Kürze und Substanzlosigkeit der handschriftlichen Bemerkung „AF ab 27.2.“ keinerlei Beweiswert zukommt.
Die fehlende Arbeitsunfähigkeit über den 27.2.2012 hinaus beweisen auch die überzeugenden gerichtlichen Sachverständigengutachten der Dres. L. und K … Dr. L. hat die Klägerin nur rund ein halbes Jahr nach Ende des Krankengeldbezuges am 13.9.2012 persönlich eingehend untersucht und unter Einbezug der Befund- und Behandlungsberichte der Klägerin bei dieser ein leichtgradiges HWS-LWS-Syndrom unter Ausschluss eines sensomotorischen Defizits bei weitgehend freier Funktion, Gonalgieen, O-Bein-Fehlstellung, Senk-/Spreizfüße mit leichtgradig verminderter Geh- und Stehfähigkeit festgestellt. In diesen Diagnosen besteht Übereinstimmung mit den übrigen Krankenunterlagen, so dass diese als fachorthopädisch zutreffend anzusehen sind. Hieraus resultierend hat Dr. L. Arbeitsunfähigkeit im fraglichen Zeitraum aus seiner fachorthopädischen Sicht verneint. Dem ist zu folgen, weil sich diese Facheinschätzung mit der Einschätzung der behandelnden Orthopäden deckt, welche Arbeitsunfähigkeit nach operativem Eingriff mit nachfolgender ambulanter Rehabilitation sowie Nachsorgeprogramm IRENA nur bis 27.2.2012 betätigt haben. Hieran ändert nichts, dass Dr. L. wegen des von ihm festgestellten medizinischen Zustandes der Klägerin wegen der Inkongruenz geklagter Schmerzen (Fibromyalgie) und subjektiven Leistungsvermögens einerseits und fachorthopädischen Einschätzungen andererseits das Einholen eines weiteren Fachgutachtens als erforderlich angesehen hat. Denn das darauf hin vom Sozialgericht eingeholte zusätzliche nervenärztliche Gutachten des Neurologen und Psychiater Dr. K. vom 28.1.2013 auf Grund persönlicher Untersuchung der Klägerin vom 17.1.2013 hat ebenso Arbeitsunfähigkeit über den 27.2.2012 hinaus verneint. Dr K. hat eine depressive Symptomatik verneint, festgestellt, dass die Klägerin im Affekt ausgeglichen und schwingungsfähig ist und eine Somatisierungsstörung, wie von der behandelnden Ärztin attestiert, gesehen. Darauf basierend hat Dr. K. in Würdigung der Feststellungen der behandelnden Ärztin Arbeitsunfähigkeit nervenärztlich überzeugend verneint. Er hat insoweit zutreffend den maßgeblichen Unterschied betont zwischen psychotherapeutischer Behandlungsbedürftigkeit und sozialmedizinischer Bedeutung für die Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit als – wie von Dr. K. in seiner Sozialanamnese beschrieben – Reinigungskraft am Flughafen.
3. Nicht gefolgt werden kann hingegen dem nach § 109 SGG auf Antrag der Klägerin eingeholten Gutachten des Dr. L. und dessen Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit. Denn dieser hat von seiner gegenwärtigen Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit infolge depressiver Störung sowie somatoformer Schmerzstörung zurückgeschlossen, dass die Klägerin über den Zeitpunkt 27.2.2012 hinaus arbeitsunfähig war. Für diesen Rückschluss über einen Zeitraum von fast zwei Jahren von der Untersuchung Mitte Januar 2014 auf den Streitzeitraum Ende Februar 2012 (Seite 26 des Gutachtens) fehlt es an einer überzeugenden Begründung, zumal Dr. L. selbst auf Seite 23 seines Gutachtens der depressiven Störung einen episodenhaften Verlauf mit Schwankungen zugeschrieben hat. Es kommt hinzu, dass Dr. L. den Widerspruch zur Einschätzung des Dr. K., welcher rund ein Jahr näher am Streitgeschehen liegend Arbeitsunfähigkeit auf psychiatrischem Fachgebiet aufgrund persönlicher Untersuchung verneint hatte, nicht aufgegriffen und begründet hat. Damit ist zugleich erläutert, dass der Rückschluss des Dr. L. von seinen Einschätzungen aus dem Jahr 2014 auf den medizinischen Leistungsstatus im Jahr 2012 nicht zu überzeugen vermag, was umso mehr Bedeutung erhält, als Arbeitsunfähigkeit über den 27.2.2012 hinaus nicht von psychiatrischer Seite aus attestiert wurde, sondern von Dr. I.k, also von rehabilitativ-medizinischer und physiotherapeutischer Seite. Schließlich fehlt es an einer Begründung dafür, dass die Klägerin aus auf psychiatrischem Fachgebiet liegenden Gründen entgegen der fachlichen Einschätzung auf schmerztherapeutischem Gebiet des Dr. G. nicht in der Lage war, in leichten Reinigungsarbeiten wie Geschirrspülen im stets gleichbleibend warm klimatisierten, von äußeren Einflüssen freien Innenbereich Flughafens sieben Stunden täglich tätig zu sein.
Etwas anderes ergibt sich nicht aus der Beschreibung der Dipl. Psych. M., welche erst am 25.5.2012 erstellt wurde und zudem einen „Zusammenbruch“ ausgelöst u.a. durch die Krankgengeldverweigerung trotz Krankschreibung durch ihren Arzt beschreibt, also einen Vorgang, welcher erst durch den hier strittigen Vorgang ins Rollen gebracht wurde und somit nach dem 27.2.2012 liegt. Darüber hinaus hat Dr. K. dieses Attest ebenso wie das Attest der Dr. C. vom 18.5.2012 in seine Beurteilung einbezogen und gewürdigt. Im Ergebnis muss auch für den hier strittigen Zeitraum ohne Berücksichtigung bleiben, dass dem stationären Aufenthalt der Klägerin vom 20.11.2014 bis 8.1.2015 in der A. Klinik eine schwere Episode einer depressive Störung sowie Rückenschmerzen zu Grunde gelegen hatte.
4. Anhaltspunkte für eine fehlende Wegefähigkeit der Klägerin, welche nur eine kurze, mit öffentlichen Verkehrsmitteln bestens angebundene Wegtrecke von ihrem Wohnort in A-Stadt zum Flughafen B-Stadt zurückzulegen hatte, sind nicht vorhanden.
5. Zu weiterer Sachaufklärung, insbesondere zur Einholung eines weiteren Gutachtens besteht vor dem Hintergrund der so beschriebenen Sachlage kein Anlass, so dass auch dem Beweisbegehren der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht zu entsprechen war. Dem „Beweisantrag“ musste auch deshalb nicht nachgekommen werden, weil er das Beweisthema nicht konkret angegeben hat und nicht wenigstens umrissen hat, was die Beweisaufnahme ergeben soll (zu den Anforderungen an einen Beweisantrag vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 160 Rn. 18a).
6. Auf die Tatsache, dass die Klägerin wegen der nur bis 15.4.2012 reichenden AUB des Dr. K. vom 3.14.2012 und der erst am 16.4.2012 ausgestellten nächsten AUB des Dr. I. am 16.4.2012 familienversichertes Mitglied der Beklagten war (§ 10 SGB V mit Vorrang vor § 19 Abs. 2 SGB V) und damit ab 16.4.2012 ohnehin keinen Anspruch auf Krankengeld mehr hatte gem. § 44 Abs. 2 Nr. 1 SGB V (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 25/14 R) kommt es somit nicht mehr an. Ebenso wenig ist maßgeblich, dass die Klägerin insoweit mittlerweile einen „Wiedereinsetzungsantrag“ gestellt hat, da Anhaltspunkte für eine ausnahmsweise Rückwirkung nicht bestehen und Wiedereinsetzung oder Herstellung in Lückenfällen nicht möglich sind (BSG, aaO, Rn. 14 ff – zitiert nach juris).
Der Berufung bleibt somit vollumfänglich der Erfolg versagt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe zur Revisionszulassung sind nicht zu verneinen, § 160 Abs. 2 SGG.


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