Sozialrecht

(Kein) Nachweis einer Wirbelsäulenverletzung nach Auffahrunfall

Aktenzeichen  41 O 1353/07

Datum:
20.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 142730
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 823 Abs. 1
ZPO § 286 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Der Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB erfordert eine mehr als nur unerhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung. Trägt der Anspruchsteller vor, er sei nach dem betreffenden Unfall nur einmal bei seinem Hausarzt gewesen, habe mangels wesentlicher Beschwerden weitere ärztliche oder therapeutische Hilfe dann aber nicht mehr in Anspruch genommen, legt er eine solche nicht schlüssig dar. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2 Das Gericht ist verpflichtet, die Begutachtungsvorgaben an den Sachverständigen zu präzisieren, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass der Sachverständige von unzutreffenden Anknüpfungstatsachen ausgegangen ist. Ein solcher Fall liegt auch dann vor, wenn der Sachverständige auf Verfahrensergebnisse Bezug genommen hat, die infolge der Aufhebung der Vorentscheidung mitsamt des zugrunde liegenden Verfahrens nicht mehr verwertbar sind. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Rechtsstreits, mit Ausnahme der Kosten der Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht München Az. 10 U 5036/08 sowie 10 U 1995/11.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages.

Gründe

Die zulässigen Klagen sind unbegründet. Nach dem Ergebnis der biomechanischen und medizinischen Begutachtungen haben die Kläger den ihnen obliegenden Nachweis einer unfallbedingten Körper- oder Gesundheitsverletzung nicht führen können.
I.
Auf Grund des Gutachtens des Sachverständigen Dr. A. geht das Gericht davon aus, dass das Klägerfahrzeug bei dem Unfallgeschehen vom 26.08.2005 durch das von hinten auffahrende Beklagtenfahrzeug aus dem Stand abrupt auf eine Geschwindigkeit von maximal 8 km/h beschleunigt wurde. Der Sachverständige hat nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass sich aus dem an den Unfallfahrzeugen entstandenen Kollisionsschadensbild eine maximale Auffahrgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von 17 km/h ergibt und dass hieraus angesichts des Massenverhältnisses der beteiligten Fahrzeuge eine kollisionsbedingte Beschleunigung des Klägerfahrzeugs auf höchstens 8 km/h abgeleitet werden kann. Bei Zugrundelegung der von den Klägern geschilderten jeweiligen (suboptimalen) Sitzposition in ihrem Fahrzeug ist danach von einer kollisionsbedingten Spitzenbeschleunigung im Kopf-Hals-Bereich von 7 g und im Brustwirbelsäulen-Bereich von 8 g auszugehen.
Die danach auf die Kläger einwirkenden Kräfte haben nach Erläuterung des Sachverständigen Dr. A. dazu geführt, dass in einer ersten Phase der Insassenkörper nach der Kollision leicht nach oben gleitet, während sich der Kopf zur Kopfstütze bewegt. Nach dem Maximalandruck des Kopfes an der Kopfstütze (zweite Phase) erfolgt in der dritten Phase eine Bewegungsumkehr durch die Federkräfte von Sitz und Kopfstütze. In allen Phasen wirken Kräfte auf den Kopf-Hals-Bereich des Insassen ein.
II.
Die Kläger, die behaupten, infolge dieses Geschehens eine Körper- oder Gesundheitsverletzung (§ 823 Abs. 1 BGB) erlitten zu haben, sind mit dem Vollbeweis (§ 286 Abs. 1 ZPO) dieses Tatbestandes belastet. Sie müssen also ihre Verletzungen sowie deren Unfallbedingtheit zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen. Dies ist ihnen im Ergebnis nicht gelungen.
1. Unter einer Körper- oder Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB ist nach allgemeiner Auffassung ein Zustand zu verstehen, der von der normalen physischen oder psychischen Beschaffenheit nicht nur unerheblich nachteilig abweicht (vgl. nur Sprau in: Palandt, BGB, 76. Auflage, § 823 Rdnr. 4), im medizinischen Sinn also als unphysiologisch zu gelten hat.
2. Dass sie bei dem Unfall eine körperliche Verletzung erlitten hätten, konnten die Kläger nicht nachweisen.
a) Hinsichtlich des Klägers zu 1) sind die beiden medizinischen Sachverständigen Prof. G. und Dr. F. zum übereinstimmenden Ergebnis gelangt, dass eine morphologische, mit den verfügbaren diagnostischen Methoden feststellbare körperliche Verletzung bei dem Kläger zu 1) am 29.08.2005 nicht vorgelegen hat.
Für diese Einschätzung kann sich das Gericht auch auf die Gutachten von Prof. G. vom 16.08.2015 bzw. 28.04.2017 stützen. Die Zweifel der Kläger an der prozessualen Verwertbarkeit dieser Gutachten teilt das Gericht nicht.
Da die erste Fassung des Gutachtens G. vom 27.02.2015 Bezugnahmen auf Verfahrensergebnisse enthielt, die infolge der Aufhebung der Vorentscheidung mitsamt des zugrunde liegenden Verfahrens nicht mehr verwertbar waren, wurde der Sachverstänge in der mündlichen Verhandlung vom 18.07.2016 auf diesen Umstand hingewiesen und gebeten, die bezeichneten unverwertbaren Elemente seines Gutachtens zu elimieren und sich sodann auf neuer Tatsachengrundlage eine sachverständige Meinung zu bilden. Hierbei handelt es sich um eine nicht nur zulässige, sondern notwendige Präzisierung der Begutachtungsvorgaben an den Sachverständigen, zu denen das Gericht immer dann verpflichtet ist, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass der Sachverständige von unzutreffenden Anknüpfungstatsachen ausgegangen ist.
Dass der Sachverständige Prof. G. und sein Mitarbeiter Prof. H. zu dieser Neubewertung in der Lage waren, steht für das Gericht außer Frage; dies wird auch durch die am 16.08.2016 vorgelegte Neufassung des Gutachtens überzeugend belegt. Die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen hat im Übrigen auch die Klägerseite zu keinem Zeitpunkt in Zweifel gezogen. Folglich war für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht von der Erstfassung dieses Gutachtens vom 27.02.2015, sondern von der Zweitfassung vom 16.08.2016 auszugehen.
b) Was den Kläger zu 2) betrifft, hat der Sachverständige Dr. F. auf Grund der Röntgenaufnahme vom 29.08.2005 bei diesem eine unphysiologische Fehlstellung der Halswirbelkörper 1 und 2 (“Gelenkblockade“) festgestellt, die er auf das Unfallgeschehen zurückführt. Dieser Einschätzung hat jedoch der Mitarbeiter des Sachverständigen Prof. G., Herr Prof. H., widersprochen und mitgeteilt, weder Prof. G. noch er selbst hätten aus orthopädischer oder chirotherapeutischer Sicht eine derartige Fehlstellung beim Kläger zu 2) entdecken können. Den Nachweis einer solchen Fehlstellung hält das Gericht angesichts dessen für nicht geführt, so dass dahinstehen kann, ob sich ein kausaler Zusammenhang zwischen einem derartigen Befund und dem Unfallgeschehen belegen ließe.
3. Aber auch eine mehr als nur unerhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung der Kläger hält das Gericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme für nicht erwiesen.
a) Beide medizinische Sachverständige waren sich einig in der Aussage, dass eine HWS-Distorsion, die morphologisch mit den üblichen diagnostischen Mitteln (Röntgen/MRT/Computertomographie) nicht nachweisbar ist, letztlich eine Plausibilitätsdiagnose auf Grund von Erfahrungswerten darstellt, die sich in erster Linie auf die Beurteilung des Schadensgeschehens und der vom Patienten berichteten Beschwerden stützen muss.
Ob dabei der These des Sachverständigen Dr. F. zu folgen wäre, wonach jeder für einen Auffahrunfall typische Bewegungsablauf auch bei geringsten Geschwindigkeiten zu Mikrotraumata führt, kann an dieser Stelle offen bleiben, da hier von einer Abruptbeschleunigung auf immerhin maximal 8 km/h auszugehen ist. Allerdings haben sowohl der biomechanische Sachverständige Dr. A. als auch der medizinische Sachverständige Prof. G. klar bekundet, dass sie das Entstehen einer HWS-Distorsion angesichts der Gesamtumstände des vorliegenden Falls für völlig unwahrscheinlich halten. Die hier entstandenen Kräfte lägen weit unter den empirisch belegten Werten, bei denen Verletzungen entstünden; vielmehr lägen sie im Bereich normaler alltäglicher
Belastungen. In einer solchen Konstellation sei mit einer HWS-Distorsion allenfalls bei einer drastisch erhöhten Verletzungsanfälligkeit (Vulnerabilität) des Betroffenen zu rechnen. Eine solche sei beim Kläger zu 2) schon aufgrund seines Alter zu verneinen und könne auch beim Kläger zu 1) nur wegen dessen altersbedingter Degenerationserscheinungen oder einer Linksdrehung des Kopfes zum Unfallzeitpunkt ebenfalls nicht angenommen werden.
b) Diese Einschätzung hält das Gericht für überzeugend. Es verkennt dabei nicht, dass beide Kläger nach dem Unfall über Bewegungseinschränkungen und Beschwerden geklagt haben. Allerdings versteht das Gericht die hier einschlägige Rechtsnorm des § 823 Abs. 1 BGB mit der ganz herrschenden Ansicht dahin, dass nur eine mehr als nur unerhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung den Deliktstatbestand erfüllt.
Der Kläger zu 2) hat selbst in seiner Anhörung vom 18.07.2016 bekundet, er sei nach dem Unfall nur einmal bei seinem Hausarzt gewesen. Mangels wesentlicher Beschwerden habe er weitere ärztliche oder therapeutische Hilfe dann nicht mehr in Anspruch genommen. Eine erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung kann das Gericht dieser Schilderung nicht entnehmen.
Auch dem Kläger zu 1) sind gravierendere Beschwerden nach dem Unfall ausweislich seiner eigenen Anhörung nicht erinnerlich geblieben. Er war zwar mehrfach beim Orthopäden, und er hat eine Halskrause und auch krankengymnastische Behandlungen erhalten. Die Stärke seiner Beschwerden sowie die Abgrenzung zu bereits vorhandenen degenerativen Einschränkungen ließen sich aber letztlich kaum objektivieren, während die objektiv belegbaren Rahmenbedingungen des Unfallgeschehens nach Darlegung der Sachverständigen Dr. A. und Prof. H. klar gegen die Unfallbedingtheit seiner Be einträchtigungen sprechen.
Die hiervon abweichende Einschätzung des Sachverständigen Dr. F. erscheint demgegenüber undifferenziert, da sie praktisch bei jedem Auffahrunfall unabhängig von den konkret wirkenden Geschwindigkeiten bzw. Kräften zur Annahme einer HWS-Distorsion führen würde. Dieser Standpunkt ist auch mit der erwähnten deliktsrechtlichen Erheblichkeitsschwelle nicht in Einklang zu bringen. Ebenso wenig, wie sich der Einzelfall allein auf Grund eines starren Bagatellgrenzwerts der Differenzgeschwindigkeit beurteilen lässt, kann umgekehrt das Kriterium der Differenzgeschwindigkeit bei der Einzelfallbetrachtung praktisch ausgeblendet werden, zumal es häufig – so auch im vorliegenden Fall – das einzige einigermaßen verlässliche Datum bei der Beurteilung des Verletzungsgeschehens darstellt.
Im Ergebnis konnte sich das Gericht daher bei keinem der Kläger von der unfallbedingten Entstehung einer HWS-Distorsion überzeugen. Sollten die Kläger Bewegungseinschränkungen oder Beschwerden verspürt haben, die mit dem Unfall in Zusammenhang standen, wären diese jedenfalls unterhalb der Erheblichkeitsschwelle des § 823 Abs. 1
BGB geblieben. Eine Rechtsgutsverletzung im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB war danach nicht feststellbar.
4. Eine weitere Beweiserhebung war nicht veranlasst.
Inwiefern sich die Fahrzeugsitze des Unfallfahrzeugs von denen des Fahrzeugs unterschieden, das der Sachverständige Dr. A. bei seiner Begutachtung verwendet hat, bedarf keiner weiteren Aufklärung. Der Sachverständige Dr. A. hat in seinen Stellungnahmen vom 12.09.2013 (dort Seite 4 ff) und vom 22.01.2014 überzeugend dargelegt, warum diese Frage für das Begutachtungsergebnis nicht ausschlaggebend ist.
III.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 91 Abs. 1 ZPO.
Die Kosten der beiden Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht München (Az. 10 U 5036/08 und 10 U 1995/11) waren gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG niederzuschlagen.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 Satz 1 ZPO.


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