Sozialrecht

Minderung des Arbeitslosengeld II – Nichtantritt einer Arbeitsgelegenheit gegen Mehraufwandsentschädigung – Erledigung der Wirksamkeit des Zuweisungsbescheides durch Zeitablauf – inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit des Zuweisungsbescheids durch das Gericht – nicht bestandskräftiger Sanktionsbescheid – Prüfung Härtefall und nachträgliches Wohlverhalten im Sinne des BVerfG

Aktenzeichen  S 34 AS 751/16

Datum:
28.3.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG Magdeburg 34. Kammer
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:SGMAGDE:2022:0328.S34AS751.16.00
Normen:
§ 31 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB 2
§ 31a SGB 2
§ 16d SGB 2
§ 39 Abs 2 SGB 10
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

1. Die Erledigung der Wirksamkeit eines Zuweisungsbescheides nach § 16d SGB II durch Zeitablauf im Sinne von § 39 Abs 2 SGB X steht einer Minderungsentscheidung nach §§ 31 ff SGB II nicht entgegen. (Rn.31)


2. Vielmehr erfordert die gerichtliche Überprüfung einer Sanktion im Wege einer Anfechtungsklage die inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit der zugrundeliegenden Zuweisungsentscheidung (offen gelassen für den Eingliederungsverwaltungsakt: BSG vom 13.4.2011 – B 14 AS 101/10 R = SozR 4-4200 § 16 Nr 8). (Rn.31)


3. Auch bei nicht bestandskräftigen Sanktionsentscheidungen ist die Prüfung eines Härtefalls und des nachträglichen Wohlverhaltens der Leistungsberechtigten im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Erwägung zu ziehen sein (entgegen LSG Halle (Saale) vom 17.6.2020 – L 4 AS 709/15). Die Frage kann offenbleiben, wenn im konkreten Einzelfall aus dem Gesamtzusammenhang Wohlverhaltensbemühungen nicht erkennbar sind. (Rn.45)

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.
Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Minderung ihrer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende – SGB II) für die Zeit vom 1. September bis zum 30. November 2015.
Die 1965 geborene Klägerin lebt in T. und war seit 1992 nicht mehr auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig gewesen. Als sogenannte Langzeitarbeitslose stand sie seit 2005 fortlaufend im SGB II-Leistungsbezug. Für den streitgegenständlichen Zeitraum der Minderung der Leistungen gewährte der Beklagte der Klägerin mit bestandskräftigem Bescheid vom 4. März 2015 Leistungen in Höhe von monatlich insgesamt 670,67 Euro für die Zeit vom 1. April 2015 bis zum 31. März 2016. Dieser Betrag setzt sich zusammen aus dem Regelbedarf in Höhe von 399,00 Euro (Regelbedarfsstufe 1) sowie den Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 271,67 Euro.
Eine Eingliederungsvereinbarung haben die Beteiligten für den streitbefangenen Zeitraum nicht geschlossen.
Mit Bescheid vom 6. März 2015 wies der Beklagte der Klägerin eine Arbeitsgelegenheit (AGH) bei der Lebenshilfe T. unter den Maßnahmennummer 048/1754/15 mit einem Umfang von 20 Stunden in der Woche und einer Mehraufwandsentschädigung in Höhe von 1,25 Euro pro Stunde für die Dauer vom 1. April 2015 bis zum 31. März 2016 (12 Monate) zu. Die Kurzbezeichnung der Maßnahme lautete: „…Mithilfe bei der Bereitstellung von Leistungen, die die Mobilität und Teilhabe behinderter Menschen am öffentlichen Leben fördern – Wohnverbund…“. Die Tätigkeit war als „Sozialassistent/in“ bezeichnet und die Tätigkeit als „zusätzliche Betreuung der Bewohner“ beschrieben. Der Bescheid enthielt eine Rechtsfolgenbelehrung dahingehend, dass die Klägerin verpflichtet sei, ihre Arbeitskraft zur Sicherstellung des Lebensunterhalts einzusetzen und ein, eine Leistungsminderung nach sich ziehender Pflichtverstoß vorliege, wenn die Klägerin die ihr „…zugewiesene Arbeitsgelegenheit als Sozialassistentin…“ nicht aufnehme.
Mit einem weiteren Bescheid vom 18. März 2015 wies der Beklagte die Klägerin erneut der oben beschriebenen Maßnahme, jedoch unter der Maßnahmennummer 048/1753/15, zu. Abweichend enthält der Bescheid vom 18. März 2015 die Kurzbezeichnung der Maßnahme als „…Hol-, Bringe- und Begleitdienste, Assistenzleistungen in den Werkstätten für behinderte Menschen…“ sowie die Tätigkeitsbeschreibung als „… zusätzliche Betreuung in der Werkstatt für behinderte Menschen…“. Auch diesem Schreiben war eine Rechtsfolgenbelehrung über die Minderung der Leistung für den Fall, dass die Klägerin ohne wichtigen Grund die Maßnahme nicht antrete, angefügt.
Hiergegen wendete sich die Klägerin mit Schreiben vom 25. März 2015 und vom 2. April 2015. Sie habe sich am 17. und am 24. März 2015 bei der Lebenshilfe vorgestellt und sei nur unter Vorbehalt bereit, die Maßnahme anzutreten. Sie erbitte sich von dem Beklagten eine „…ausführliche und begründete Definition des Integrationszieles der Maßnahme…“. Weiterhin erklärte sie: „…Was die Geeignetheit der Maßnahme für mich anbelangt, kann ich im Hinblick auf meine beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten nach den Gesprächen … [bei der Lebenshilfe] …nicht erkennen, wie die vom Träger beschriebenen Arbeiten mich in den Arbeitsmarkt integrieren helfen können, zumal mit dem Ziel eines Einsatzes als Personalreferent, den [sic!] ich nach wie vor verfolge. […] Aus den o.g. Gründen teile ich Ihnen mit, dass ich eine derartige Eingliederungsvereinbarung nicht unterschreibe und es mit der Zuweisung bei dem Verwaltungsakt belasse. […] Ein Baustein in den ersten Arbeitsmarkt hat sich für mich aus den Verhandlungen mit der „Lebenshilfe“ nicht ergeben und ich konnte darin keinen geeigneten Weg in ein Beschäftigungsverhältnis erkennen. […] Der Arbeitgeber […] wollte nach einem persönlichen Gespräch am 01.04.2015, zu seiner eigenen Absicherung meine Vorbehaltserklärung in den Vertrag nicht aufnehmen. Damit ist kein schriftlicher Vertrag mit dem Träger zustandegekommen, und er hat auch unter diesen Umständen keine Arbeitsaufnahme gewollt…“.
Der Maßnahmeträger berichtete dem Beklagten in einer eMail vom 1. April 2015 (Band IV, Blatt 38 des Verwaltungsvorgangs): „…Frau […] hat die Maßnahme nicht begonnen. Bedingung ihrerseits war die Aufnahme eines zusätzlichen Satzes in unsere Vereinbarung: „Dem Träger sind meine Einwände gegen diese AGH (Maßnahme-Nummer: 048/1753/15) bekannt. Er ist informiert über lfd. Widerspruchsverfahren bezüglich der Rechtmäßigkeit. Die Maßnahme trete ich nur unter Vorbehalt an.“ Nachdem wir diesen Zusatz nicht in unseren Vertrag aufgenommen haben, unterschrieb sie die Vereinbarung nicht …“. Ein neuer Zuweisungsbescheid sei erforderlich.
Der Beklagte teilte der Klägerin mit Schreiben vom 12. August 2015 mit, dass ein rechtliches Interesse an der Prüfung der Rechtsmäßigkeit des Zuweisungsbescheides nicht mehr erkennbar sei, da die Klägerin die Tätigkeit nicht aufgenommen habe. Das Widerspruchsverfahren werde auf diesem Wege beendet. Darauf reagierte die Klägerin nicht.
Der Beklagte hörte die Klägerin zu der nicht angetretenen Arbeitsgelegenheit bei der Lebenshilfe an. Die Klägerin verwies auf ihre Ausführungen im Widerspruchsverfahren.
Mit Bescheid vom 17. August 2015 stellte der Beklagte eine Minderung der Leistungen der Klägerin für den Zeitraum vom 1. September bis zum 30. November 2015 um monatlich 30 Prozent, mithin in Höhe von monatlich 119,70 Euro, fest und hob die Leistungsbewilligung vom 4. März 2015 für diesen Zeitraum entsprechend auf.
Dieser Entscheidung widersprach die Klägerin mit Schreiben vom 25. August 2015. Sie weise „…die Unterstellung, eine zumutbare Maßnahme abgelehnt zu haben, vehement zurück…“. Der Arbeitgeber habe ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht abschließen wollen. Die Förderungsziele seien ihr unbekannt. Ihr stelle sich die Frage nach der effektiven und zielführenden Nutzung der Steuermittel.
Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2. Februar 2016 (W 1136/15) zurück. Nach Auffassung des Beklagten sei die Maßnahme der Klägerin zumutbar gewesen. Jede Arbeit sei grundsätzlich zumutbar. Die Klägerin sei als Langzeitarbeitslose mit der fehlenden Berufserfahrung schwer in den Arbeitsmarkt integrierbar. Ein wichtiger Grund, die Arbeitsgelegenheit nicht angetreten zu haben, habe nicht vorgelegen. Nach Auffassung des Beklagten habe die Klägerin bei der Arbeitsgelegenheit bei der Lebenshilfe ihre sozialen Kompetenzen im Umgang mit Menschen zum Einsatz bringen können. Eine Maßnahme auf dem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt diene in erster Linie der Heranführung an die Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes und nicht vorranging dem Integrationsziele.
Gegen den Bescheid vom 17. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2016 (W 1136/15) hat die Klägerin am 2. März 2016 Klage vor dem Sozialgericht Magdeburg erhoben.
Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin trägt vor, dem Verwaltungsvorgang sei der Bescheid vom 6. März 2015 nicht zu entnehmen. Aus dem Schreiben der Klägerin gehe jedoch hervor, dass sie ihren Widerspruch gegen einen Bescheid vom 6. März 2015 richte. Der Minderungsbescheid sei schon deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte über den Widerspruch gegen den Zuweisungsbescheid nicht förmlich entschieden habe. Ohne Bestandskraft des Zuweisungsbescheides könnten hieraus Konsequenzen nicht erwachsen. Zudem habe die Klägerin die Arbeitsgelegenheit nicht antreten müssen, wenn diese ihre Rechte unzumutbar beeinträchtigten. Soweit der Beklagte behaupten sollte, dass der Vertrag nicht nachteilig und für die Klägerin zumutbar war, sei der Beklagte darlegungspflichtig, dass ein geeigneter Träger und eine geeignete Maßnahme vorgelegen haben. Der Beklagte habe trotz Aufforderung den Arbeitsvertrag nicht vorgelegt.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 17. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2016 (W 1136/15) aufzuheben und der Klägerin die Leistungen nachzuzahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält an seiner Entscheidung im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren fest. Die Rechtmäßigkeit der Maßnahme sei nicht Tatbestandsmerkmal der Minderungsvorschrift. Gleichwohl liege die Zumutbarkeit der Maßnahme vor. Aus dem vorgelegten Förderbescheid vom 4. März 2015 ergebe sich, dass die Maßnahme zusätzlich gewesen sei. Die Klägerin habe bislang nicht dargelegt, weswegen die Maßnahme für sie unzumutbar gewesen sein soll. Erwerbsfähige Hilfebedürftige hätten keinen Anspruch darauf, dass ihre spezifischen Berufswünsche Berücksichtigung finden. Der Beklagte geht davon aus, dass die Klägerin durch ein querulatorisches Verhalten, in die Vereinbarung müsse eine Klausel über den Vorbehalt der Rechtmäßigkeit aufgenommen werden, dafür gesorgt habe, dass der Maßnahmeträger nicht mehr bereit gewesen sei, die Klägerin im Rahmen einer AGH zu beschäftigen.
In einem Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 25. August 2016 hat der Beklagtenvertreter die Zuweisungsbescheide vom 6. März und vom 18. März 2015 vorgelegt. In diesem Termin hat die Klägerin unter anderem Folgendes zu Protokoll gegeben: „…Im letzten Gespräch mit […], das war der Tag, an dem ich die Tätigkeit beginnen sollte, hatte er mir gesagt, dass er befürchte, dass die Tätigkeit als sozialversicherungspflichtige Beschäftigung angesehen wird und ich nach Hause gehen solle. Ich habe aus seinen Äußerungen entnommen, dass er mich nicht beschäftigen wollte. […] Ich musste davon ausgehen, dass ich eine Tätigkeit bei der Lebenshilfe nicht ausüben kann…“.
Der Beklagte hat auf Nachfrage des Gerichts mit Schriftsatz vom 21. Januar 2022 den Förderbescheid zur streitgegenständlichen Maßnahme vorgelegt.
Die Gerichtsakte und der beigezogene Verwaltungsvorgang der Beklagten (Leistungsakte Blatt 1 bis 577, verteilt auf die Bände I bis II und Ergänzungsband zu II sowie Band IV [Bl. 1 bis 60]) haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.
Die zulässige Klage ist unbegründet, § 54 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
1.
Streitgegenständlich ist der Bescheid vom 17. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2016 (W 1136/15); bezogen auf den Bewilligungszeitraum vom 1. September bis zum 30. November 2015. Eine isolierte Anfechtung des Sanktionsbescheides ist hier zulässig, da in diesem Bescheid von einer Umsetzung der Feststellung abgesehen wird (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 29. April 2015 – B 14 AS 19/14 R). Statthafte Klageart für den streitgegenständlichen Zeitraum ist die Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG (vgl. BSG, Urteil vom 13. April 2011 – B 14 AS 101/10 R; Urteil vom 29. April 2015 – B 14 AS 19/14 R; Urteil vom 23. Juni 2016 – B 14 AS 30/15 R).
2.
Der Bescheid vom 17. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2016 (W 1136/15) ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
a) Die Voraussetzungen für die Minderung der bewilligten Leistungen nach §§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 31a SGB II liegen vor. Eine Pflichtverletzung ist zu bejahen, wenn sich Leistungsberechtigte trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung oder Arbeitsgelegenheit aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern.
aa) Der Beklagte hat die Klägerin zuletzt mit Bescheid vom 18. März 2015 einer AGH nach § 16d SGB II zugewiesen. Die Zuweisung ist nicht zu beanstanden.
(1) Die Klägerin hat beide Zuweisungsbescheide angefochten. Dies lässt sich aus den Schreiben vom 25. März und vom 2. April 2015 schließen. Eine finale Zuweisungswirkung hat der Bescheid vom 18. März 2015 entfaltet, da er den vom 6. März 2015 ersetzt hat.
Zwar handelt es sich bei einer Mitteilung über eine AGH grundsätzlich nur um ein Angebot, welches kein Verwaltungsakt ist (vgl. Landessozialgericht [LSG] Hamburg, Beschluss vom 8. März 2006 – L 5 B 344/05 ER AS). Der Leistungsträger kann jedoch davon abweichend im Einzelfall die geplante Maßnahme als Zuweisung im Sinne eines Verwaltungsaktes ausgestalten (Hahn in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 16d, Rn. 33). Lediglich ein Schreiben, dass die AGH nicht konkret genug beschrieben hätte, wäre nicht als Verwaltungsakt einzustufen (BSG, Urteil vom 27. August 2011 – B 4 AS 1/10 R; Anm. zu BSG, Urteil vom 13. April 2011 – B 14 AS 101/10 R: Harks, jurisPR-SozR 5/2012, 1) Davon ist hier jedoch nicht auszugehen. Der Beklagte hat die Maßnahme so umfassend umschrieben und das Schreiben mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen, dass die Anforderungen an einen Verwaltungsakt nach § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – SGB X) erfüllt sind.
Die Bestandskraft des Zuweisungsbescheides bewirkt zunächst den Rechtsgrund der AGH und die Grundlage für eine Entschädigung nach § 16d Abs. 7 Satz 1 SGB II als Leistungsbegehren (vgl. BSG, Urteil vom 22. August 2013 – B 14 AS 75/12 B; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 10. Juni 2020 – L 5 AS 23/16). Hier begehrt die Klägerin jedoch keine Zahlung, sondern wendet sich im Wege der Anfechtungsklage gegen die Folgen der nichterfüllten Zuweisung. Soweit die Klägerin vorträgt, die Bestandskraft des Zuweisungsbescheides sei nicht eingetreten, da das Widerspruchsverfahren nicht abgeschlossen worden sei, kann der Klägerin nicht gefolgt werden. Der Zuweisungsbescheid begrenzte den Zeitraum der AGH auf 12 Monate, beginnend zum 1. April 2015. Da die Klägerin die Maßnahme nicht begonnen hat, hat sich die Wirksamkeit des Zuweisungsbescheides auf sonstige Weise durch zeitlichen Ablauf erledigt, § 39 Abs. 2 SGB X. Eines ausdrücklichen Widerspruchsbescheides hat es nicht bedurft. Ein sogenannter Fortsetzungsfeststellungswiderspruch ist der Prozessordnung fremd (B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 85, Rn. 2e). Mit Schreiben vom 12. August 2015 hat der Beklagte die Klägerin über den Abschluss des Widerspruchsverfahrens informiert. Einen Rechtbehelf hiergegen hat die Klägerin nicht ergriffen.
Eine zeitliche Erledigung des Zuweisungsbescheides lässt eine Leistungsminderung aufgrund einer Sanktion nach §§ 31 ff. SGB II nicht entfallen. Auf die Bestandskraft kommt es – anders als in den Fällen der Leistungsentschädigung (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 10. Juni 2020 – L 5 AS 23/16) – nicht an, da bei der Frage der Rechtmäßigkeit der Sanktion die Rechtmäßigkeit der Zuweisung inzidenter geprüft wird. Eine Sanktionsentscheidung darf schließlich nicht auf eine rechtswidrige AGH gestützt werden (vgl. BSG, Urteil vom 13. April 2011 – B 14 AS 101/10 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. Dezember 2018 – L 7 AS 2451/17; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 29. Januar 2019 – L 11 AS 877/18; Hahn in Eicher/Luik/Harich, 5. Auflage 2021, § 31, Rn. 33; Harks in JurisPK-SGB II, § 16d, Rn. 37; Berlit, info also 2020, 19 (22); a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Juni 2018 – L 31 AS 671/18 B ER; krit. hierzu Schweigler, info also 2018, 205 ff.).
(2) Die Voraussetzungen für die AGH nach § 16d SGB II liegen vor. Insbesondere war die von dem Beklagten zugewiesene AGH zusätzlich im Sinne von § 16d SGB II.
Nach § 16d SGB II können Leistungsberechtigte zur Erhaltung oder Wiedererlangung ihrer Beschäftigungsfähigkeit, die für eine Eingliederung in Arbeit erforderlich ist, in Arbeitsgelegenheiten zugewiesen werden, wenn die darin verrichteten Arbeiten zusätzlich sind, im öffentlichen Interesse liegen und wettbewerbsneutral sind. Zusätzlich sind die Arbeiten im Rahmen einer AGH nach der seit dem 1. April 2012 geltenden Legaldefinition, wenn sie ohne die Förderung nicht, nicht in diesem Umfang oder erst zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden, § 16d Abs. 2 Satz 1 SGB II. Das Kriterium soll Verdrängungs- und Mitnahmeeffekte verhindern (Harks in JurisPK-SGB II, § 16d, Rn. 41).
Bezogen auf den Einzelfall ist es nicht Aufgabe der Klägerin gewesen, die Voraussetzungen des § 16d SGB II zu prüfen. Diese Aufgabe liegt in der Verantwortung des Beklagten als Leistungsträger. Hierzu hat zur Überzeugung der Kammer der Beklagte Nachweise vorgelegt, die die Zusätzlichkeit und die Wettbewerbsneutralität der zugewiesenen AGH zur Überzeugung der Kammer bestätigen. In dem Antrag auf Förderung einer AGH hat der Maßnahmeträger unter anderem auch eine Unbedenklichkeitsbescheinigung der Industrie- und Handelskammer als gegeben bejaht. Zweifel bestehen an der Zusätzlichkeit bestehen nach Vorlage der Nachweise vor der mündlichen Verhandlung nicht (mehr), so dass sich die Kammer zu weiteren Ermittlungen nicht veranlasst gesehen hat.
Am Vorliegen der übrigen Voraussetzungen nach § 16d SGB II bestehen keine Zweifel. Insbesondere war aufgrund der langen Erwerbslosigkeit der Klägerin seit 1992 anzunehmen, dass die AGH der Erhaltung oder der Wiedererlangung der Beschäftigungsfähigkeit dienen sollte. Der Beklagte hat bei seiner Entscheidung Ermessen ausgeübt, spätestens bei der inzidenten Prüfung der Rechtmäßigkeit der Sanktionsentscheidung im Widerspruchsverfahren W 1136/15 (vgl. Widerspruchsbescheid vom 2. Februar 2016, Seite 3).
bb) Die Nichtaufnahme der AGH bei dem Maßnahmeträger, der Lebenshilfe T., stellt eine solche Pflichtverletzung im Sinne des § 31 SGB II dar. Ein „Nichtantritt“ liegt vor, wenn der erwerbsfähige Leistungsberechtigte die Maßnahme nicht zum vorgesehenen Termin aufnimmt und hierauf der Schluss gezogen werden kann, dass er oder sie an der Maßnahme nicht teilnehmen wird. Dass der Maßnahmeträger einen „Arbeitsvertrag“ mit der Klägerin nicht abschließen wollte, steht dieser Tatsache nicht entgegen. Zum einen bewirkt der Zuweisungsbescheid die Pflicht der Klägerin die AGH anzutreten, insbesondere, weil die Maßnahme zumutbar ((1)) gewesen ist. Das Verhalten der Klägerin, eine besondere Klausel in die Vereinbarung mit dem Maßnahmeträger aufnehmen zu wollen, hat kausal zu dem Nichtbeginn der AGH geführt. Dieses Verhalten ist der Klägerin und nicht dem Maßnahmeträger zuzurechnen. Schließlich kann ein aktives – mit den Worten des Beklagten „querulatorisches“ – Verhindern der Zusammenarbeit trotz entsprechende Rechtsfolgenbelehrung ((2)) nicht sanktionslos bleiben.
(1) Die Maßnahme war der Klägerin zumutbar. Zumutbar ist jede Arbeit, § 10 Abs. 1 SGB II. Unzumutbarkeitsgründe nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 SGB II liegen nicht vor. Nach Einschätzung der Kammer wäre die Klägerin körperlich, geistig und seelisch in der Lage gewesen, die vorgesehenen Arbeiten (Hole- Bringe, Begleitdienste, Assistenzleistungen und Betreuung der Menschen mit Behinderungen) zu erbringen. Die Klägerin hat zu keinem Zeitpunkt vorgetragen, hierzu nicht in der Lage gewesen zu sein. Vielmehr hinterfragte die Klägerin das Integrationsziel. Nach § 10 Abs. 2 Nr. 1 SGB II ist aber eine Arbeit nicht allein deshalb unzumutbar, weil sie nicht einer früheren beruflichen Tätigkeit entspricht (Böttiger in Eicher/Luik/Harich, 5. Auflage 2021, § 10, Rn. 33).
(2) Der Beklagte hat die Klägerin über die Folgen der Nichtaufnahme der AGH belehrt. Die in dem maßgeblichen Zuweisungsbescheid vom 18. März 2015 enthaltene Rechtsfolgenbelehrung ist nicht zu beanstanden. Sie entspricht den Anforderungen an die Vorgaben aus dem Gesetz und der Rechtsprechung.
Eine wirksame Belehrung setzt voraus, dass sie im Einzelfall konkret, richtig und vollständig ist und zeitnah im Zusammenhang mit dem jeweils geforderten Verhalten erfolgt sowie der oder dem Leistungsberechtigten – auch im Hinblick auf deren geistige Fähigkeiten – in verständlicher Form erläutert, welche unmittelbaren und konkreten Auswirkungen sich aus der Weigerung des geforderten Verhaltens für ihn ergeben (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008 – B 4 AS 60/07 R; Hahn in Eicher/Luik/Harich, 5. Auflage 2021, § 31, Rn. 33; Berlit, info also 2020, 19 (20)). Für die Klägerin war verständlich formuliert, dass bei Nichtaufnahme der Tätigkeit bei der Lebenshilfe, ein Sanktionstatbestand erfüllt sei, und die Tatsachen für das Vorliegen eines wichtigen Grundes darzulegen und nachzuweisen habe.
(3) Ein wichtiger Grund im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II, die AGH nicht anzutreten, hat der Klägerin nicht zur Seite gestanden.
Der unbestimmte Rechtsbegriff des „wichtigen Grundes“ unterliegt der vollständigen Überprüfung durch die Gerichte (Hahn in Eicher/Luik/Harich, 5. Auflage 2021, § 31, Rn. 63; Berlit, info also 2020, 19 (21)). Wichtige Gründe können alle Umstände des Einzelfalls sein, die unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Leistungsberechtigten in Abwägung mit etwa entgegenstehenden Belangen der Allgemeinheit das Verhalten des Leistungsberechtigten rechtfertigen. Rein persönliche Vorstellungen der privaten und beruflichen Lebensführung stellen in der Regel keinen wichtigen Grund dar (Hahn in Eicher/Luik/Harich, 5. Auflage 2021, § 31, Rn. 65). Das Ziel einer AGH ist – wie der Beklagte im Widerspruchsbescheid zurecht festgehalten hat – nicht die Integration in den Wunschberuf der Leistungsberechtigten, sondern die Erhaltung oder Wiederherstellung der Befähigung ihrer Erwerbsfähigkeit, § 16d Abs. 1 Satz 1 SGB II. Daher sind die Zweifel der Klägerin an dem Integrationsziel und deren Besorgnis um den Einsatz von Steuermitteln unbegründet.
Zu keiner Zeit hat die Klägerin vorgetragen, dass mit der AGH etwa ihre Grundrechte tangiert sein könnten. Auf das subjektive Empfinden der Klägerin kommt es nicht an. Ein wichtiger Grund muss objektiv vorliegen (Hahn in Eicher/Luik/Harich, 5. Auflage 2021, § 31, Rn. 66).
Soweit die Klägerin vorträgt, der Beklagte hätte spätestens im Gerichtsverfahren einen Arbeitsvertrag zum Nachweis über die Anforderungen an die AGH vorlegen müssen, geht dies schon deshalb fehl, da ein Arbeitsvertrag für den Beginn einer AGH nicht erforderlich ist. Hier ist der Zuweisungsbescheid maßgebend. Die AGH beruht nicht in der Verschaffung einer auf einem privatrechtlichen Arbeitsvertrag vereinbarten Beschäftigungsmöglichkeit, sondern in der öffentlich-rechtlichen Bereitstellung einer Arbeitsgelegenheit (vgl. BSG, Urteil vom 27. August 2011 – B 4 AS 1/10 R; BAG vom 8. November 2006 – 5 AZB 36/06) im Rahmen eines Sozialrechtsverhältnisses. Dafür, dass der Maßnahmeträger mit der Klägerin ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis eingehen wollte, bestehen keine Anhaltspunkte. Vielmehr hat der Maßnahmeträger gegenüber dem Beklagten mit eMail vom 1. April 2015 zum Ausdruck gebracht, dass es eines neuen Zuweisungsbescheides für den Antritt der bereitgestellten Arbeitsgelegenheit bedürfe. Im Übrigen hatte die Klägerin lediglich eine „Vereinbarung“ mit dem Maßnahmeträger schließen sollen. In der Gesamtbetrachtung des Einzelfalls, der sich auf den Inhalt der Akten begründet, kommt die Kammer zu dem Schluss, dass ein wichtiger Grund für den Nichtantritt nicht darin zu sehen ist, dass schließlich der Maßnahmeträger nicht mit der Klägerin zusammenarbeiten wollte. Vielmehr hat das Verhalten der Klägerin (Aufnahme einer zusätzlichen Klausel in die Vereinbarung und der formulierte Vorbehalt des Maßnahmeantritts) für den Nichtbeginn der Maßnahme gesorgt. Das ist der Klägerin zuzurechnen. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II ist darin nicht zu sehen.
b) Die Leistungsminderungsentscheidung ist auch in ihrer Umsetzung nicht zu beanstanden. Sie ist innerhalb von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Pflichtverletzung im April 2015 erfolgt, § 31b Abs. 1 Satz 5 SGB II. Nach § 31b Abs. 1 Satz 1 SGB II mindert sich der Auszahlungsanspruch mit Beginn des Kalendermonats, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes folgt. Die Leistung wurde ab dem Folgemonat der Bekanntgabe des Bescheides vom 17. August 2015, mithin ab September 2015 für drei Monate gemindert. Der Beklagte minderte zurecht – auf der ersten Stufe – die Leistung in Höhe von monatlich 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs (119,70 Euro), § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II.
c) Der Entscheidung stehen verfassungsrechtliche Bedenken nicht entgegen. Das Bundesverfassungsgericht hat am 5. November 2019 auf Vorlage des Sozialgerichts (SG) Gotha (Vorlagebeschluss vom 2. August 2016 – S 15 AS 5157/14) über die Verfassungsmäßigkeit der Sanktionstatbestände entschieden und eine Weitergeltungsanordnung getroffen (1 BvL 7/16). Nichtbestandskräftige Bescheide über eine Leistungsminderung nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II – wie hier – bleiben wirksam. Umstritten ist jedoch, ob bei nicht am 5. November 2019 bestandskräftigen Bescheiden und abgelaufenen Sanktionszeiträumen durch die Gerichte noch eine Prüfung vorzunehmen ist, ob Umstände vorliegen, die zu einer außergewöhnlichen Härte führen oder geführt haben, oder ob sich der bzw. die Leistungsberechtigte nachträglich ernsthaft und nachhaltig bereit erklärt hat, seine Pflichten zu erfüllen bzw. die Mitwirkungspflicht tatsächlich erfüllt hat (bejahend: Berlit in LPK-SGB II, 7. Auflage 2021, § 31b SGB II, Rn. 28; SG Hamburg, Urteil vom 24. September 2020 – S 58 AS 369/17; verneinend: LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17. Juni 2020 – L 4 AS 709/15).
Eine Entscheidung über die rückwirkende Anwendung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 auf nicht bestandskräftige Sanktionsbescheide sollte in jedem Fall erwogen werden. Ein Verstoß gegen Obliegenheitspflichten kann grundsätzlich unter bestimmten tatsächlichen Umständen rehabilitiert werden; auch vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Eine abschließende Entscheidung kann jedoch in dem hier vorliegenden Fall offenbleiben. Aus der Gesamtschau des Verwaltungsvorgangs und dem Vortrag im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 25. August 2016 zeigte die Klägerin keine ernsthafte und nachhaltige Bereitschaft, ihre Pflichten (zu einem späteren Zeitpunkt) zu erfüllen. Auch ist eine außergewöhnliche Härte weder vorgetragen noch erkennbar.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
III.
Die Berufung ist nicht zulässig, da der Berufungsstreitwert von 750,00 Euro nicht erreicht ist, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr.1, Satz 2 SGG. Die Berufung war auch nicht zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Entscheidung nicht von der Rechtsprechung höherinstanzlicher Gerichte abweicht.


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