Aktenzeichen L 19 R 1220/13
Leitsatz
Für die Frage der Rentengewährung ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, dass psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant werden, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann – weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 14 R 80/11 2013-11-19 GeB SGWUERZBURG SG Würzburg
Tenor
I.
Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 19.11.2013 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten ihr Einverständnis damit erklärt hatten (§ 124 Abs. 2 i. V. m. § 153 Abs. 1 SGG).
Gemäß § 43 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersrente Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie 1. voll erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gelten, hat die Klägerin nach der aktuellen Auskunft der Beklagten für alle in Frage kommenden Leistungszeitpunkte erfüllt, offensichtlich weil sie weiterhin im Homeoffice arbeitet und dabei Beiträge entrichtet werden. Eine Anwendung von § 241 Abs. 2 SGB VI würde dagegen nicht in Betracht kommen, da die Klägerin nicht zu dem dort erfassten Personenkreis gehört, nachdem sie zum 01.01.1984 noch nicht die allgemeine Wartezeit erfüllt gehabt haben konnte.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ergänzend führt § 43 Abs. 3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Die Klägerin, die als Antragstellerin den Nachweis der Leistungsvoraussetzungen zu erbringen hat, hat zur Überzeugung des Senats weder das Vorliegen einer dauerhaften zeitlichen Einschränkung ihrer Erwerbsfähigkeit an geeigneten Arbeitsplätzen nachweisen können, noch belegen können, dass die Anforderungen an die Arbeitsbedingungen, die sich aus ihren Gesundheitsstörungen ergeben, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht beachtet werden können. Nach der Zusammenschau der gutachterlichen Feststellungen verbleibt es vielmehr dabei, dass die Klägerin noch in der Lage ist, wenigstens 6 Stunden täglich leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Dabei ist ihr häufiges Heben, Tragen und Bewegen von schweren Lasten ohne Hilfsmittel nicht möglich. Weiter ist zu beachten, dass die Einwirkung von inhalativen Chemikalien oberhalb des typischen Innenraumluftkonzentrationsbereiches unterbleibt. Der Klägerin dürfen außerdem besondere nervliche Belastungen wie Zeitdruck insbesondere Akkord- oder Fließbandarbeit, stress- und konfliktreiche Arbeit wie umfangreicher Publikumsverkehr, komplexe Arbeitsvorgänge oder Verantwortung für Personen sowie Nachtschicht, Arbeit an laufenden Maschinen, Unfallgefährdung und Lärm nicht zugemutet werden.
Der Senat stützt sich wesentlich auf die Feststellungen der gerichtsärztlichen Sachverständigen Prof. Dr. S. und Dr. C … Aus diesen Gutachten wird ersichtlich, dass es entgegen der Ansicht der Klägerseite nicht um einen Gutachterstreit geht, in dem die Ansichten von Umweltmedizinern und Psychiatern zu unterschiedlichen Krankheitsbewertungen und sozialmedizinischen Folgerungen führen. Vielmehr wird deutlich, dass für die von Dr. D. auf der Grundlage von Angaben des Dr. B. und der Reha-Klinik N. getätigten Feststellungen ein hinreichender Nachweis nicht als geführt angesehen werden kann. Bei der Klägerin ließen sich keine Umwelteinflüsse gesundheitlichen Folgen zuordnen und eine daraus resultierende Schwäche der körperlichen Leistungsfähigkeit nicht mit hinreichender Sicherheit belegen. Vielmehr wird spekulativ eine Reihe möglicher weitzurückliegender Auslöser (Schwimmbadbesuche in der Jugend) in den Raum gestellt. Die umweltmedizinisch feststellbaren allergischen Reaktionen sind nach den Ausführungen des Dr. C. erst jenseits einer arbeitsplatzüblichen Innenluft mit alltäglichen Stoffkonzentrationen nachvollziehbar, so dass es ausreicht, durch qualitative Anforderungen an die Arbeitsbedingungen eine weitergehende Schadstoffkonzentration auszuschließen. Dabei wird nicht in Abrede gestellt, dass der Alltag der Klägerin massiv durch ihren Umgang mit möglichen schädlichen Einflüssen geprägt ist und von einer extremen Schonhaltung gekennzeichnet ist. Die entsprechenden Beschreibungen aus der Reha-Maßnahme belegen dies. Zusätzliche Beschreibungen hierzu aus dem familiären Umfeld sind somit entbehrlich. Eine objektive Erforderlichkeit von Einschränkungen in diesem Umfang ist damit aber nicht belegt und selbst in der testpsychologischen Untersuchung in der Praxis Dr. B. im Juli 2008 fanden sich durchschnittliche Werte der Leistung und Konzentration. Vielmehr hat Prof. Dr. S. nachvollziehbar herausarbeiten können, dass die Klägerin durch sekundären Krankheitsgewinn in ihrer psychischen Fehlhaltung bestärkt wird und psychosomatisch auf Veränderungen und Belastungen reagiert. Auch wenn dies nicht bewusstseinsnahe oder sonst vorwerfbare Vorgänge sind, so sind sie nach diesen Darlegungen für eine psychosomatische Behandlung nicht von vornherein unzugänglich, sondern treffen auf eine realistische Behandlungsoption. Hinzu kommt noch, dass für einzelne Symptombilder in ihrer Entwicklung und ihren Verläufen sich aufdrängt, dass hier auch eine – zumindest unterstützende – Selbstinduzierung erfolgt sein muss. Die übrigen dissoziativen Störungen der Empfindungen und des Gedächtnisses sind dem nur nachgeordnet.
Bei den im Verwaltungsverfahren erstellten Gutachten ist einzuräumen, dass sie zwar zusätzliche Erkenntnisse über den Stand der jeweiligen Symptome bieten, in ihrer sozialmedizinischen Schlussfolgerung aber wenig Brauchbares beitragen, weil Dr. K. gerichtsbekanntermaßen einen extrem engen rein psychiatrischen Krankheitsbegriff vertritt und B. R. sich ohne vertiefte Prüfung den Wertungen des Rehabilitationsentlassungsberichtes der Klinik N. angeschlossen hat.
Für die Frage der Rentengewährung ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant werden, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann – weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (BSG Urteil vom 12.09.1990 – 5 RJ 88/89; BSG Urteil vom 29.02.2006 – B 13 RJ 31/05 R – jeweils zitiert nach juris; BayLSG Urteil vom 21.03.2012 – L 19 R 35/08). Nachdem die Klägerin bisher noch keine psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme durchlaufen hat, ist es trotz erfolgter ambulanter Psychotherapie aus Sicht des Senates zumindest höchst fraglich, ob man von einer Ausschöpfung der Behandlungsoptionen auf psychischem Gebiet ausgehen kann. Es spricht mehr dafür, dass dies nicht der Fall ist, als dass man die erfolgten Therapien als umfassend ansehen könnte. Der im aktuellen Gutachten beobachtete Trainingsmangel im Gefolge der körperlichen Schonhaltung der Klägerin löst somatische Schwächen aus – hier bei der Herzfunktion – die aber bei entsprechender Belastung sich als noch reversibel gezeigt haben. Gleiches ist für eine etwa verhaltenstherapeutisch orientierte Therapie im Bereich sonstigen Schonverhaltens der Klägerin zu erwarten, so dass eine Unveränderbarkeit und Dauerhaftigkeit der Einschränkungen noch nicht besteht.
Unbeachtlich für eine Rentengewährung im Rahmen des SGB VI bleiben nach den gesetzlichen Vorschriften die Zeiten, in denen die Klägerin wegen Arbeitsunfähigkeit vorübergehend nicht arbeiten konnte bzw. kann. Eine längerdauernde zeitliche Einschränkung der Einsatzfähigkeit der Klägerin ist aus objektiv nachweisbaren Gründen nicht – oder zumindest bisher nicht – belegt.
Ausnahmsweise kann eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung zwar auch dann erfolgen, wenn eine quantitative Einschränkung des Rentenantragstellers nicht besteht bzw. nicht nachgewiesen ist, aber auch ein solcher Fall liegt bei der Klägerin aus Sicht des Senats nicht vor. Für die Prüfung, ob ein solcher von der Rechtsprechung entwickelter Ausnahmefall vorliegt, ist nach dem BSG (Urt. v. 09.05.2012, B 5 R 68/11 R – zitiert nach juris) mehrschrittig vorzugehen. Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Erforderlichenfalls stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der sog. besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen. Und im dritten Schritt wäre ggf. von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären (vgl. Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand August 2012, § 43 SGB VI Rn. 37 m. w. N.).
Von der Klägerseite werden in diesem Zusammenhang die besonderen Anforderungen an die Arbeitsplatzgestaltung (u. a. bzgl. Materialien und Luftreinhaltung) angeführt, die nur bei einem Schonarbeitsplatz wie dem Home-Office der Klägerin vorhanden seien und nicht den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes angeführt. Zum anderen wird der spezielle Pausenbedarf genannt, der von der Klägerin bei der Ausübung ihrer derzeitigen Teilzeitbeschäftigung berücksichtigt wird, aber sonst im Erwerbsleben nicht beachtet werden könne. Für den Senat ergibt sich zunächst, dass die abstrakten Handlungsfelder nahezu alle mit Ausnahme von Kleben – als grundsätzlich geeignet anzuführen wären. Allerdings dürfte sich vielfach in industriellen Zusammenhängen nicht die notwendige geringe Schadstoffkonzentration in der Umgebung sicherstellen lassen. Eine – wie von Dr. C. als tolerabel beschriebene – Innenraumluft lässt sich aber vielfach im Zusammenhang mit Bürotätigkeiten antreffen, wenn nicht ein Großraumbüro oder sonst eine Aufstellung von Bürodruckmaschinen im Raum besteht. Die Klägerin verfügt über breite Vorkenntnisse und über eine nahezu nicht eingeschränkte Sinneswahrnehmung, so dass ihr außerhalb des Bereichs einfacher Industriehilfstätigkeiten ein so breites Einsatzfeld verbleibt, dass aus Sicht des Senates die Beklagte nicht verpflichtet war, konkrete Verweisungstätigkeiten zu benennen. Der weiter geltend gemachte Pausenbedarf ist aus Sicht des Senates nach den gutachterlichen Feststellungen ebenso wenig belegt wie die zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens und ist im Zusammenhang mit der vorhandenen Schonhaltung und dem behebbaren Trainingsmangel zu beurteilen. Zusätzliche in der Arbeitswelt unübliche Pausen werden von den gerichtsärztlichen Sachverständigen nicht gefordert. Es sind keine unzumutbaren, längerfristigen gesundheitlichen Folgen ersichtlich, die bei der Klägerin auftreten würden, wenn sie zusätzliche Pausen nicht erhalten würde.
Dementsprechend sind die Entscheidungen der Beklagten, die einen Rentenanspruch der Klägerin nicht als belegt ansehen, nicht zu beanstanden. Das Vorliegen von voller oder teilweiser Erwerbsminderung ist nicht hinreichend nachgewiesen.
Ein Antrag auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) ist nicht gestellt worden; er hätte auch keinen Erfolg gehabt, weil die Klägerin aufgrund ihres Geburtsdatums eindeutig nicht zu dem von dieser Vorschrift erfassten Personenkreis gehört.
Nach alledem war die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 19.11.2013 sowohl im Haupt-, als auch im Hilfsantrag als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.