Sozialrecht

Rente wegen Erwerbsminderung: Herstellung der Wegefähigkeit durch Mobilitätshilfen

Aktenzeichen  L 19 R 491/18

Datum:
28.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 44082
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43

 

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung.
1. Zur Erwerbsfähigkeit im rentenrechtlichen Sinne gehört auch die Wegefähigkeit. (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Rentenversicherungsträger kann diese durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Übernahme der notwendigen Fahrtkosten herstellen, um Vorstellungsgespräche zur Erlangung eines Arbeitsplatzes führen und den künftigen Arbeitsplatz regelmäßig erreichen zu können.  (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 20 R 747/17 2018-08-07 GeB SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 07.08.2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG).
Sie ist jedoch unbegründet. Das SG hat im Ergebnis zu Recht mit Gerichtsbescheid vom 07.08.2018 einen Anspruch des Klägers auf eine Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 12.05.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.07.2017 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Auch aktuell hat der Kläger eine Einschränkung seines zeitlichen Leistungsvermögens für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht nachgewiesen.
Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1.teilweise erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3.vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger trotz der bei ihm bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen noch in der Lage ist, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung weiterer qualitativer Einschränkungen mindestens 6 Stunden täglich zu verrichten. Zu vermeiden sind körperlich schwere oder anhaltend mittelschwere Tätigkeiten, ebenso solche mit dauerhaftem Stehen oder permanentem Hin- und Hergehen sowie in körperlichen Zwangshaltungen (Bücken, Knien, Hocken, Manipulationen über Augenhöhe) und unter klimatischen Belastungen (Kälte, Nässe). Zudem darf der Kläger nicht zu nervlich-seelisch besonders belastenden Arbeiten herangezogen werden, z. B. Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen, an die Flexibilität und das Umstellungsvermögen, Tätigkeiten, die ein dauerhaft erhöhtes Aufmerksamkeitsniveau erfordern oder durch hohes Arbeitstempo und hohen Verantwortungsdruck gekennzeichnet sind. Ferner darf der Kläger keine Tätigkeiten mit Absturzgefahr (Leitern und Gerüste) verrichten und auch keine Nachtarbeit.
Der Senat stützt seine Überzeugung auf das eingeholte internistisch/ sozialmedizinische Sachverständigengutachten von Dr. E. vom 20.08.2020, der – ebenso wie die beiden im sozialgerichtlichen Verfahren tätig gewordenen Sachverständigen Dr. V. und Dr. R. – lediglich zu qualitativen Leistungseinschränkungen des Klägers gelangt ist, jedoch eine Einschränkung des zeitlichen Leistungsvermögens für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes gerade nicht feststellen konnte. Die Sachverständigen sind in ihren Gutachten zu übereinstimmenden Diagnosen gelangt, ebenso zu vergleichbaren Bewertungen des zeitlichen Leistungsvermögens des Klägers. Allerdings bejaht Dr. E. nunmehr das Vorliegen der Wegefähigkeit des Klägers bei noch bestehenden, dem Kläger bereits von der behandelnden Klinik vorgeschlagenen operativen Interventionen.
Der Kläger leidet im Wesentlichen an den Folgen der im Jahr 2006 erlittenen Schädigung des Kleinhirns, die zu leichten kognitiven Einschränkungen führt und zu einer bein- und armbetonten Ataxie. Diese begründet aber nach der übereinstimmenden Wertung der Sachverständigen lediglich qualitative Einschränkungen bezüglich der Schwere der Tätigkeit, der Arbeitshaltung sowie der nervlichen Belastbarkeit des Klägers, steht aber grundsätzlich leichten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von mindestens 6 Stunden täglich nicht entgegen.
Des Weiteren liegt eine Verschlusskrankheit (pAVK) vor, die jedoch nach den Feststellungen des Dr. E. infolge einer Intervention im Juni 2016 zwischenzeitlich gebessert ist. Zudem bestehen weitere Behandlungsoptionen, die dem Kläger vom Klinikum F. bereits vorgeschlagen wurden, die er gegenwärtig aber nicht ergreifen möchte. Nach Auffassung von Dr. E. ist der Kläger aber auch ohne diese Interventionen durchaus in der Lage, die nach ständiger Rechtsprechung erforderlichen Wegstrecken für eine Erwerbstätigkeit – 4 x 500 m innerhalb von jeweils 20 Minuten – zurückzulegen. Dr. E. weist in seinem Gutachten diesbezüglich aber auch ausdrücklich auf bestehende Inkonsistenzen im Verhalten des Klägers hin: Der Kläger hat bei Dr. E. angegeben und auch demonstriert, dass er nach einer kurzen Strecke stehen bleiben müsse, weil der Schmerz ein Weitergehen nicht zulasse und er mit dem schmerzenden rechten Bein im Stehen quasi gymnastische Übungen vornehmen müsse, damit der Schmerz abklinge und die Kraft im Bein wiederkomme. Diese Bewegungen bestünden darin, dass das schmerzende rechte Bein angehoben, in Hüft- und Kniegelenk leicht gebeugt und gestreckt werde, auch im Fußgelenk würden dabei gleichzeitig streckende und beugende Bewegungen vorgenommen. Dies entspreche – so Dr. E. – nicht dem üblichen Verhalten bei belastungsabhängig auftretenden und durchblutungsbedingten Beinschmerzen. Der belastungsabhängig aufgrund schlechter Durchblutung auftretende Gliedmaßenschmerz (sog. Klaudikatioschmerz) bedürfe zu seiner Behebung/Linderung einer Ruhigstellung der betroffenen Gliedmaße, nicht jedoch einer zusätzlichen Beanspruchung der Beinmuskulatur durch gymnastische Bewegungen. Der Klaudikatioschmerz würde im Gegenteil sogar nur noch verstärkt. Dr. E. stellt anschließend fest, dass aufgrund der vorliegenden apparativen und klinischen Befunde durchaus von einer relevanten Durchblutungsstörung des rechten Beines des Klägers auszugehen sei, nur sei das gezeigte bzw. behauptete Ausmaß der Störung hochgradig unwahrscheinlich. Es liegt allerdings zusätzlich eine LWS-Symptomatik sowie eine leichte Polyneuropathie vor, die insoweit Schmerzen mitverursachen könnten, die aber – so Dr. E. – keine zusätzliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit in funktioneller Hinsicht begründen würden.
Daneben sind an weiteren Erkrankungen eine COPD zu benennen, die zu einer mäßig bis mittelgradig ausgeprägten obstruktiven Ventilationsstörung und einer ausgeprägten Gasaustauschstörung führt. Diese steht aber einer leichten Tätigkeit ebenfalls nicht entgegen und kann außerdem durch Reduzierung des Nikotinabusus oder sogar völligen Verzicht und durch eine dauerhafte Behandlung mit bronchialerweiternden und entzündungshemmenden Medikamenten deutlich gebessert werden. Lediglich qualitativ zu berücksichtigen sind der Verwachsungsbauch des Klägers, die Rückenschmerzen und der leichte Tinnitus.
Hinsichtlich der psychischen Einschränkungen des Klägers hatte Dr. R. keine relevante psychische Erkrankung feststellen können. Dr. R. hat eine völlige Remittierung einer Angsterkrankung des Klägers durch Verordnung von Venlafaxin konstatiert. Dr. E. hat in seinem Gutachten ebenfalls keine besonders einschränkende psychische Erkrankung sehen können. Er hat insbesondere darauf hingewiesen, dass der Kläger weder medikamentös noch psychiatrisch oder psychotherapeutisch behandelt wird und auch im zurückliegenden letzten halben Jahr nicht entsprechend behandelt wurde. Die Verordnung von Mirtazapin durch die behandelnde Ärztin für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie Dr. W. wurde nach einmaliger Einnahme des Medikaments durch den Kläger eingestellt, weil er danach angeblich sehr starke Rückenschmerzen bekommen habe. Bei einer nochmaligen Vorstellung bei Dr. W. im Juli 2020 hat diese erneut empfohlen dieses Medikament einzunehmen, was der Kläger aber nicht macht. Eine psychotherapeutische Behandlung wurde noch nicht durchgeführt, sollte aber nach Ansicht von Dr. E. erfolgen. Der aktuell bestehenden psychischen Situation des Klägers kann aber im Rahmen der genannten qualitativen Einschränkungen hinsichtlich der nervlichen Belastbarkeit des Klägers Rechnung getragen werden.
Zur Erwerbsfähigkeit im rentenrechtlichen Sinne gehört nach ständiger Rechtsprechung auch die sogenannte Wegefähigkeit des Klägers – so wie oben dargelegt -. Hier gehen allerdings die Einschätzungen der Sachverständigen auseinander. Dr. M. im Rentenverfahren, Dr. V. und Dr. R. im sozialgerichtlichen Verfahren haben eine Einschränkung der Wegefähigkeit des Klägers gesehen, während Dr. E. die Wegefähigkeit des Klägers als gegeben erachtet. Übereinstimmend waren die Sachverständigen der Auffassung, dass der Kläger aufgrund der kognitiven Einschränkungen infolge des 2006 erlittenen Hirninfarktes nicht mehr in der Lage ist, ein Kraftfahrzeug zu fahren. Inwieweit der Kläger aber Wege zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zurücklegen kann – so Dr. E. wegen der im Jahr 2016 erfolgten Aufweitung der Beinarterie – oder nicht – so Dr. M., Dr. V. und Dr. R. -, kann vorliegend dahingestellt bleiben, weil die Beklagte mit dem bestandskräftigen Bescheid vom 04.05.2016 rechtlich die notwendige Wegefähigkeit hergestellt hat. Dieser Bescheid ist ausreichend bestimmt hinsichtlich des Umfangs der Übernahme von Fahrtkosten durch Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder durch Nutzung von Taxis, soweit es um die Erreichbarkeit von Arbeits- oder Ausbildungsplätzen für den Kläger geht – also berufsbezogene Wege, die er zurücklegen müsste – oder zur Wahrnehmung von Vorstellungsterminen bei potentiellen Arbeitgebern. Es ist deshalb nicht relevant, ob der Kläger die notwendige Wegefähigkeit zu Fuß bewerkstelligen könnte. Nicht in den Verantwortungsbereich der Beklagten fällt hingegen die Frage, ob der Kläger auch in der Lage ist, private Wege, u.a. zum Einkaufen, ohne Hilfsmittel zurückzulegen oder ob er hierfür Hilfen vom Träger der gesetzlichen Krankenversicherung benötigen würde. Nicht entscheidend ist deshalb für die vorliegende Frage der rentenrechtlich notwendigen Wegefähigkeit der Umstand, dass der Kläger sich selbst wohl einen Elektroscooter gekauft hatte.
Aufgrund der Komplexität der Fragestellung der Wegefähigkeit, insbesondere, ob diese durch den Bescheid der Beklagten vom 04.05.2016 rechtlich hergestellt werden konnte, hat der Senat mit gesondertem Beschluss in der mündlichen Verhandlung vom 28.10.2020 die vom SG in Ziff 3 des Tenors des Gerichtsbescheids des SG Nürnberg verhängten Verschuldenskosten in Höhe von 325,00 € aufgehoben. Das hierfür notwendige Maß an Uneinsichtigkeit kann nicht allein deshalb angenommen werden, weil der Kläger hier von seiner Leistungsunfähigkeit nachhaltig überzeugt ist und er deshalb die Ergebnisse der eingeholten Gutachten nicht akzeptieren kann, auch dann, wenn er durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten im Verfahren vertreten wurde.
Nach alledem war die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG Nürnberg vom 07.08.2018 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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