Sozialrecht

Sozialgerichtliches Verfahren – kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage – keine Beschwer im Hinblick auf die Lage eines Sperrzeitzeitraumes – Arbeitslosengeldanspruch – Ruhen wegen Sperrzeit – Kündigungsschutzklage gegen die außerordentliche Kündigung – längere Anspruchsdauer – Spontanberatungspflicht der BA – sozialrechtlicher Herstellungsanspruch

Aktenzeichen  S 18 AL 101/20

Datum:
20.7.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG Nordhausen 18. Kammer
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:SGNORDH:2021:0720.S18AL101.20.00
Normen:
§ 54 Abs 1 S 1 SGG
§ 54 Abs 4 SGG
§ 54 Abs 2 S 1 SGG
§ 159 Abs 1 S 1 SGB 3
§ 147 Abs 1 SGB 3
… mehr
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

1. Bei dem Ruhen des Anspruchs wegen einer Sperrzeit und der Minderung der Anspruchsdauer handelt es sich um eigenständige Sperrzeitfolgen. Hat der Kläger während des von der Bundesagentur für Arbeit festgestellten Sperrzeitzeitraums aus anderen Gründen keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, ist eine Klage wegen der Lage der Sperrzeit unzulässig. (Rn.26)


2. Ist absehbar, dass im Falle des Erfolgs einer Kündigungsschutzklage ein längerer Anspruch auf Arbeitslosengeld in Betracht kommt, besteht eine Spontanberatungspflicht der Bundesagentur für Arbeit im Hinblick auf das Hinausschieben der Anspruchsentstehung gemäß § 137 Abs 2 SGB III, wenn wegen einer Sperrzeit bis zur nach § 137 Abs 2 SGB III absehbar günstigeren Anspruchsentstehung ohnehin keine Leistungen gezahlt werden. Eine Begünstigung des Klägers durch den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch kommt dann in Betracht, wenn die Änderung der Festlegung der Rahmenfrist noch möglich ist, weil es bis zum nach § 137 Abs 2 SGB III zu bestimmenden Zeitpunkt noch nicht zum Leistungsbezug gekommen ist (Anschluss an BSG vom 3.6.2004 – B 11 AL 70/03 R = SozR 4-4300 § 123 Nr. 2; Abgrenzung zu BSG vom 11.12.2014 – B 11 AL 2/14 R = SozR 4-4300 § 124 Nr. 6). (Rn.38)

Tenor

Der Änderungsbewilligungsbescheid vom 20. November 2019 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 28. November 2019, des Widerspruchsbescheids vom 23. Januar 2020 und des Aufhebungsbescheids vom 6. Februar 2020 wird insoweit abgeändert, als die Beklagte verurteilt wird, dem Kläger Arbeitslosengeld mit einer Anspruchsdauer von weiteren 60 Tagen zu bewilligen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte hat 4/5 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.
Die Berufung des Klägers wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosgengeld (Alg) und die Frage streitig, ob die Beklagte zu Recht eine Sperrzeit festgestellt hat.
Der 1982 geborene Kläger war ab dem 16. April 2018 bei der Hausverwaltung G (Arbeitgeberin) abhängig gegen Arbeitsentgelt beschäftigt. Mit Schreiben vom 17. Juli 2019, dem Kläger am Folgetag zugegangen, kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis fristlos mit der Begründung, der Kläger sei am selben Tag wiederholt ohne Begründung und ohne Ankündigung nicht zur Arbeit erschienen. Mit weiterem Schreiben vom 23. Juli 2019 erfolgte eine hilfsweise ordentliche Kündigung zum 31. August 2019. Mit Schreiben vom 26. Juli 2019 teilte die Arbeitgeberin dem Kläger mit, dass er nicht freigestellt, sondern fristlos entlassen worden sei.
Am 28. Juli 2019 meldete sich der Kläger arbeitsuchend und am 9. August 2019 persönlich arbeitslos. Er gab in einer Anhörung an, sich nicht sogleich bei Erhalt der Kündigung arbeitslos gemeldet zu haben, da er kurz nach der fristlosen eine fristgerechte Kündigung bekommen habe. Er habe nicht gewusst, was er machen solle und habe sich an einen Anwalt gewandt, der ihn beraten habe, zu warten, bis die Anzeigeschrift da sei, damit er keine Sperre bekomme. Arbeitsvertragswidrig habe er sich nicht verhalten. Im Zuge der Antragstellung reichte der Kläger eine Kopie der Klageschrift einer Kündigungsschutzklage ein.
Am 3. September 2019 erkundigte sich der Kläger fernmündlich bei der Beklagten nach dem Bearbeitungsstand und bat wegen einer finanziellen Notlage um die Bearbeitung des Alg-Antrags.
Mit Bescheid vom selben Tag stellte die Beklagte den Eintritt einer Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe für den Zeitraum vom 17. Juli bis 8. Oktober 2019 fest. Mit weiterem Bescheid vom selben Tag erfolgte die Feststellung einer Sperrzeit wegen verspäteter Arbeitsuchendmeldung für den Zeitraum vom 9. bis 15. Oktober 2019. Mit Bescheid vom 4. September 2019 bewilligte die Beklagte dem Kläger Alg mit einer Anspruchsdauer von 180 Tagen ab 9. August 2019 bis zum 13. Januar 2020, wobei er wegen der Sperrzeiten bis 15. Oktober 2019 keine Leistungen zusprach.
Unter dem 13. November 2019 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Überprüfungsantrag hinsichtlich des Leistungsbescheids für den Zeitraum vom 9. August 2019 bis zum 13. Januar 2020. Zur Begründung führte er aus, dass auf die Kündigungsschutzklage in einem Vergleich die außerordentliche Kündigung aufgehoben worden sei und an den Kündigungsgründen nicht mehr festgehalten werde. Er fügte den Vergleichsbeschluss des Arbeitsgerichts Erfurt (ArbG), Aktenzeichen (Az.) 1 Ca 1283/19, vom 11. November 2019 bei. Diesem zufolge endete das Arbeitsverhältnis durch ordentliche betriebsbedingte Kündigung zum 31. August 2019. Wegen des weiteren Inhalts wird auf Seite (S.) 73 des Ausdrucks der elektronischen Akte der Beklagten (E-Akte) verwiesen.
Mit Änderungsbescheid vom 18. November 2019 stellte die Beklagte den Eintritt einer Sperrzeit wegen verspäteter Arbeitsuchendmeldung vom 17. bis 23. Juli 2019 fest. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 20. November 2019 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 28. November 2019 bewilligte sie Alg ab 1. September 2019 bis zum 23. Februar 2020.
Gegen den Bescheid vom 18. November 2019 erhob der Kläger am 19. Dezember 2019 Widerspruch. Zur Begründung führte er aus: Er sei nicht angehört worden. Das Meldeversäumnis sei bereits mit dem Bescheid vom 3. September 2019 geahndet worden. Dieser Bescheid bzw. der entsprechende Verwaltungsakt sei bislang weder zurückgenommen noch aufgehoben worden und entfalte daher noch Rechtswirkung. Er beantragte gleichzeitig die Rücknahme des Bescheids vom 3. September 2019.
Am 20. Dezember 2019 erhob der Kläger einen weiteren Widerspruch gegen den Bewilligungsbescheid vom 4. September 2019 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 20. und 28. November 2020. Zur Begründung führte er aus: Er sei nicht angehört worden. Es müsste unter Berücksichtigung der Sperrzeit Alg mit einer Anspruchsdauer von 233 Tagen gewährt werden, da er vor Eintritt der Arbeitslosigkeit in der Zeit vom 16. April 2018 bis zum 31. August 2019 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 2020 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid 18. November 2019 als unbegründet zurück und führte zur Begründung aus: Der Kläger habe sich versicherungswidrig verhalten, da er sich nicht innerhalb von drei Tagen ab Kenntnis des Beendigungszeitpunkts arbeitsuchend gemeldet habe. Dies wäre spätestens der 23. Juli 2019 gewesen. Eine Anhörung habe stattgefunden und es sei angegeben worden, dass es sich um einen Änderungsbescheid zum Bescheid vom 3. September 2019 handeln würde.
Hiergegen hat der Kläger am 21. Januar 2020 Klage erhoben.
Mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2020 hat die Beklagte auch den Widerspruch gegen den Bescheid vom 20. November 2019 als unbegründet zurückgewiesen und ausgeführt: Die Rahmenfrist beginne mit dem Tag vor der Erfüllung aller Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg und umfasse daher den Zeitraum vom 9. August 2017 bis zum 8. August 2019. Wegen des Arbeitsverhältnisses vom 16. April 2018 bis zum 16. Juli 2019 ergebe sich eine Anspruchsdauer von sechs Monaten. Diese Dauer mindere sich noch um die Anzahl der Tage der Sperrzeit wegen Arbeitsablehnung. Da das Stammrecht am 9. August 2019 erworben worden sei, komme es auf den Vergleich nicht an, zumal der Kläger bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses auch freigestellt gewesen sei. Da der Anspruch auf Alg am 9. August 2019 und nicht erst am 1. September 2019 entstanden sei, seien die Voraussetzungen einer längeren Anspruchsdauer nicht erfüllt.
Mit Bescheid vom 6. Februar 2020 hat die Beklagte die Bewilligung ab 1. Februar 2020 wegen Arbeitsaufnahme aufgehoben.
Gegen den Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2020 hat der Kläger am 24. Februar 2019 Klage erhoben, die unter dem Az. S 8/S18 AL 256/20 geführt worden ist. Mit Beschluss vom 16. Februar 2021 hat die Kammer dieses Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung mit dem hiesigen Verfahren verbunden.
Zur Begründung seiner Klagen trägt der Kläger ergänzend vor: Mit dem Änderungsbescheid vom 18. November 2019 sei nicht bestimmt worden, dass der Ausgangsbescheid vom 3. September 2019 aufgehoben und eine neue Verfügung erlassen worden sei. Stattdessen sei eine neue Sperrzeit bestimmt worden. Eine Rechtsgrundlage sei weder angegeben worden noch ersichtlich. Zudem sei er nicht unwiderruflich freigestellt gewesen, sodass nach einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. März 2018, Az. B 11 AL 12/17 R, die Beschäftigungslosigkeit erst nach Ende des Arbeits-/Beschäftigungsverhältnisses am 31. August 2019 vorgelegen habe und die Sperrzeit frühestens am 1. September 2019 beginnen könne. Jedenfalls könne die Sperrzeit nicht am Kündigungstag, sondern erst am Folgetag beginnen. Im Bescheid vom 4. September 2019 sei noch eine Anspruchsdauer von 180 Tagen ausgewiesen, was den Kläger begünstige und nicht aufgehoben worden sei. Jedenfalls sei der Kläger im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als hätte er im Zuge der persönlichen Arbeitslosmeldung am 9. August 2019 diese und insbesondere den Umstand des Eintritts/Bestehens von Arbeitslosigkeit erst auf den 16. August 2019 bestimmt.
Der Kläger beantragt,
den Sperrzeitbescheid vom 18. November 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Januar 2020 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Änderungsbewilligungsbescheids vom 20. November 2019 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 28. November 2019, des Widerspruchsbescheids vom 23. Januar 2020 und des Aufhebungsbescheids vom 6. Februar 2020 zu verurteilen, Alg mit einer Anspruchsdauer von weiteren 67 Tagen zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Ergänzend zu ihrem bisherigen Vortrag meint sie insbesondere: Eine Anhörung sei mangels Eingriffs in Rechte des Klägers nicht erforderlich gewesen. Eine offenkundige Gestaltungsmöglichkeit des Klägers sei nicht ersichtlich gewesen. Weder sie noch der Kläger hätten wissen können, dass das Beschäftigungsverhältnis zum 31. August 2019 enden werde.
Die Gerichtsakte (GA) und die E-Akte haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung, der Beratung und der Entscheidungsfindung. Auf diese Unterlagen wird wegen des weiteren Sach- und Streitstands ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist, soweit sie zulässig ist (dazu A.), teilweise begründet und im Übrigen unbegründet (dazu B.)
A. Die Klage gegen die streitgegenständlichen Bescheide (dazu I.) ist zulässig, soweit sich der Kläger gegen die seiner Auffassung nach zu kurze Anspruchsdauer und die Minderung der Anspruchsdauer infolge der Sperrzeit richtet (dazu II.) Sie ist jedoch bereits unzulässig, soweit der Kläger die Lage der Sperrzeit moniert (dazu III.). Weitere Gründe stehen ihrer Zulässigkeit nicht entgegen (dazu IV.).
I. Streitgegenständlich sind der Sperrzeitbescheid vom 18. November 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Januar 2020 sowie der Änderungsbewilligungsbescheid vom 20. November 2019 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 28. November 2019, des Widerspruchsbescheids vom 23. Januar 2020 und des Aufhebungsbescheids vom 6. Februar 2020. Letzterer wurde gemäß § 96 SGG oder über § 86 SGG zum Gegenstand des Klageverfahrens (zur Frage, ob das weitere Klageverfahren zulässig war, unter III.; zur Behandlung von Verwaltungsakten, die zwischen dem Erlass des Widerspruchsbescheids und der Klageerhebung ergangen sind, Jüttner in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Auflage 2020, § 86 Randnummer 2).
II. Der Kläger verfolgt sein Begehren auf weitere Leistungen mit der statthaften kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Absatz 1 Satz 1 und Abs. 4 SGG). Sie ist zulässig, soweit sich der Kläger gegen die seiner Auffassung nach zu kurze Anspruchsdauer und die Minderung der Anspruchsdauer infolge der Sperrzeit richtet.
III. Dagegen ist die Klage bereits unzulässig, soweit sich der Kläger gegen die Lage der Sperrzeit wendet. Bei der Lage der Sperrzeit und der Minderung des Anspruchs handelt es sich um stets eigenständige Sperrzeitfolgen (Jakob in Heinz/Schmidt-de Caluwe/Scholz, SGB III, 7. Auflage 2021, § 148 Rn. 24). Durch die Verlagerung auf den Zeitraum vom 17. bis zum 23. Juli 2019 ist der Kläger, der in diesem Zeitraum aus anderen Gründen keinen Anspruch auf Alg hat (hierzu B. I. 1.), aber nicht beschwert (zur notwendigen Beschwer § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).
IV. Weitere Gründe stehen der Zulässigkeit der Klage im Übrigen nicht entgegen.
1. Infolge der Verbindung durch den Beschluss vom 16. Februar 2021 kann am Ende offen bleiben, ob das gegen den Änderungsbewilligungsbescheid vom 20. November 2019 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 28. November 2019 angestrengte Widerspruchs- und anschließende Klageverfahren zulässig war. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 15. Dezember 2005, B 7a AL 46/05 R, BSGE 96, 22), der sich die Kammer anschließt, bildet ein Bewilligungsbescheid mit einem Sperrzeitbescheid eine rechtliche Einheit. Dies könnte es unter Berücksichtigung der Regelungen in den §§ 86 und 96 SGG ausschließen, mehrere Widerspruchs- und Klageverfahren gegen die rechtliche Einheit anzustrengen.
2. Der Zulässigkeit der Klage im Übrigen steht auch nicht entgegen, dass die nicht angegriffenen Bescheide vom 3. und 4. September 2019 nach § 77 SGG bindend wurden (vergleiche zum Fehlen einer Sachentscheidungsvoraussetzung bei Verfahren gegen bindend gewordene Verwaltungsakte Jüttner in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Auflage 2020, § 77 Rn. 13 mit weiteren Nachweisen ). Denn die Beklagte hat mit den angegriffenen Bescheiden vollumfänglich über den Streitgegenstand entschieden, ohne sich auf die Bindungswirkung zu berufen.
B. Die Klage ist begründet, soweit mit ihr eine längere Anspruchsdauer begehrt wird (dazu I.) und unbegründet, soweit sie sich gegen die Minderung derselben infolge einer Sperrzeit richtet (dazu II.).
I. Der Kläger hat einen Anspruch auf Alg (dazu 1.) mit einer Anspruchsdauer von 240 Tagen (dazu 2.) erworben.
1. Nach § 137 Abs. 1 SGB III setzt ein Anspruch auf Alg voraus, dass ein Arbeitnehmer, der die Anwartschaftszeit erfüllt hat, arbeitslos ist und sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet hat. Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger ab dem 9. August 2019 vor.
Insbesondere war der Kläger am 9. August 2019 arbeitslos. Nach § 138 Abs. 1 SGB III ist ein Arbeitnehmer arbeitslos, der nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit, Nummer 1), sich bemüht, die eigene Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Eigenbemühungen, Nr. 2), und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit, Nr. 3). Da es bei der Beurteilung der Beschäftigungslosigkeit auf das Beschäftigungsverhältnis im leistungsrechtlichen Sinne ankommt und dieses im Falle der Aufgabe des Direktionsrechts durch den Arbeitgeber entfällt (vgl. Gutzler in Heinz/Schmidt-de Caluwe/Scholz, SGB III, 7. Auflage 2021, § 138 Rn. 21 folgende), war insbesondere auch die Prämisse des § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III erfüllt. Denn mit der durch ihr Schreiben vom 26. Juli 2019 (S. 20 der E-Akte) abgegebenen Erklärung der Arbeitgeberin, sie habe den Kläger nicht freigestellt, sondern fristlos entlassen, hat sie ihr Direktionsrecht aufgegeben.
Verwirkte Sperrzeiten haben keinen Einfluss auf die Anspruchsentstehung (Coseriu in Eicher/Schlegel, SGB III, Stand Mai 2019, § 147 n.F. Rn. 35).
2. Beim Kläger ist Alg mit einer ursprünglichen Anspruchsdauer von 240 Tagen zu berücksichtigen. Er hat zwar an sich nur einen Anspruch von 180 Tagen erworben (dazu a.), es ist aber nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ein längerer Anspruch zuzuerkennen (dazu b.).
a. Nach § 147 Abs. 1 und 2 SGB III in der hier anzuwendenden, bis 31. Dezember 2019 geltenden Fassung durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt I 2854) richtet sich die Dauer des Anspruchs auf Alg nach der Dauer der Versicherungspflichtverhältnisse innerhalb der um drei Jahre erweiterten Rahmenfrist und dem Lebensalter, das der Arbeitslose bei der Entstehung des Anspruchs vollendet hat.
Der Anspruch ist am 9. August 2019 entstanden (siehe oben 1.) und die Rahmenfrist beginnt nach § 143 Abs. 1 SGB III am Vortag, sodass die erweiterte Rahmenfrist vom 9. August 2014 bis zum 8. August 2019 reicht. In diesem Zeitraum liegen beim Kläger unabhängig davon, ob man den später abgeschlossenen arbeitsgerichtlichen Vergleich 11. November 2019 berücksichtigt (dagegen Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27. September 2011, L 11 AL 47/08, juris; Coseriu in Eicher/Schlegel, SGB III, Stand Mai 2019, § 147 n.F. Rn. 35), wegen des erst am 16. April 2018 begonnenen Versicherungsverhältnisses noch nicht die Voraussetzungen für die Dauer desselben von 16 Monaten vor. Hieraus ergibt sich eine Anspruchsdauer von lediglich sechs Monaten, also 180 Tagen (§ 339 Satz 2 SGB III).
b. Allerdings ergibt sich eine Anspruchsdauer von weiteren 60 Tagen aus dem von der Rechtsprechung entwickelten sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Dieser ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustands gerichtet, der bestehen würde, wenn der Leistungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder des konkreten Sozialrechtsverhältnisses gegenüber dem Berechtigten obliegenden Haupt- oder Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung (§§ 14, 15 Erste Buch Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – ), ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Er setzt demnach eine dem Sozialleistungsträger zurechenbare behördliche Pflichtverletzung voraus, die (als wesentliche Bedingung) kausal für einen sozialrechtlichen Nachteil des Berechtigten geworden ist. Außerdem ist erforderlich, dass durch Vornahme einer zulässigen Amtshandlung der Zustand hergestellt werden kann, der bestehen würde, wenn die Behörde ihre Verpflichtungen gegenüber dem Berechtigten nicht verletzt hätte (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 30. September 2009, B 9 VG 3/08 R, BSGE 104, 245 Rn. 41). Dabei ist insbesondere § 14 SGB I Grundlage für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, wonach jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem SGB hat. In der Regel wird die Beratungspflicht durch ein entsprechendes Begehren des Berechtigten ausgelöst. Aber auch unabhängig davon ist der Leistungsträger gehalten, bei Vorliegen eines konkreten Anlasses auf klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die sich offensichtlich als zweckmäßig aufdrängen und von jedem verständigen Berechtigten mutmaßlich genutzt werden (sogenannte Spontanberatung, vgl. BSG, Urteil vom 30. September 2009, B 9 VG 3/08 R, BSGE 104, 245 Rn. 43 m.w.N.).
Eine solche Beratungspflichtverletzung ist der Beklagten vorliegend anzulasten:
Der Kläger hat im Rahmen der Antragstellung auf Alg die Abschrift einer Kündigungsschutzklageschrift bei der Beklagten abgegeben (vgl. S. 22 fortfolgende), sodass letztere im Bilde war, dass sich der Kläger gegen die außerordentliche Kündigung wandte. Da die Beklagte den Wissensstand dazu nutzte, eine bis zum 8. Oktober 2019 reichende Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe festzustellen (vgl. Bescheid vom 3. September 2019), musste die Beklagte den Kläger vor Erlass des Bescheids vom 4. September 2019 auf die Gestaltungsmöglichkeit nach § 137 Abs. 2 SGB III hinweisen. Denn bei realistischer Betrachtung kam ein Absehen von der Sperrzeit nur in Betracht, wenn die fristlose Kündigung vor dem ArbG keinen Bestand hat. Nachdem dies das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zur Folge hat, musste die Beklagte den Kläger auf die naheliegende Möglichkeit hinweisen, den Anspruchsbeginn auf einen Zeitpunkt nach dem 15. August 2019 zu bestimmen, an dem bei erfolgreicher Kündigungsschutzklage ein Versicherungsverhältnis von mindestens 16 Monaten mit der Folge einer Anspruchsdauer von weiteren 60 Tagen vorliegen konnte (zur Berücksichtigungsfähigkeit weiterer Zeiten BSG, Urteil vom 3. Juni 2004, B 11 AL 70/03 R, SozR 4-4300 § 123 Nr. 2). Denn zu der Chance, durch einen späteren Anspruchsbeginn in den Genuss einer um 60 Tage höheren Anspruchsdauer zu kommen, bestand bei realistischer Betrachtung nur die Alternative, bis zum 15. August 2019 auch wegen der Sperrzeit keinen Anspruch auf Alg zu haben.
Die Kausalität der Verletzung der Spontanberatungspflicht für den Verlust des Rechts ist gegeben. Ihr steht nicht entgegen, dass sich der Kläger am 3. September 2019 an die Beklagte wandte und wegen finanzieller Engpässe um rasche Bearbeitung bat. Denn Leistungen wurden ohnehin erst nach Ablauf der zunächst festgestellten Sperrzeiten zuerkannt.
Die Erfüllung der Anwartschaftszeit in einer geänderten Rahmenfrist ist auch herstellbar. Dem steht insbesondere nicht die Rechtsprechung des BSG entgegen, wonach die Gewährung von Alg die Rahmenfrist festlegt, auch wenn später gerichtlich entschieden oder vereinbart wird, dass das Arbeitsverhältnis noch für einige Zeit fortbesteht und Arbeitsentgelt gezahlt wird (BSG, Urteil vom 11. Dezember 2014, B 11 AL 2/14 R, SozR 4-4300 § 124 Nr. 6). Denn erst nach einem Bezug von Alg ist eine Änderung der Festlegung der Rahmenfrist nicht mehr zulässig. Hier ist es aber bis zum 15. August 2019 nicht zum Leistungsbezug gekommen.
Der Einwand der Beklagten, dass sich auch im Falle der Bestimmung des Anspruchsbeginns auf den 16. August 2019 keine Änderung der Anspruchsdauer ergeben würde, da der Vergleich vor dem ArbG erst am 24. Oktober 2019 geschlossen worden sei, ist unerheblich. Denn mit der Umsetzung des Vergleichs wären die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) erfüllt (Änderung zugunsten des Betroffenen), sodass nach § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III eine Anpassung vorzunehmen gewesen wäre.
II. Der Anspruch auf Alg in Höhe von 240 Tagen ist jedoch um sieben Tage zu mindern. Der Sperrzeitbescheid vom 18. November 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Januar 2020, der mit dem Änderungsbewilligungsbescheid vom 20. November 2019 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 28. November 2019 eine rechtliche Einheit bildet (hierzu oben A. IV. 1.), ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten.
1. Mit dem Änderungsbescheid vom 18. November 2019 wird der Sperrzeitbescheid vom 3. September 2019 hinsichtlich der Lage der Sperrzeit abgeändert und ansonsten – unverändert – verfügt, dass sich die Anspruchsdauer um sieben Tage mindert.
Rechtsgrundlage für die gegenüber der Ausgangsentscheidung vom 3. September 2019 unveränderte (hierzu ausführlicher unter 2.) Minderung der Anspruchsdauer ist § 159 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 9 sowie Abs. 6 in Verbindung mit § 148 Abs. 1 Nr. 3 SGB III. Danach tritt eine Minderung der Anspruchsdauer um sieben Tag ein, wenn eine Sperrzeit von einer Woche festzustellen ist, weil der Arbeitslose der Meldepflicht nach § 38 Abs. 1 SGB III nicht nachgekommen ist (Sperrzeit bei verspäteter Arbeitsuchendmeldung).
Die Rechtsgrundlage für die Änderung der Lage der Sperrzeit kann offen bleiben, da die Klage insoweit bereits unzulässig ist (hierzu oben A. III.).
2. Die Bescheide sind, jedenfalls soweit es hier im Rahmen der zulässigen Klage darauf ankommt, formell rechtmäßig.
Insbesondere bedurfte es keiner erneuten Anhörung des Klägers vor Erlass des Sperrzeitbescheids vom 18. November 2019. Nach § 24 Abs. 1 SGB X ist dem Betroffenen Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte dieses Betroffenen eingreift. Soweit es die hier im Rahmen der zulässigen Klage allein maßgebliche Minderung der Anspruchsdauer um sieben Tage angeht, bewirkt der Sperrzeitbescheid vom 18. November 2019 für den Kläger keine Änderung seiner Rechte. Denn bereits mit den Bescheiden vom 3. und 4. September 2019 wurde diese Anspruchsminderung verfügt und dem Kläger wurde zu keinem Zeitpunkt ein weitergehender Anspruch zuerkannt. Dass sich die Minderung der Anspruchsdauer (auch) um sieben Tage nicht aus der Angabe der Anspruchsdauer im Bewilligungsbescheid vom 4. September 2019 ergab, da sie mit 180 Tagen angegeben war, ist unschädlich. Denn aus der dortigen Angabe der Leistungsdauer vom 16. Oktober 2019 bis zum 13. Januar 2020 ergibt sich die Minderung hinreichend deutlich.
Im Übrigen hatte der Kläger im Widerspruchsverfahren ausreichend Gelegenheit, seine Einwände und besondere Gesichtspunkte vorzutragen (vgl. zur Heilung § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X und BSG, Urteil vom 24. Juni 2020, B 4 AS 12/20 R, juris Rn. 17).
3. Die Bescheide sind auch materiell rechtmäßig.
a. Der Kläger hat eine Sperrzeit wegen verspäteter Arbeitsuchendmeldung verwirkt. Nach § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB III sind Personen, deren Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis endet, verpflichtet, sich spätestens drei Monate vor dessen Beendigung persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend zu melden. Sie haben sich nach Abs. 1 Satz 2 der Vorschrift innerhalb von drei Tagen nach Kenntnis des Beendigungszeitpunktes zu melden, wenn – wie hier – zwischen der Kenntnis des Beendigungszeitpunkts und der Beendigung des Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnisses weniger als drei Monate liegen.
Der Kläger hat diese Vorgaben schuldhaft (zu diesem ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal BSG, Urteil vom 13. März 2018, B 11 AL 12/17 R, BSGE 125, 170 m.w.N.) verstoßen, wie zwischen den Beteiligten zu Recht außer Streit steht. Er hat sich erst am 28. Juli 2019 online bei der Beklagten gemeldet (vgl. Blatt 47 und 63 der GA; zur damit gewahrten Form Jüttner in Heinz/Schmidt-de Caluwe/Scholz, SGB III, 7. Auflage 2021, § 38 Rn. 28 in Verbindung mit Rn. 32), was verspätet war. Die vom Kläger vorgetragene (vgl. S. 6 der E-Akte) – fehlerhafte – anwaltliche Auskunft zur gegebenen Obliegenheit entschuldigt ihn nicht.
b. Offen bleiben kann, ob die Beklagte die Lage der Sperrzeit (hierzu BSG, Urteil vom 13. März 2018, B 11 AL 12/17 R, BSGE 125, 170) korrekt festgestellt hat. Denn die weitere Rechtsfolge einer Sperrzeit in Form der Minderung der Anspruchsdauer um sieben Tage tritt kraft Gesetzes (hierzu Leitherer in Eicher/Schlegel, SGB III, Stand Februar 2020, § 148 n.F. Rn. 67) ein und ist damit unabhängig von der Lage der Sperrzeit (vgl. zur Eigenständigkeit der Sperrzeitfolgen auch schon oben A. III.).
4. Der Sperrzeitbescheid vom 18. November 2019 ist, soweit er – allein noch hier von Interesse – die Minderung der Anspruchsdauer feststellt, nicht etwa durch den Änderungsbescheid vom 20. November 2019 aufgehoben worden. Dort wird zwar in der Begründung angegeben, dass die Änderungen ab 17. Juli und 9. Oktober 2019 entfielen. Zur Auslegung des Bescheids ist derselbe jedoch in seiner Gesamtheit zu betrachten. Dabei rückt in den Vordergrund, dass die Anspruchsdauer mit 173 Tagen angegeben wird, sodass unter weiterer Berücksichtigung der in den Gründen angegebenen Sperrzeit an der Anspruchsminderung von sieben Tagen festgehalten wird.
C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt das teilweise Unterliegen des Klägers sowie die ursprüngliche Verfolgung des Begehrens mit zwei Klagen.
Die Berufung der Beklagten ist kraft Gesetzes zulässig, da die Beschwer 750 € übersteigt (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG), wogegen diese Grenze durch den Kläger nicht erreicht wird. Bei diesem lagen keine Gründe zur Zulassung der Berufung nach § 144 Abs. 2 SGG vor.


Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben