Sozialrecht

Sozialgerichtsverfahren: Zulässigkeit der Berufung bei Unklarheit über Höhe der Beschwer

Aktenzeichen  L 16 AS 16/20

Datum:
17.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 42659
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 37 Abs. 1 S. 1
SGB X § 8, § 18
SGG § 143, § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Ein Feststellungsantrag zu einer fehlenden Weiterbewilligung nach dem SGB II für einen bestimmten Zeitraum ist mit dem Wert zu beziffern, der der Leistungshöhe für den genannten Zeitraum entspricht. (Rn. 26)
2. Lässt sich nicht feststellen, dass die Voraussetzungen für eine Beschränkung der Berufung erfüllt sind, ist die Berufung nach § 143 SGG statthaft, da es sich bei § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGG um Ausnahmeregelungen handelt. (Rn. 27)
3. Dem Antrag nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II kommt eine konstitutive Wirkung zu. Auch die Weitergewährung der Leistungen nach dem SGB II erfordert einen Fortzahlungsantrag. (Rn. 34)

Verfahrensgang

S 52 AS 1176/18 2019-12-16 Endurteil SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 16. Dezember 2019 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Berufung wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Der Kläger verfolgt nach seinem Vortrag im Schriftsatz vom 04.01.2020, wonach er in vollem Umfang Berufung gegen das Urteil vom 16.12.2019 eingelegt hat, zwei Begehren: Die Gewährung höherer Leistungen im Zeitraum vom 01.03.2018 bis 28.02.2019 sowie die Feststellung, dass der Beklagte ihn durch die zunächst nicht erfolgte Bewilligung ab 01.03.2019 in seinen Rechten, insbesondere Grundrechten, verletzt habe.
Die nach § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht erhobene Berufung des Klägers ist zulässig, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,- Euro übersteigt.
Gemäß § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,- Euro nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs. 1 S. 2 SGG).
Der Wert des Beschwerdegegenstandes iSd § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG richtet sich danach, was das Sozialgericht dem Rechtsmittelkläger versagt hat und was er davon mit seinen Berufungsanträgen weiterverfolgt. Bei einer Geldleistung ist der Wert für das Berufungsverfahren nach dem Geldbetrag zu berechnen, um den unmittelbar gestritten wird (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Beschluss vom 23.07.2015 – B 8 SO 58/14 B). Bei einem unbezifferten Antrag, z. B. einem Feststellungsantrag, hat das Gericht den Wert des Streitgegenstandes zu ermitteln (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 144 Rdnr. 15b). Mehrere Ansprüche, bei denen jeder für sich unter § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG fällt, werden entsprechend § 5 ZPO zusammengerechnet, auch wenn sie in keinem rechtlichen Zusammenhang stehen, sofern die Ansprüche nicht wirtschaftlich identisch sind. Der Feststellungsantrag des Klägers, er sei durch die fehlende Weiterbewilligung in der Zeit vom 01.03.2019 bis 22.03.2019 in seinen Grundrechten verletzt worden, ist mit dem Wert zu beziffern, der der Leistungshöhe in dem von ihm genannten Zeitraum entspricht. Da dem Kläger mit Bescheid vom 21.03.2019 für die Zeit ab 01.03.2019 monatlich 768,92 Euro bewilligt wurden, geht es ihm mit diesem Antrag um einen Betrag in Höhe von 563,87 Euro (768,92 Euro geteilt durch 30 multipliziert mit 22).
Die Wertermittlung des weiteren Berufungsbegehrens auf Gewährung höherer Leistungen nach dem SGB II im durch die angefochtenen Bescheide geregelten Zeitraum vom 01.03.2018 bis 28.02.2019 ist dem Senat nicht möglich, da der Kläger sein Begehren insoweit auch auf Nachfrage nicht beziffert hat. Lässt sich nicht feststellen, dass die Voraussetzungen für eine Beschränkung der Berufung erfüllt sind, muss im Ergebnis, da es sich bei § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGG um Ausnahmeregelungen handelt, die Grundregel des § 143 SGG greifen, wonach die Berufung statthaft ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 144 Rdnr. 15b, Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl. 2014, § 144 Rdnr. 22; a.A. Jungeblut in Beckscher Onlinekommentar, § 144 Rdnr. 22 unter Verweis auf LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 08.01.2013 – L 11 AS 526/12).
Der Senat entscheidet über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nach § 153 Abs. 4 SGG, da er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vor der Entscheidung durch Beschluss gehört worden, § 153 Abs. 4 Satz 2 SGG. Der Sachverhalt ist geklärt, die zu prüfenden Rechtsfragen sind nicht schwierig und der Kläger hatte seit Einlegung der Berufung ausreichend Gelegenheit, seinen Standpunkt darzustellen. Hiervon hat er auch in seinen ausführlichen Schriftsätzen Gebrauch gemacht.
Die Berufung führt in der Sache nicht zum Erfolg. Zu Recht hat das Sozialgericht entschieden, dass der angefochtene Bescheid vom 14.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.04.2018 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 24.11.2018, 22.01.2019 und 12.02.2019 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (s. dazu Ziffer I). Die Feststellungsklage des Klägers ist unbegründet, da eine Grundrechtsverletzung durch den Beklagten nicht erfolgte (s. dazu Ziffer II.).
I. Der Kläger hat im Zeitraum vom 01.03.2018 bis 28.02.2019 keinen Anspruch auf höhere Leistungen als ihm mit den angefochtenen Bescheiden bewilligt wurde. Zutreffend hat der Beklagte dem Kläger den Regelbedarf in Höhe von 416,- Euro bzw. (ab Januar 2019) in Höhe von 424,- Euro gemäß §§ 20 Abs. 1, Abs. 1a SGB II iVm § 28 SGB XII und dem RBEG, §§ 28a und 40 SGB XII und § 2 der Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnungen für die Jahre 2018 und 2019 bewilligt. Anerkannt wurden gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II auch die jeweiligen tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung, die sich vom 01.03.2018 bis 30.06.2018 auf monatlich 341,19 Euro, vom 01.07.2018 bis 31.01.2019 auf 342,35 Euro monatlich und ab 01.02.2019 auf 344,92 Euro monatlich beliefen. Im Januar 2019 wurde bedarfserhöhend außerdem der Nachzahlungsbetrag in Höhe von 183,68 Euro aus der korrigierten Heiz- und Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2017 berücksichtigt (Bescheid vom 22.01.2019).
Eine – vom Bevollmächtigten des Klägers im erstinstanzlichen Verfahren unter Bezug auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) geltend gemachte – Verfassungswidrigkeit der Regelleistung im streitgegenständlichen Zeitraum kann der Senat nicht erkennen.
Der Gesetzgeber hat die Zusammensetzung und die Höhe der bisherigen Regelbedarfsstufen zum 01.01.2017 durch das RBEG 2017 neu bestimmt. Hierbei hat er die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 09.02.2010 und 23.07.2014 sowie die Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus dem Jahre 2013 (EVS 2013) berücksichtigt. Die Ermittlung und Festlegung der Regelbedarfe für das SGB II und das SGB XII erfolgt – ausgehend von den Vorgaben des BVerfG – unmittelbar durch bundesgesetzliche Regelung. § 28 SGB XII formuliert die Rahmenbedingungen und Grundsätze für die Ermittlung der Regelbedarfe nach § 27a SGB XII. Die konkrete Bemessung erfolgt durch das gesonderte RBEG nach § 28 SGB XII. § 28 SGB XII enthält allgemeine Vorgaben insbesondere zur tatsächlichen Auswahl der Referenzhaushalte und dem Ausschluss bestimmter Bezieher von Leistungen nach dem SGB XII und SGB II aus den Referenzhaushalten. Das RBEG regelt u.a. die Bestimmung und Abgrenzung der Referenzhaushalte (§§ 2, 3 RBEG), die regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben der Einpersonen- und Familienhaushalte (§§ 5, 6 RBEG), die Fortschreibung der bedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben (§ 7 RBEG) und die Regelbedarfsstufen nach der Anlage zu § 28 SGB XII (§ 8 RBEG). Mit § 20 Abs. 1a SGB II – eingefügt mit Wirkung zum 01.01.2017 durch das RBEG 2017 – verweist der Gesetzgeber in einer veränderten Systematik nunmehr wegen der Höhe der Regelbedarfe für das gesamte SGB II auf die Regelbedarfsstufen nach dem SGB XII (vgl. Behrend in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 20 Rdnr. 81 ff.).
Die im Schreiben des Bevollmächtigten vom 06.08.2019 kritisierte Festlegung der Referenzgruppe in § 4 Abs. 1 Satz 2 RBEG auf die unteren 15% der Einpersonenhaushalte (statt wie bis zum 31.10.2010 auf der Grundlage von § 2 Abs. 3 der Regelsatzverordnung (RSV) in der Fassung vom 20.11.2006 der unteren 20% der Einpersonenhaushalte) führt nicht zur Verfassungswidrigkeit der Regelleistung. Dazu hat das BVerfG bereits ausgeführt, dass der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum zur Konkretisierung des menschenwürdigen Existenzminimums nicht verlassen habe und es seiner Wertung obliege, die Größe der Referenzgruppe zu bestimmen (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13, juris Rdnr. 98). Der Gesetzgeber hat sich bei der Festlegung der Referenzgruppe für die Einpersonenhaushalte von der sachgerechten Überlegung leiten lassen, auf welcher Höhe der Skala der Einkommensschichtung sich die Referenzgruppe befindet, um Maßstab für ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sein. Als Korrektiv war zudem die ausreichende Validität der Datengrundlage entscheidend (vgl. BT-Drs. 17/3404, S. 87). Zur Vermeidung von Zirkelschlüssen bei den Einpersonenhaushalten hat der Gesetzgeber die untersten 8,6% (im Gegensatz zu 0,5% im Jahr 2003, vgl. BT-Drs. 17/3404, S. 89) gegenüber lediglich 2,3% der Paarhaushalte mit Kind ausgeschlossen. Mit dem verringerten Anteil der Referenzgruppe bei Einpersonenhaushalten (15% gegenüber den unteren 20% als Referenzhaushalte bei den Familienhaushalten) wollte der Gesetzgeber berücksichtigen, dass sich diese Gruppe umso weiter nach oben in der Einkommensskala in höhere Einkommensbereiche verschiebt, je größer der Anteil der herausgerechneten Haushalte ist (vgl. Behrend, a.a.O., § 20 Rdnr. 101). Das BVerfG hat die Festlegung auf 15% bei den Einpersonenhaushalten gebilligt und ausgeführt, dass die Referenzgruppe so weit gefasst sei, dass statistisch zuverlässige Daten erhoben werden könnten. Die Stichprobe sei mit 1.678 Einpersonenhaushalten hinreichend groß gewesen (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13, juris Rdnr. 98 f.). Da sich der Umfang des absoluten oberen Grenzwertes auch für das RBEG 2017 nicht wesentlich verändert hat, sind die Erwägungen des Gesetzgebers nach wie vor sachgerecht (vgl. Saitzek in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 20 Rdnr. 48).
II. Die vom Kläger weiter erhobene Feststellungsklage hat das Sozialgericht zutreffend als unbegründet erachtet. Die (zunächst) fehlende Weiterbewilligung ab 01.03.2019 resultierte daraus, dass der Kläger gegenüber dem Beklagten zum Ausdruck gebracht hatte, er werde keinen Weiterbewilligungsantrag für die Zeit ab 01.03.2019 stellen (vgl. sein Schreiben vom 07.02.2019). Aus dem Antragserfordernis des § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II folgt eindeutig und unmissverständlich, dass die Leistungen nach dem SGB II nur auf Antrag erbracht werden. Damit wurde festgelegt, dass die Träger der Grundsicherung die Leistungen des SGB II nicht von Amts wegen erbringen können. Nach dem Grundsatz der Eigenverantwortung (§ 1 Abs. 2 Satz 1 SGB II) muss der Leistungsberechtigte daher selbst aktiv werden und seinen Bedarf beim Jobcenter anzeigen. Erst der Antrag setzt das Verwaltungsverfahren nach §§ 8, 18 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Gang (sog. Türöffnerfunktion, vgl. BSG, Urteil vom 22.03.2009 – B 4 AS 62/09 R); erst ab dem Zeitpunkt der Antragstellung hat der Leistungsträger die Verpflichtung, das Bestehen des Leistungsanspruchs zu prüfen und zu bescheiden (vgl. Silbermann in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 37 Rdnr. 4). Der Antrag hat eine anspruchsauslösende Funktion, weshalb ihm insoweit eine konstitutive Wirkung zukommt. Das BSG hat bereits entschieden, dass die frühere Rechtsprechung zum Anspruch auf Fortzahlung der Arbeitslosenhilfe ohne Fortzahlungsantrag nicht in das SGB II übernommen werden kann. Die Weitergewährung von Leistungen zu Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II erfordert daher einen Fortzahlungsantrag (BSG, Urteil vom 18.01.2011 – B 4 AS 99/10 R). Der Beklagte hatte den Kläger auch mit Schreiben vom 03.01.2019 gebeten, den Weiterbewilligungsantrag einzureichen, so dass ihm eine Verletzung seiner Hinweispflicht nicht vorgeworfen werden kann. Eine Grundrechtsverletzung des Klägers durch den Beklagten ist vor diesem Hintergrund unter keinem Gesichtspunkt denkbar.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).


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