Sozialrecht

Unfallbedingtheit von Körperschäden – Versicherungsschutz

Aktenzeichen  34 O 239/16

Datum:
17.5.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 45463
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Aschaffenburg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
VVG § 178 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Der Kläger hat keinen Kausalzusammenhang zwischen seinen Beschwerden und dem erlittenen Unfall beweisen können. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Kausalität des Unfallereignisses wäre lediglich zu bejahen gewesen, wenn der Kläger hätte nachweisen können, dass der Vorfall die Aktivierung der zuvor klinisch stummen degenerativen Veränderungen bewirkt hat ( (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I. Die zulässige Klage ist unbegründet.
Es steht nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Invalidität des Klägers unfallbedingt ist. Dies ist aber Voraussetzung für eine Leistungspflicht der Beklagten nach § 2 Nr. 1.1 der Allgemeinen Versicherungs-Bedingungen. Für die unfallbedingte Invalidität ist der Kläger beweisbelastet.
1. Nach der Einschätzung des Sachverständigen Dr. … – der sich nach Gericht nach eigener Überlegung anschließt – sind für den Januar 2015 zwar Schäden an der Halswirbelsäule des Klägers feststellbar. Jedoch handelt es sich nach der auch hier gut nachvollziehbaren und verständlich begründeten Einschätzung des Sachverständigen um chronische und degenerative Veränderungen an den Halswirbelkörpern 4/5, 5/6 und 6/7, die bereits vor dem Unfall vom 08.11.2014 vorlagen. Nur diese Veränderungen – und keine frischen unfallbedingten Verletzungen – waren Ursache für die beiden Operationen, nämlich am 31.01.2015 und 15.10.2015 (vgl. Gutachten vom 21.05.2017 Bl. 18ff., Bl. 223ff. d.A.; Ergänzungsgutachten vom 27.11.2017 Bl. 2, Bl. 257Rs. d.A.).
Bei den insbesondere auf dem MRT vom 14.01.2015 (vgl. Bl. 245 d.A.) vom Sachverständigen Dr. … in der mündlichen Verhandlung erläuterten (vgl. Bl. 282 d.A.), aber auch in dem Arztbrief Dr. … vom 31.01.2015 (Bl. 91f. d.A.) festgestellten chronischen und degenerativen Veränderungen handelt es sich um Verknöcherungen mit entsprechenden Engstellen (vgl. Bl. 18 des Gutachtens vom 21.05.2017, Bl. 223 Rs. d.A.). Diese entstehen nicht unfallbedingt, sondern sind typisch für einen langen Prozess, der nicht binnen weniger Wochen auftritt.
Wie der Gutachten in der mündlichen Verhandlung präzisierte handelt es sich um zwei als Vorschäden feststellbare Verknöcherungen: zum einen um die Einengung der Spinalkanäle durch arthrosebedingte Osteophyten und zum anderen um eine bereits verknöcherte Protrusion (Bandscheibenvorwölbung).
a. Der Sachverständige erklärte und zeigte in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar, dass auf dem MRT vom 14.01.2015 (Bl. 245 d.A.) Osteophyten erkennbar sind (vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26.04.2018, Bl. 282 d.A):
„Wenn man auf Bl. 245 d.A. das Geviert links oben betrachtet, sieht man an dem schwarz dargestelltem Knochen etwa in der Mitte etwas wie Nasen nach oben ragen. Hierbei handelt es sich um Osteophyten.“
Diese Feststellung korrespondiert mit dem unter dem Punkt „Röntgen“ im Arztbrief Dr. … vom 30.01.2015 festgestellten „dosalen Randzacken C5/6 > C6/7“ (Bl. 91 d.A.).
Osteophyten sind degenerative, strukturelle Veränderungen in Form von knöchernen Ausläufern am Rand des Knochens. Diese Knochenneubildungen, die sich als Knochenvorsprünge am Rande der Gelenkflächen bilden können, können in Form von Spangen, Randzacken, Höckern oder flächenhaften Auflagerungen auftreten. Die Bildung von Osteophyten ist ein fehllaufender Versuch des Körpers, die Auflagefläche eines arthrotischen Gelenkes zu verbreitern und damit den Auflagedruck zu mindern (Quelle: wikipedia unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Osteophyt).
Gestützt auf die Bilder und das Arztschreiben Dr. … bzgl. des MRTs vom 14.01.2015 stellte der Sachverständige für den Januar 2015 weiterhin eine Osteochondrose (Arthrose der Grundund Deckplatten) sowie Arthrosen der Facettengelenke (Uncarthrose) mit begleitender Einengung der Neuroforamen fest (vgl. Gutachten vom 21.05.2017 Bl. 17 = Bl. 223 d.A.; Ergänzungsgutachten vom 27.11.2017 Bl. 2f. = Bl. 257Rs d.A.). Bei einer Osteochondrose handelt es sich um eine Arthrose zwischen Wirbelkörpern (vgl. Ausführung des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vom 26.04.2018, Bl. 283 d.A.).
Konkret wird im Arztschreiben Dr. … dazu ausgeführt:
„Befund und Beurteilung: […]
HWK 4/5: Osteochondrose. Uncarthrosen rechtsbetont mit deutlicher Einengung des rechten NF für C5. Kein BSV. Keine SKS.
HWK 5/6: Ausgeprägte Osteochondrose. Massive Uncarthrosen mit ausgeprägter Einengung der NF für C6. Kein BSV. Relativ enger SK. Keine hochgradige SKS. HWK 6/7: Osteochondrose. Uncarthrosen rechtsbetont mit deutlicher Einengung des rechten NF für C7. Kein BSV. Keine SKS.“ (Bl. 88 d.A.)
Dass der Kläger unter Osteochondrose litt wird auch unter dem Punkt „Röntgen“ im Arztbrief Dr. … vom 30.01.2015 festgehalten: „MRT der HWS: Zeichen der Osteochondrose“ (Bl. 91 d.A.).
Diese knöcherne Einengung des Spinalkanals durch arthrosebedingte Osteophyten entsteht aber nicht durch ein Trauma, sondern spricht für einen chronischen Prozess, der höchst unwahrscheinlich nicht binnen weniger Wochen auftritt. Vielmehr ist das ein Prozess, der sich über einen längeren Zeitraum entwickelt (Gutachten vom 21.05.2017, Bl. 3; Bl. 258 d.A.).
Dass ein Verknöcherungsprozess eines längeren – jedenfalls zweieinhalb Monate überschreitenden – Zeitraums bedarf, hält das Gericht aufgrund nachvollziehbarer Einschätzung des Sachverständigen und eigener Überlegung für zutreffend.
b. Bei der in der Operation vom 30.01.2015 mit ausgeräumten Bandscheibenvorwölbung (Protrusion) handelt es sich nicht um eine unfallbedingte Protrusion. Denn auch diese wies einen Grad der Verknöcherung auf, die gegen eine Entwicklung binnen weniger Wochen spricht (Gutachten vom 21.05.2017, Bl. 3; Bl. 258 d.A.). Hierzu führte der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar aus:
„Ein verknöcherter Bandscheibenvorfall entsteht nicht in ein paar Wochen. Das geht meist über ein paar Jahre. Nach meiner medizinischen Erfahrung ist auszuschließen, dass diese festgestelle und entfernte verknöcherte Bandscheibenvorwölbung unfallbedingt ist. Denn eine solche Verknöcherung entsteht nicht binnen 2 1/2 Monaten.“ (Bl. 283 d.A.)
Dieser Einschätzung schließt sich das Gericht an.
c. Nicht auszuschließen – aber auch nicht zu belegen – ist, dass die beiden Vorschäden (arthrosebedingte Osteophyten und verknöcherte Protrusion) – durch den Sturz des Klägers „aktiviert“ worden sind. Hierzu hat der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung vom 26.04.2018 ausgeführt:
„Es kann sein, dass diese beiden Schäden durch den Unfall aktiviert worden sind. […] Es kann sein, dass es ein Gelenk mit Verschleiß gibt. Das ist ruhig. Es wird aber offenbar mit einem Ereignis. Die Leute haben dann Beschwerden, die in der Regel aber nach einer Weile wieder abklingen. Auf dem MRT vom 14.01.2015 kann man nicht erkennen, aber auch nicht ausschließen, ob es zu einer Aktivierung durch den Unfall kam. Das kann generell abstrakt so sein. Konkret individuell kann ich aus den Bildern keine Rückschlüsse ziehen.“ (vgl. Bl. 283 d.A.)
Selbst wenn eine Aktivierung durch den Unfall beweisbar wäre – was nicht der Fall ist – müssten die Vorschäden des Klägers als Mitursache und erhöhte Schadensgeneigtheit des Klägers miteinbezogen werden. Wie hoch diese Mitursächlichkeit anzusetzen wäre, ist derzeit ungeklärt, da bereits die Aktivierung durch den Unfall nicht feststeht.
2. Anhaltspunkte für frische – unfallbedingte – Verletzungen der Bandscheibe liegen nicht vor.
Im Einzelnen:
a. Zwar hat der Hausarzt Dr. … im Termin vom 12.11.2014 u.a. festgehalten: „Zervikobrachialgie“ (vgl Bl. 105 d.A.).
Zervicobrachialgie heißen von der Halswirbelsäule ausgehende Schmerzen, die in den Arm ausstrahlen (Quelle: wikipedia unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Cervicobrachialgie).
Eine weitere Diagnose hat der Hausarzt nicht gestellt und klinische Untersuchungsergebnisse liegen bis zum MRT vom 14.01.2015 nicht vor. Allein auf diese nicht näher präzisierte oder durch klinische Untersuchungen belegte und konkretisierte Angabe des Klägers gegenüber dem Hausarzt lässt sich nicht der Rückschluss einer unfallbedingten HWS-Schädigung stützten. So auch nachvollziehbar der Sachverständige Dr. … (vgl. Ergänzungsgutachten vom 21.11.2017 Bl. 4 = Bl. 258Rs. d.A.).
Im Übrigen ist der Kläger von seinem Hausarzt Dr. … bereits am 19.11.2012 einmal wegen Zervikobrachialgie behandelt worden (vgl. Sonderband Bl. 139), was ebenfalls eine Vorschädigung des Klägers in diesem Bereich nahelegt.
b. Im Durchgangsarztbericht der Dres. … vom 21.11.2014 ist als Befund festgehalten:
„Keine äußeren Verletzungszeichen, Druckschmerz im Bereich des linken Hemithorax – vordere Axillarlinie links. Lungenbelüftung regelrecht. Druckschmerz untere LWS, Schmerzausstrahlung rechts gluteal. Durchblutung, Motorik und Sensibilität regelrecht“ (Bl. 84 d.A.)
Diesem Befund sind keine frischen Verletzungen der Halswirbelsäule zu entnehmen.
c. Auch die im Arztbrief vom 31.01.2015 (Bl. 91f. d.A.) beschriebenen Ödeme in Grund- und Deckplatte lassen sich nicht eindeutig auf den Unfall zurück führen. Denn bei dem Kläger bestand bereits im Januar 2015 – wie oben ausgeführt – eine Arthrose (Osteochondrose) der Segmente, die ebenfalls zu Grund- und Deckplattennahen Ödemen führen kann.
Hierzu hat der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung vom 26.04.2018 nachvollziehbar aufgeführt:
„Hierbei handelt es sich um typische Begleiterscheinungen einer Osteochondrose. Dabei handelt es sich um eine Arthrose zwischen den Wirbelkörpern. Auch bei dem Ödem handelt es sich um eine typische Begleiterscheinung der Osteochondrose. Ein Ödem ist eine Wasseransammlung. Die Knochen sind durch die Bandscheibe geschützt. Wenn diese als Schutzvorrichtung nicht mehr oder nicht mehr so gut da ist, reiben die Knochen aufeinander. Dadurch entsteht eine Wasseransammlung.“ (Bl. 283 d.A.)
Wie oben bereits ausgeführt ist die Osteochondrose auch in dem Arztschreiben Dr. … vom 31.01.2015 (Bl. 59 d.A.) aufgeführt. Auch die hier gewählte Formulierung legt nahe, dass auch Dr. U. die festgestellten Ödeme in Grund- und Deckplatte in Höhe: C5/6 für ein weiteres Zeichen der Osteochondrose hält, denn er formuliert: „MRT der HWS: Zeichen der Osteochondrose mit […], sowie Ödemen in Grund- und Deckplatte in Höhe: C5/6.“
d. Auch eine zerrissene Bandscheibe oder Wirbelknochen konnte der Sachverständige nicht feststellen (Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26.04.2018, Bl. 284 d.A.).
e. Zwar besteht abstrakt generell die Möglichkeit, dass die Osteophyten durch einen Unfall selbst verletzt werden oder das Gewebe in der Umgebung verletzen.
Auch hierzu gab der Sachverständige an, dass es im konkreten Fall in den vorliegenden Unterlagen keine diesbezügliche Verletzung der Facetten oder des umliegenden Gewebes erkennbar sei (Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26.04.2018, Bl. 284 d.A.).
f. Der Sachverständige konnte auch bei C5/6 keine Frakturenrisse oder knöcherne Kantenabspaltungen feststellen (Protokoll der mündlichen Verhandlung vom26.04.2018, Bl. 284 d. A.).
g. Eine im Gutachten Dr. … festgestellte Distorsion Grad I (vgl. Bl. 23 d.A.) – die der Sachverständige nicht ausschließen konnte (vgl. Bl. 284f. d.A.) – begründet keine Invalidität.
3. Der Auszug aus dem Artikel im TagesAnzeiger, den der Kläger nunmehr mit Schriftsatz vom 03.05.2018 einreichen ließ, wurde in der mündlichen Verhandlung nicht in Augenschein genommen, weil es sich nach eigener Schilderung des Klägers um einen allgemeinen Artikel zum Thema Schleudertrauma handelte. Dem Kläger wurde aber freigestellt, sich daraus ergebende Fragen an den Sachverständigen zu stellen. Von dieser Möglichkeit hat der Kläger auch Gebrauch gemacht. Hierzu erklärte der Sachverständige:
„Das von uns vorhin in Augenschein genommene MRT vom 14.01.2015 zeigt auch ein Ödem. Das kann auch unfallbedingt sein. Ich halte es aber für unwahrscheinlich wie oben schon ausgeführt. Es hat auch nichts mit den Randzacken aus der Frage Nr. 3 zu tun.“
(vgl. Seite 4 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 26.04.2018 „Erneut befragt erklärt der Sachverständige:“, Bl. 284 d.A.). Eine Verletzung rechtlichen Gehörs ist daher nicht gegeben.)
Auch im Übrigen enthält der Schriftsatz vom 03.05.2018 keine Gründe, wieder in die mündlichen Verhandlung einzutreten oder neue Argumente, mit denen bisher keine Auseinandersetzung stattgefunden hat.
II.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
2. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 Satz 1 und 2 ZPO.


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