Sozialrecht

Unzulässige Legal-Tech-Klage

Aktenzeichen  S 46 AS 1966/18

Datum:
28.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 18244
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 95
VwGO § 79
SGB II § 11, § 11a, § 11b, § 19 Abs. 1, § 21, § 22, § 34

 

Leitsatz

1 Eine vom Sachinteresse losgelöste isolierte Klage gegen einen Widerspruchsbescheid ist mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 12. Juli 2018 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Berufung zugelassen.

Gründe

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben. Die Klage ist jedoch unzulässig, weil hier für eine Klage allein gegen den Widerspruchsbescheid kein Rechtsschutzbedürfnis besteht.
Das Gericht konnte hier gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten ihr Einverständnis mit dieser Form der Entscheidung erklärt haben.
Streitgegenstand der erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist allein die Frage, ob der Widerspruchsbescheid vom 12.07.2018 aufzuheben ist und der Beklagte erneut über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 15.01.2018 (Bewilligung von Arbeitslosengeld II für das Jahr 2018) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden hat. Die Klägerin begehrt inhaltlich hier demnach nur eine gerichtliche Entscheidung zu der Frage, ob der Widerspruch zulässig war, insbesondere, ob die eingescannte Unterschrift das Schriftformerfordernis des § 84 Abs. 1 S. 1 SGG erfüllt. Die Leistungsbewilligung als solche ist nicht Gegenstand der Klage. Dieser eingeschränkte Klagegegenstand wurde auf die Frage des Gerichts nach dem sachlichen Ziel der Klage ausdrücklich bestätigt.
Nach § 95 SGG ist Klagegegenstand, sofern ein Vorverfahren stattgefunden hat, der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. § 95 SGG legt nicht den Streitgegenstand fest, sondern das Verhältnis zwischen Ausgangsbescheid und dem Widerspruchsbescheid für das sozialgerichtliche Verfahren. Ausgangsbescheid und Widerspruchsbescheid sind als prozessuale Einheit zu sehen. (Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 12. Auflage 2017, § 95 Rn. 1). Grundsätzlich ist eine Anfechtungsklage, auch wenn diese mit anderen Klagen kombiniert ist, deshalb gegen den Ausgangsbescheid und den Widerspruchsbescheid zu richten.
Von diesem Grundsatz gibt es in entsprechender Anwendung von § 79 VwGO Ausnahmen, wenn ein berechtigtes Interesse an der isolierten Anfechtung des Widerspruchsbescheids besteht (Janitz in Roos/Wahrendorf, Sozialgerichtsgesetz, 2014, § 95 Rn. 27 ff; B. Schmidt, a.a.O., § 95 Rn. 3 ff; Binder in Lüdtke/Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, 5. Auflage 2016, § 95 Rn. 4 ff; BSG, Urteil vom 24.03.2015, B 8 SO 16/14 R, Juris Rn. 11). Es sind dies die Fälle einer erstmaligen Beschwer durch den Widerspruchsbescheid (§ 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO), einer zusätzlichen selbständigen Beschwer durch den Widerspruchsbescheid (§ 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO) und die Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift, sofern der Widerspruchsbescheid auf dieser Verletzung der Verfahrensvorschrift beruht (§ 79 Abs. 2 Satz 2 VwGO).
In vorliegenden Fall kommt allein die Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift entsprechend § 79 Abs. 2 Satz 2 VwGO in Betracht. Die Klägerin macht geltend, dass der Widerspruch zu Unrecht als unzulässig verworfen worden sei, weil die eingescannte Unterschrift kein Formfehler des Widerspruchs sei.
Wenn ein Widerspruch zu Unrecht als unzulässig verworfen wurde, ist von einer Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift auszugehen. Der Widerspruchsführer hat ein schützenswertes Interesse daran, dass sein Widerspruch in der Sache verbeschieden wird, wenn der Widerspruch tatsächlich zulässig war und es um eine Ermessensentscheidung oder Fragen der Zweckmäßigkeit geht. Kein Rechtsschutzbedürfnis besteht dagegen, wenn es weder um Ermessens- noch Zweckmäßigkeitsfragen geht und eventuelle Verfahrensfehler durch das Gericht geheilt werden können (B. Schmidt, a.a.O., § 95 Rn. 3e, Janitz, a.a.O. § 95 Rn. 32). Die isolierte Anfechtbarkeit des Widerspruchsbescheids hat nicht den Zweck, ein objektiv verfahrensfehlerfreies Widerspruchsverfahren zu garantieren, sondern den Zweck, bei der Verfolgung des materiell-rechtlichen Begehrens effektiven Rechtsschutz zu gewähren (Janitz a.a.O.).
Der behauptete Verfahrensfehler im Widerspruchsverfahren kann durch das Gericht geheilt werden. Das Gericht kann in der Sache entscheiden, wenn der Widerspruch zu Unrecht als unzulässig verworfen wurde. Sachurteilsvoraussetzung ist nach § 78 SGG die Durchführung eines Vorverfahrens als solches, nicht ein bestimmtes Ergebnis oder die Fehlerfreiheit des Vorverfahrens (BSG, Urteil vom 24.11.2011, B 14 AS 151/10 R, Juris Rn. 9, BSG, Urteil vom 24.03.2015, B 8 SO 16/14 R, Juris Rn. 15). Es wäre mit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht zu vereinbaren, wenn es die Behörde in der Hand hätte, durch eine nicht gerechtfertigte Verwerfung eines Widerspruchs als unzulässig, eine Sachprüfung durch das Gericht zu verhindern. Soweit vertreten wird, die isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheids sei hier schon deswegen zulässig, weil das Sozialgericht durch einen Widerspruchsbescheid, der einen Widerspruch als unzulässig verworfen hat, an einer Entscheidung in der Sache gehindert sei (SG Duisburg, Urteil vom 26.04.2018, S 49 AS 857/17 und SG Kassel, Urteil vom 27.02.2019, S 7 AS 29/19), ist dem nicht zuzustimmen.
Außerdem ist das sozialgerichtliche Verfahren von dem Grundgedanken geprägt, dass der Kläger die Klage erheben muss, die ihn direkt zu seinem eigentlichen Ziel führt. So ist etwa eine Verpflichtungsklage ist nicht zulässig, wenn unmittelbar die Leistung begehrt werden kann (Keller in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 54 Rn. 38c). Eine Gestaltungs- und Leistungsklage hat Vorrang gegenüber einer bloßen Feststellungsklage (Keller, a.a.O., § 55 Rn. 19) und eine Elementenfeststellungsklage ist grundsätzlich unzulässig (Keller, a.a.O., § 55 Rn. 9). Mit diesem Grundgedanken wäre es nicht vereinbar, eine isolierte Klage gegen einen Widerspruchsbescheid zuzulassen, obwohl das Gericht bei einer gebundenen Entscheidung auch sofort in der Sache entscheiden könnte.
Eine erfolgreiche isolierte Klage gegen den Widerspruchsbescheid würde dem Kläger keine Klage ersparen, sondern allenfalls zu einer zweiten unnötigen Klage führen, wenn ein erneuter ablehnender Widerspruchsbescheid, diesmal in der Sache, vorliegt. Daran hat ein Kläger kein schützenswertes Interesse. Hinzu kommt, dass in diesem Fall nicht einmal ansatzweise erkennbar ist und auch nichts vorgetragen wurde, was an der strittigen Bewilligung sachlich falsch sein könnte. Für eine von einem Sachinteresse losgelöste isolierte Klage gegen einen Widerspruchsbescheid ist erst recht kein Rechtsschutzinteresse erkennbar.
Weil die Klage gegen den isolierten Widerspruchsbescheid mangels Rechtsschutzinteresse unzulässig ist, werden lediglich ergänzend Hinweise zur Frage der Unterschrift gegeben. Ein schriftlicher Widerspruch nach § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG setzt grundsätzlich eine eigenhändige Unterschrift voraus. Anders als bei der Klageschrift (§ 92 Abs. 1 Satz 3 SGG) handelt es sich nicht nur um eine Sollvorschrift. Nach h. M. genügt aber ein schriftlicher Widerspruch ohne Unterschrift, wenn durch das Schreiben allein oder in Verbindung mit Anlagen sichergestellt ist, dass die Erklärung vom Widerspruchsführer stammt und nichts dafür spricht, dass sie ohne dessen Willen in den Verkehr gelangt ist (B. Schmidt, a.a.O., § 84 Rn. 3 mit weiteren Hinweisen zu Literatur und Rechtsprechung).
Auch eine vervielfältigte Unterschrift soll genügen, wenn nicht Umstände des Einzelfalls zu Zweifeln Anlass geben (B. Schmidt, a.a.O.). Derartige Zweifel bestehen hier. Die Widerspruchsbegründung war offensichtlich eine Sammlung von Textbausteinen ohne jeden Bezug zum strittigen Fall. Um nur einige Punkte herauszugreifen: Mehrbedarfe wurden nicht geltend gemacht, Kosten der Unterkunft gab es nicht, Einkommen wurde nicht angerechnet und es ging auch nicht um eine Bedarfsgemeinschaft. Dass ein Rechtsanwalt tatsächlich mit dem Widerspruch zu tun hatte, also gemäß § 63 Abs. 3 Satz 2 SGB X tatsächlich zugezogen wurde, ist angesichts der verfehlten Widerspruchsbegründung, der eingescannten Unterschrift und wegen des Zahlenverhältnisses der Mandate und Rechtsanwälte sehr zu bezweifeln. Auch die Vorlage einer Vollmacht, die sich ausweislich deren Ausstellungsdatums auf den vorherigen Ersatzbescheid bezog, gibt Anlass zu Zweifeln, ob der Widerspruch mit Willen der Klägerin in den Verkehr gelangte.
Insgesamt geht das Sozialgericht davon aus, dass die eingescannte Unterschrift unter dem Widerspruch unter diesen Umständen nicht ausreichen würde. Bei anderen Einzelfällen kann sich das aber anders darstellen. Eine einfache Regel „Unterschrift eingescannt, also Widerspruch unzulässig“ gibt es wohl nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Beschwerdewert im Sinn von § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG ist nicht feststellbar. Die Berufung wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen. Die Streitsache betrifft eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage und am Sozialgericht München ist eine Vielzahl vergleichbarer Klagen anhängig.


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