Sozialrecht

Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente

Aktenzeichen  L 19 R 90/13

Datum:
13.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI SGB VI § 43 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 Nr. 1, § 241 Abs. 2

 

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente. (Rn. 40 ff.)

Verfahrensgang

S 14 R 630/11 2012-12-11 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 11.12.2012 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Gemäß § 43 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersrente Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1.voll erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3.vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gelten, hat die Klägerin nur erfüllt, wenn der medizinische Leistungsfall spätestens am 30.11.2013 eingetreten ist. Im Fünfjahreszeitraum vom 30.11.2008 bis 29.11.2013 wären 26 Monate Beitragszeit, 10 Monate Anrechnungszeiten nach § 58 Abs. Satz 1 Nr. 6 SGB VI und damit zugleich Streckungstatbestand nach § 43 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB VI und 25 Monate ohne rentenrechtlich relevante Zeit vorhanden. Im dementsprechend verlängerten Zeitraum vom 01.01.2008 bis 29.11.2013 wären die erforderlichen 36 Monate Beitragszeiten gegeben. Bei Leistungsfällen ab 01.12.2013 oder später wären maximal 35 Monate Beitragszeiten vorhanden und damit wäre die besondere versicherungsrechtliche Voraussetzung nicht mehr gegeben.
Eine Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 241 Abs. 2 SGB VI kommt nicht in Betracht. Zum einen hat die Klägerin zum 01.01.1984 die allgemeine Wartezeit (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI) noch nicht erfüllt gehabt, zum anderen besteht derzeit auch keine lückenlose Belegung der Folgezeit bis zur Rentenantragstellung mit Anwartschaftserhaltungszeiten (§ 241 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1-6 SGB VI). Allerdings wäre bezüglich letzterem Punkt – wenn es darauf ankommen würde – noch der genaue Umfang von Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung zu prüfen.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ergänzend führt § 43 Abs. 3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Die Klägerin ist nach den aktuellen ärztlichen Darlegungen zwar derzeit nicht in der Lage, wenigstens 3 Stunden täglich Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten, selbst wenn es sich um Arbeitsplätze ohne besondere nervliche und körperliche Anstrengungen handeln würde. Diese Auffassung wird im Übrigen von Klägerin und Beklagter geteilt.
Der Senat hat dabei aber die Überzeugung, dass es sich hierbei trotz beschriebener Chronifizierung um eine zeitliche Einschränkung handelt, die als vorübergehende Akuterkrankung im Sinne von Arbeitsunfähigkeit einzuordnen ist, und nicht um einen trotz adäquater Behandlung vorliegenden fortwährenden oder zumindest zeitlich befristeten Dauerzustand. Bei Intensivierung und Diversifizierung der Behandlung werden seitens der Sachverständigen – mit Ausnahme von Dr. I. – noch erhebliche Besserungspotentiale angenommen. Die seit Jahren durchgeführte nervenärztliche Behandlung der Klägerin ist deutlich zu grobmaschig: So wird nach dem fachärztlichen Behandlungskontakt im Januar 2013 ein Folgetermin bis Juni 2013 ausdrücklich verneint und die ärztlichen Unterlagen legen einen erneuten Behandlungskontakt erst im Januar 2014 nahe. Auch wird die Auffassung der behandelnden Ärztin, dass die Behandlungsmaßnahmen ausgeschöpft seien, weder durch die Fakten (unveränderte Medikation, keine laufende ambulante, keine stationären Behandlungen), noch durch die Ausführungen der Gutachter gestützt, die – so zuletzt auch H. E. – umfangreiche Behandlungsoptionen beschrieben haben. Die stationäre Rehabilitation hat objektiv eine Besserung der sozialmedizinischen Situation herbeigeführt gehabt, auch wenn die Klägerin sich subjektiv mehr davon versprochen gehabt haben mag. Dass dies nicht angedauert hat, ist der fehlenden Fortführung einer suffizienten Behandlung in der Folgezeit geschuldet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts werden psychische Erkrankungen jedoch erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann – weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (BSG Urteil vom 12.09.1990 – 5 RJ 88/89; BSG Urteil vom 29.02.2006 – B 13 RJ 31/05 R – jeweils zitiert nach juris; BayLSG Urteil vom 21.03.2012 – L 19 R 35/08). Im Fall der Klägerin ist das Vorliegen einer – ggf. befristeten – Erwerbsminderung von einer gewissen Dauer oder beständig nicht zu bejahen. Als sozialmedizinisches Leistungsbild ist somit weiterhin von einer Einsatzfähigkeit für zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes für täglich 6 Stunden auszugehen, wobei an Einschränkungen der Arbeitsbedingungen folgendes zu beachten ist:
Keine hohen Anforderungen an das Konzentrations- und Umstellungsvermögen, keine Nacht- oder Wechselschicht, keine Akkord- oder Fließbandarbeit, keine anderen nervlichen Belastungen, keine Anforderungen an den Bewegungs- und Haltungsapparat wie Heben, Tragen und Bewegen schwerer Lasten, Zwangshaltungen und Armvorhalt.
Dies entspricht weitgehend den von Frau Dr. W. getroffenen Feststellungen.
Und selbst wenn man mit der Untersuchung bei H. E., den Nachweis einer zeitlich befristeten – vollen – Erwerbsminderung geführt sehen wollte, hätte die Klägerin keinen Anspruch auf die beantragte Erwerbsminderungsrente, da sie zu diesem Zeitpunkt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt gehabt hätte. An diesem Ergebnis würde sich selbst dann nichts ändern, wenn man im Zeitraum zwischen der Rentenantragstellung und dem hypothetischen Leistungsfall im Oktober 2015 zusätzlich eine Zeit der befristeten Rentengewährung annehmen würde. In Frage hätte dabei allenfalls ein Leistungsfall ab der Untersuchung bei Dr. I. im August 2012 kommen können, weil für den zuletzt im Antrag der Klägerin aufscheinenden Leistungsfall im Mai 2012 keinerlei belastbare Belege vorhanden sind, so dass die Vermutung des Dr. I., dass ab diesem Zeitpunkt die Gesundheit der Klägerin sich verschlechtert hätte, durch nichts gestärkt wird. Das Ende wäre jedenfalls mit dem erfolgreichen Abschluss der Rehabilitationsmaßnahme im Juni 2014 anzunehmen, was sich aus den Ergebnissen des Rehabilitationsentlassungsbericht und der Stellungnahme des Dr. H. ergibt. Der maximale Zeitrentenbezug hätte sich somit von März 2013 bis Juni 2014 erstrecken können und zu einer Verlängerung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen um 16 Monate bis März 2015 führen können (§ 43 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI).
Der Senat sieht einen Anspruch auf eine Dauerrente oder Zeitrente ab der Untersuchung bei Dr. I. jedoch nicht als belegt an. Dies ergibt sich für den Senat auch für den damaligen Zeitpunkt vor allem daraus, dass die Klägerin die zumutbaren Behandlungsmöglichkeiten nicht ergriffen gehabt hatte. Eine Verschlechterung der Gesundheit der Klägerin nach der Begutachtung bei Dr. W. wird auch nicht durch objektive Fakten wie Intensivierung der Art und Häufigkeit der Behandlung erkennbar gemacht. Der Senat teilt die Auffassung der Beklagten, dass eine solche Verschlechterung nicht nachgewiesen ist.
Zwar könnten der Umzug der Klägerin zu ihrem Sohn im Jahr 2013 sowie das Unterbrechen und dann vollständige Wegbrechen von Kontakten zur Arbeitswelt oder den zugehörigen Vermittlungsstellen auf einen – krankheitsbedingten – Rückzug der Klägerin hindeuten. Andererseits liegt in einer solchen Situation, wenn sie als Entpflichtung erlebt wird, auch ein sekundärer Krankheitsgewinn. Eine tatsächliche gesundheitliche Verschlechterung sieht der Senat nicht als nachgewiesen an.
Auch der Eintritt von teilweiser Erwerbsminderung ist aus Sicht des Senats nicht belegt, da ein ausreichendes Restleistungsvermögen besteht. Insbesondere war während des Verwaltungsverfahrens und bei der Begutachtung bei Frau Dr. W. im sozialgerichtlichen Verfahren anhand der Untersuchungsergebnisse noch von einem ausreichenden d.h. mindestens 6-stündigen Einsatzvermögen der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen. Zumindest zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung hatte auch die Klägerin selbst noch Hoffnung auf eine Rückkehr ins Erwerbsleben gehabt und hatte sich eher von außen zu einer Rentenantragstellung gedrängt gesehen.
Ein Antrag auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) ist nicht gestellt worden; er hätte auch keinen Erfolg gehabt, weil die Klägerin aufgrund ihres Geburtsdatums eindeutig nicht zu dem von dieser Vorschrift erfassten Personenkreis gehört.
Nach alledem liegt und lag bei der Klägerin eine dauerhafte Erwerbsminderung in rentenberechtigendem Umfang nicht vor und die Bescheide der Beklagten sind im Ergebnis nicht zu beanstanden. Dementsprechend ist die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 19.11.2013 zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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