Sozialrecht

Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente

Aktenzeichen  L 19 R 789/14

Datum:
20.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI SGB VI § 43 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente.

Verfahrensgang

S 2 R 266/13 2014-04-28 Urt SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 28.04.2014 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, denn er ist in der Lage, wenigstens sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit qualitativen Einschränkungen tätig zu sein.
Gemäß § 43 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1. teilweise erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger noch in der Lage ist, wenigstens sechs Stunden täglich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten vorwiegend im Sitzen aber auch im Stehen und in wechselnder Körperhaltung zu verrichten. Zu vermeiden sind schweres Heben und Tragen, häufiges Bücken, Zwangshaltungen sowie das Besteigen von Leitern und Gerüsten. Vermieden werden müssen Arbeiten unter besonderem Zeitdruck, Tätigkeiten, die besondere Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit wie Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit und die Konzentration stellen, Tätigkeiten mit häufigem Kontakt von Publikumsverkehr oder häufiges Telefonieren. Vermieden werden müssen Tätigkeiten, die besondere Anforderungen an die Feinmotorik der rechten Hand stellen. Ebenso zu vermeiden ist Verantwortung für Personen und Maschinen sowie Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge sowie Schicht-, Akkord- oder Fließbandarbeit.
Der Senat stützt sich insoweit auf die überzeugenden und schlüssigen Gutachten von Dr. B. und im sozialgerichtlichen Verfahren von Dr. L..
Der Schwerpunkt der erwerbsmindernden Beeinträchtigungen des Klägers liegt auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet. Dr. B. hat insoweit folgende Diagnosen gestellt:
1. Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren.
2. Kombinierte Persönlichkeitsstörung.
3. Neigung zu depressiven Verstimmungen mit somatoformen Störungen.
4. Zustand nach Meningo-Enzephalitis (Hirnhautentzündung).
5. Abnutzung an der Wirbelsäule und an verschiedenen Gelenken.
Er ist jedoch zu der sozialmedizinischen Beurteilung gekommen, dass das quantitative Leistungsvermögen dadurch nicht gemindert ist.
Dr. B. hat ausgeführt, hinsichtlich der chronischen Schmerzstörung liege eine Minderung des zeitlichen Leistungsvermögens nicht vor. Der Kläger nehme lediglich ein übliches Schmerzmittel ein (Ibuprofen), eine spezielle Schmerzbehandlung unter Einsatz von Antidepressiva oder auch Antikonvulsiva sei bislang noch nicht einmal versuchsweise in Anspruch genommen worden. Die chronische Schmerzstörung dürfte größtenteils psychogen hervorgerufen worden sein. Allerdings fehle es insoweit an einer ausreichenden Behandlung, insbesondere sei auch zu keiner Zeit eine reguläre Psychotherapie durchgeführt worden. Als Behandlungsmöglichkeiten bestünden eine spezielle Schmerzbehandlung ambulant oder ggf. teilstationär oder auch stationär sowie in einer verhaltenstherapeutisch orientierten psychosomatischen Klinik am besten mit der Möglichkeit einer Schmerztherapie.
Auch die Neigung zu depressiven Verstimmungen mit somatoformer Störung führe nicht zu einer Minderung des quantitativen Leistungsvermögens. In den Facharztberichten sei nie die Diagnose einer mittelschweren oder gar schweren Depression gestellt worden. Beschrieben wurden lediglich Erschöpfungszustände, Anpassungsstörungen und auch eine Dysthymie. Auch die bei der Untersuchung beobachtete Verstimmung sei leichter Art gewesen. Damit korrespondiere auch der Umstand, dass die Kontakte mit dem behandelnden Psychiater nur recht weitmaschig stattfanden und die Therapie nicht mehr geändert worden sei.
Die Folgen der im Jahr 1982 erlittenen Meningo-Enzephalitis bedingen ebenfalls keine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens. Dr. B. beschreibt insoweit lediglich leichte Einschränkungen bezüglich der Feinmotorik der rechten Hand und des Sprachvermögens. Teilweise war zwar der Redefluss in der klinischen Untersuchung deutlich gehemmt. Eine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens bedingt dies jedoch nicht. Festzustellen war zwar eine Beeinträchtigung des Konzentrationsvermögens und der Merkfähigkeit. Allerdings führt dies auch in Zusammenschau der Beeinträchtigungen lediglich zu den oben genannten qualitativen Einschränkungen. Zu berücksichtigen ist ebenso, dass der Kläger seit Jahren – und auch das noch während der Ausübung seiner letzten beruflichen Tätigkeit – in der Lage war, als Alleinerziehender seine vier minderjährigen Kinder zu versorgen. Dies ist ihm auch nach wie vor möglich (seit 2010).
Zum Tagesablauf befragt gibt der Kläger an, er bewohne zusammen mit seinen drei (eine Tochter lebt bei der Mutter, wird aber von ihm versorgt) Kindern eine 4-Zimmer-Wohnung. Er stehe um 6.00 Uhr auf und lege sich wie auch die Kinder um 20.00 Uhr ins Bett. Er bereite das Frühstück vor, auch für die Kinder. Schließlich müsse er sich um eine der beiden Töchter, von denen eine behindert sei, mehr kümmern, mit Waschen und Anziehen. Nachdem er die Kinder in die Schule gebracht habe, erledige er zuhause alle anfallenden Arbeiten. Er bereite ein warmes Mittagessen zu, abends koche er nur eine leichte Mahlzeit. Er hole die Kinder von der Schule ab. Nachmittags bringe er die behinderte Tochter in eine Einrichtung. Für Hobbies habe er keine Zeit. Er betreibe keinen Sport. Im Sommer gehe er mit den Kindern ins Schwimmbad. Mit dem Lesen und Schreiben habe er seit seiner Enzephalitis große Schwierigkeiten.
Dr. L. gelangte zu der gleichen sozialmedizinischen Beurteilung wie Dr. B.
Er stellte folgende Diagnosen:
1. Anhaltende somatoforme Schmerzstörung.
2. Wirbelsäulenschmerzsyndrom bei degenerativen Veränderungen ohne sensomotorisches Defizit mit geringgradiger Funktionseinschränkung.
3. Rezidivierende depressive Störung, derzeit leichtgradig ausgeprägt.
4. Migräne, Kopfschmerz.
Auch bei Dr. L. berichtete der Kläger von einem strukturierten Tagesablauf durch Haushaltsführung und Kinderversorgung.
Der Senat folgt nicht der quantitativen Leistungsbeurteilung durch Dr. C. und Dr. S.
Dr. C. stellte fest, bei dem Kläger bestehe als Folge einer in der Jugend durchgemachten Meningitis neurologisch eine Halbseiten-Symptomatik des rechten Armes und Beines, gekennzeichnet durch eine Kraftminderung im Bereich der Handfunktion sowie deutliche Koordinationsstörungen der rechten Hand und des rechten Beines mit hierdurch bedingter Unsicherheit beim Gehen und Ungeschicklichkeit in der Feinmotorik. Außerdem habe die Meningitis zu einem organischen Psycho-Syndrom geführt mit erheblicher Einschränkung der geistigen Fähigkeiten, bezogen auf Merkfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit und Sprachvermögen. Die Sprache sei durch eine ausgeprägte motorische Aphasie beeinträchtigt.
Die Minderung des quantitativen Leistungsvermögens stützt er im Wesentlichen auf das organische Psychosyndrom mit erheblicher Einschränkung der geistigen Fähigkeiten sowie die Halbseitensymptomatik des rechten Armes und Beines.
Zunächst ist für den Senat nicht schlüssig, warum die Folgen der in der Jugend durchgemachten Meningitis zu einer Minderung des quantitativen Leistungsvermögens führen sollen. Dr. C. hat bei den neurologischen Befunden folgendes festgestellt:
“Motorik: normales Muskelrelief und regelrechter Muskeltonus. Grobe Kraft bei Prüfung im rechten Arm gegen links gemindert, insbesondere kann er rechts nicht einen Zangengriff – Daumen/Kleinfinger – durchführen. Auch der Zangengriff – Daumen/Zeigefinger – ist kraftgemindert.
Gangprüfungen: Gang normalschrittig mit mangelndem Pendeln des rechten Armes. Zehen- und Hackengang ist seitgleich möglich, allerdings beim Zehengang Unsicherheit und Seitabweichung nach rechts”.
Im Übrigen beschreibt Dr. C., dass der Kläger trotz seiner ausgeprägten motorischen Aphasie klare Angaben zu Anamnese, den Beschwerden und dem Sozialstatus machen konnte. Allerdings falle auf, dass er immer wieder länger nachdenken müsse, bis er die richtigen Worte finde.
Dr. C. gibt weiter an, die Meningitis habe zu einem organischen Psycho-Syndrom geführt mit erheblichen Einschränkungen der geistigen Fähigkeiten bezogen auf Merkfähigkeit, Konzentrationsphase und Sprachvermögen. Die Sprache sei durch eine ausgeprägte motorische Aphasie beeinträchtigt.
In seiner ergänzenden Stellungnahme weist er weiter darauf hin, dass ab Anfang 2012 durch die chronische Schmerzerkrankung und die dauernde psychische Belastung die Fähigkeit des Klägers, seine körperlichen Defizite – Hemisymptomatik rechts und motorische Aphasie – ausreichend zu kompensieren verloren gegangen sei. Deshalb sei ab diesem Zeitpunkt die Erwerbsunfähigkeit festzustellen. Dr. C. führt insoweit zum psychischen Befund aus, es bestünden deutliche Einschränkungen der Konzentrationsfähigkeit, die im Laufe der Exploration deutlich nachlasse. Daneben bestehe eine ausgeprägte Störung der Merkfähigkeit. Der Kläger habe ausgeprägte Schwierigkeiten, einfachste Rechenaufgaben zu lösen. Im Allgemeinwissen habe er erhebliche Defizite zum Tagesgeschehen gezeigt. Dies korreliere mit seinen Angaben, dass er weder die Zeitung lese noch sich mit Fernsehen beschäftige. Aufgefordert, einige Worte zu lesen, falle auf, dass er hierbei erhebliche Schwierigkeiten habe.
Dazu ist jedoch festzustellen, dass der Kläger die Lese- und Schreibschwäche schon mit in das Erwerbsleben eingebracht hat und er über 30 Jahre berufstätig gewesen ist. Der Einschätzung von Dr. C., dieses geminderte quantitative Leistungsvermögen bestehe schon seit 2012, steht auch der Reha-Entlassungsbericht der A. Klinik S-Stadt vom 01.06.2012 entgegen. Die neuropsychologische Diagnostik ergab auch hier, dass Gedächtnisschwierigkeiten beim Kläger vorliegen sowie auch bei Tätigkeiten unter erhöhtem Zeitdruck Schwierigkeiten aufgetreten sind. Im Übrigen waren die Leistungen durchschnittlich bzw. noch durchschnittlich. In der sozialmedizinischen Beurteilung erfolgte die Entlassung dann auch als sechsstündig leistungsfähig ohne besondere Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen.
Auch der Beurteilung durch Dr. S. im sozialgerichtlichen Verfahren wird nicht gefolgt. Die von Dr. S. in den Vordergrund gerückte leichte Reststörung einer motorischen Aphasie mit Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit besteht bereits seit der in der Kindheit durchgemachten Meningitis und begleitete den Kläger während seines gesamten Berufslebens, ohne dass ihm deshalb die Ausübung einer Berufstätigkeit verwehrt gewesen wäre. Nach Bekundungen des Klägers kam es am letzten Arbeitsplatz zu zunehmendem Zeitdruck und Überforderung sowie zu Spannungen in seinem privaten Umfeld. Dies führte zu einer chronisch depressiven Entwicklung nach Überlastungssituation. Die Behandlung war hierfür seit Jahren gleichbleibend mit einer Tablette Cymbalta 60 und Mirtazapin 30 täglich. Eine therapieresistente chronische Depression kann nicht angenommen werden Darüber hinaus gilt: Solange zumutbare Behandlungsmöglichkeiten auf psychischem bzw. psychiatrischem Gebiet noch nicht versucht bzw. noch nicht ausgeschöpft wurden und noch ein entsprechend erfolgversprechendes Behandlungspotential besteht, kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sowie des erkennenden Senats eine dauerhafte quantitative Leistungsminderung nicht auf die psychische Erkrankung gestützt werden (vgl. BSG v. 12.9.1990, 5 RJ 88/89).Die Behandlungsoptionen wurden noch nicht ausgeschöpft. So gehen sowohl Dr. B. wie auch Dr. L. davon aus, dass noch Therapieoptionen gegeben sind, insbesondere im Hinblick auf die Schmerztherapie wie aber auch durch eine psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme. Soweit Dr. C. davon ausgeht, eine Psychotherapie sei nicht erfolgversprechend aufgrund der intellektuellen Leistungsminderung des Klägers, so ist darauf hinzuweisen, dass Dr. B. nicht lediglich eine Psychotherapie vorgeschlagen hat, sondern auch eine Schmerztherapie und insbesondere auch eine Medikamentenumstellung.
Nach Ansicht des Senats liegt ebenso keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, aufgrund derer dem Kläger eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen wäre. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG vom 09.05.2012, B 5 R 68/11 R) hat die Prüfung in zwei Schritten zu erfolgen. Zunächst ist festzustellen, ob grundsätzlich noch Tätigkeiten einfacher Art auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (wie Kleben, Verpacken, Zureichen, Montieren) möglich sind. Erst wenn dies nicht der Fall ist, ist eine Verweisungstätigkeit zu benennen. Im vorliegenden Fall ist der Senat davon überzeugt, dass der Kläger noch einfache Tätigkeiten wie Zureichen, Verpacken verrichten kann. Solche Sortiertätigkeiten hat er trotz der Folgen der in der Kindheit erlittenen Meningo-Enzephalitis jahrelang bei der Post im Briefzentrum verrichtet. Demzufolge ist keine Verweisungstätigkeit zu benennen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gem. § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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