Steuerrecht

Beziehen rechtskräftiger Verurteilungen im Rahmen der Prüfung – Entzug der vertragsärztlichen Zulassung

Aktenzeichen  S 38 KA 240/18

Datum:
24.10.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 30382
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 95 Abs. 6 S. 1
Ärzte-ZV § 27

 

Leitsatz

1. Im Rahmen der Prüfung, ob ein Entzug der vertragsärztlichen Zulassung nach § 95 Abs. 6 SGB V i.V.m. § 27 Ärzte-ZV auszusprechen ist, können sich die Zulassungsgremien auf rechtskräftige Strafurteile, Strafbefehle, auch auf bestandskräftige Entscheidungen der Kassenärztliche Vereinigung Bayerns und der Wirtschaftlichkeitsgremien beziehen, ohne selbst eigene Ermittlungen zur Frage, ob gröbliche Pflichtverstöße vorliegen, anstellen zu müssen. (Rn. 21)
2. Nach Aufgabe der sog. „Wohlverhaltensrechtsprechung“ durch das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 17.10.2012, Az B 6 KA 49/11 R; BSG, Beschluss vom 22.3.2016 , Az B 6 KA 69/15 B) ist für die Berücksichtigung von Wohlverhalten bei der Entscheidung über den Entzug der vertragsärztlichen Zulassung kein Raum. Unabhängig davon ist auch eine überobligatorische Schadensregulierung nicht als Wohlverhalten zu werten. (Rn. 31 – 32)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet. Gegenstand der Klage ist der Bescheid des Berufungsausschusses, da dieser seinerseits die Voraussetzungen für den Zulassungsentzug umfassend zu überprüfen hat. Dieser Bescheid des Berufungsausschusses ist sowohl formell, als auch materiell rechtmäßig.
Rechtsgrundlage für die Entziehung der Zulassung ist § 95 Abs. 6 SGB V i.V.m. § 27 Ärzte-ZV. Danach ist die Zulassung zu entziehen, wenn ihre Voraussetzungen nicht oder nicht mehr vorliegen, der Vertragsarzt die vertragsärztliche Tätigkeit nicht aufnimmt oder nicht mehr ausübt oder seine vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt.
Gröblich ist eine Pflichtverletzung i.S.v. § 95 Abs. 6 S. 1 SGB V dann, wenn die gesetzliche Ordnung der vertragsärztlichen Versorgung durch das Verhalten des Arztes in erheblichem Maße verletzt wird und das Vertrauensverhältnis zu den vertragsärztlichen Institutionen tiefgreifend und nachhaltig gestört ist, so dass ihnen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Vertragsarzt nicht mehr zugemutet werden kann (stRSP des BSG; vgl. BSG, Beschluss vom 28.10.2015, Az. B 6 KA 36/15 B).
Wegen der Abrechnung der GOP 35100 fanden in den Quartalen 3/11, 4/11, 1/13 und 2/13 Wirtschaftlichkeitsprüfungen statt, die zum einen zu schriftlichen Beratungen und zum anderen zu Kürzungen in Höhe von 10.711,82 € führten. Des Weiteren bezog sich eine Plausibilitätsprüfung, die GOP 35100 betreffend auf die Quartale 3/2011 bis 2/2013, die eine Honorarneufestsetzung verbunden mit einer Honorarrückforderung in Höhe von 168.427,27 € nach sich zog (Bescheid vom 03.02.2016). Nach Ausweitung der Prüfung aufgrund der Feststellungen des Amtsgerichts A-Stadt kam es zu einer weiteren Rückforderung in Höhe von 16.786,88 € (GOP 35100; Quartale 2/2011 und 3/2013 bis 4/2014), sowie einer Rückforderung in Höhe von 33.173,25 € (GOP 35110; Quartale 1/2013 bis 4/2014). Schließlich forderte die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns wegen fehlerhafter Abrechnung einen Betrag in Höhe von 6.338,08 € (GOP 01436; Quartale 4/2014 bis 3/2015) vom Kläger zurück.
Im Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 04.05.2017 (Az.) wurde dem Kläger zur Last gelegt, er habe in den Quartalen 2/2011 bis 4/2014 die GOP´s 35100 und 35110 falsch abgerechnet und hieraus sei ein Schaden von mindestens 189.658,03 € entstanden. Der Beklagte hat eine Entscheidung zu Recht darauf gestützt. Denn diese Entscheidung ist seit 16.05.2017 rechtskräftig.
Auf die dort getroffenen Tatsachenfeststellungen hat der Beklagte Bezug genommen und sie in ihrer Entscheidung über den Entzug der vertragsärztlichen Zulassung zu Grunde gelegt. Dies ist rechtlich unbedenklich. Zwar besteht keine Bindungswirkung. Tatsachenfeststellungen aus rechtskräftigen Urteilen von Strafgerichten können von dem Berufungsausschuss verwertet werden, es sei denn, es wurden seitens des Klägers neue wesentliche Gesichtspunkte vorgetragen, oder, die Tatsachenermittlungen erweisen sich nachträglich als offenkundig fehlerhaft (SG Marburg, Urteil vom 24.05.2017, Az. S 12 KA 137/17; vgl. auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 02.12.2016, Az. 12 ME 142/16).
Für eine offenkundige Fehlerhaftigkeit gibt es im streitgegenständlichen Verfahren jedoch keinerlei Anhaltspunkte. Auch hat der Kläger weder in der Verhandlung vor dem Berufungsausschuss – dort waren weder der Kläger, noch sein Prozessbevollmächtigter anwesend -, noch im Rahmen des Verfahrens vor dem Sozialgericht neue wesentliche Gerichtspunkte vorgetragen. Somit konnte der Beklagte die Tatsachenfeststellungen zu den Pflichtverstößen, die in den Urteilsgründen des Amtsgerichts A-Stadt aufgezeigt wurden, übernehmen, ohne seinerseits eigene Ermittlungen anstellen zu müssen.
Hinzu kommt, dass sich aus den Bescheiden der … Bayerns bzw. der Wirtschaftlichkeitsprüfungsgremien dieselben Tatsachen (GOP´s 35100 und 35110) ergeben, die dem Strafurteil zu Grunde gelegt wurden, bzw. dort weitere Tatsachen (GOP 01436) genannt wurden. Sämtliche Bescheide sind bestandkräftig. Ohne rechtliche Beanstandung konnte sich die Beklagte deshalb auch auf diese Verwaltungsentscheidungen beziehen.
Der Kläger hat gegen die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung verstoßen, indem er Leistungen (GOP´s 35100, 35110 und 01436) in Ansatz gebracht hat, für die die Abrechnungsvoraussetzungen nicht vorlagen. Entweder wurde der Leistungsinhalt der jeweiligen Leistungslegende nicht erfüllt, oder es wurden überhaupt keine Leistungen erbracht. Dieser Sachverhalt steht aufgrund des rechtskräftigen Strafurteils und der bestandskräftigen Bescheide der Wirtschaftlichkeitsprüfungsgremien und der … fest. Auch die Klägerseite hat diese Pflichtverletzungen eingeräumt.
Bei der Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung handelt es sich um eine Grundpflicht und eine der tragenden Säulen des vertrauensbasierten Vertragsarztsystems. Diese Pflicht ist aus der Überlegung heraus entwickelt worden, dass nur ein geringer Teil der Abrechnungen überprüft werden kann. Als zugelassener Vertragsarzt ist er zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung berechtigt und verpflichtet. Die vertraglichen Bestimmungen über die vertragsärztliche Versorgung sind für ihn verbindlich (§ 95 Abs. 3 S. 1 und 3 SGB V).
Hier liegt eine gröbliche Pflichtverletzung vertragsärztlicher Pflichten vor. Der Kläger hat über einen längeren Zeitraum hinweg (Quartale 2/2011 – 4/2014) Leistungen nach den GOP 35100 und 35110 für sich und seine Ehefrau in großem Umfang falsch abgerechnet. Entweder wurde der Leistungsinhalt der Gebührenordnungspositionen nicht oder sogar überhaupt keine entsprechenden Leistungen erbracht. Ferner besaß die Ehefrau des Klägers keine Genehmigung, die nach den Leistungslegenden zu den GOP´s 35100 und 35110 i.V.m. § 2 S. 1 der Psychotherapievereinbarung für die Erbringung und Abrechnung der Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung erforderlich gewesen wäre. Damit steht fest, dass der Kläger in erheblichem Umfang die gesetzliche Ordnung der vertragsärztlichen Versorgung verletzt hat. Diese Verletzung ist vom Umfang her und der Zeitdauer der Verletzung so gravierend, dass das Vertrauensverhältnis zu den vertragsärztlichen Institutionen, auch zu den Krankenkassen tiefgreifend und nachhaltig gestört ist und deshalb eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr zugemutet werden kann.
Die Entziehung der Zulassung nach § 95 Abs. 6 SGB V stellt eine schwerwiegende Sanktion und einen Eingriff in die Berufsausübung nach Art. 12 GG dar, der einem Eingriff in die Berufswahl nahekommt. Denn im Hinblick auf den generell hohen Anteil der Patienten, die gesetzlich versichert sind, sind die Auswirkungen einer Einziehung der vertragsärztlichen Zulassung erheblich, auch wenn grundsätzlich die Möglichkeit privatärztlicher Behandlung besteht, was voraussetzt, dass die Approbation nicht widerrufen wurde (BVerfG, Beschluss vom 26.09.2016, Az. 1 BvR 1326/15; BVerfGE 11,30). Ein Eingriff in das Grundrecht ist nur zulässig, wenn dies auf gesetzlicher Grundlage unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geschieht. Eine solche Grundlage ist in § 95 Abs. 6 SGB V vorhanden. Nur geeignete Ärzte sollen an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen können. Bei nach Zulassung eingetretener Nichteignung sieht der Gesetzgeber vor, dass demjenigen Arzt, der die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, die Zulassung entzogen wird. Sinn und Zweck ist es, eine Gefährdung des vertrauensbasierten Vertragsarztsystems zu verhindern. Es handelt sich hierbei um Gemeinwohlbelange, die grundsätzlich einen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG rechtfertigen.
Allerdings müssen auch die Grundsätze der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit eingehalten sein. Dies bedeutet, der Entzug der Zulassung muss bei Abwägung des vom Vertragsarzt gesetzten Eingriffsanlasses im Verhältnis zur Eingriffstiefe angemessen sein (BSG, Urteil vom 21.03.2012, B 6 KA 22/11 R; BSG, Beschluss vom 11.02.2015, Az. B 6 KA 37/15 B). Hier ist in den Abwägungsvorgang einzubeziehen, dass das Fehlverhalten des Klägers über einen Zeitraum vom Quartal 2/11 bis zum Quartal 3/15, also über einen Zeitraum von 4 Jahren fortdauerte, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Der Umstand, dass ab dem Quartal 3/11 die Leistungen nach der GOP 35100 beim Kläger erheblich anstiegen, weil offenbar den Partnern der Gemeinschaftspraxis bewusst wurde, dass die Ehefrau des Klägers mangels entsprechender Genehmigung die Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung nicht abrechnen durfte, und ab dem Quartal 4/14 zwar ein Rückgang der Leistungen nach der GOP 35100 zu verzeichnen war, allerdings mit gleichzeitigem Anstieg der Leistungen nach den GOP´s 01435 und 01436, zeigt ein Verhalten des Klägers, das nicht von Einsicht geprägt ist, sondern bei dem das Streben nach Honoraroptimierung im Vordergrund steht. Während das Amtsgericht von einer Schadenssumme von mindestens 189.658,03 € in seinem Urteil ausging, beträgt – legt man sämtliche Rückforderungen zu Grunde – die Schadenssumme ca. 234.000 €. Angesichts von Art, Umfang der Pflichtverletzungen und der Schadenssumme erscheint es nicht ausreichend, lediglich disziplinarrechtliche Maßnahmen nach § 81 Abs. 5 SGB V in Verbindung mit § 18 der Satzung der KVB zu ergreifen.
Dem Argument des Prozessbevollmächtigten des Klägers, durch die Gesprächsleistungen des Klägers sei die Solidargemeinschaft von weiteren Leistungen freigestellt worden, ist keine Bedeutung beizumessen. Denn eine solche Sichtweise würde nur dazu führen, dass letztendlich Abrechnungsverstöße toleriert würden und damit sanktionslos blieben.
Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der Entzug der Zulassung zur vertragsärztlichen Tätigkeit verschuldensunabhängig ist (BSG, Urteil vom 20.10.2004, Az. B 6 KA 67/03 R). Es kommt lediglich darauf an, ob objektiv eine gröbliche Pflichtverletzung vorliegt.
Ferner kann sich der Kläger nicht auf Wohlverhalten berufen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass das Bundessozialgericht die frühere sog. „Wohlverhaltensrechtsprechung“ mit Urteil vom 17.10.2012 aufgegeben hat (BSG, Urteil vom 17.10.2012, Az. B 6 KA 49/11 R; BSG, Beschluss vom 22.3.2016, Az. B 6 KA 69/15 B), was auch nunmehr der Sichtweise der anderen Bundesgerichte entspricht. Nur für Verfahren, in denen die Entscheidung des Berufungsausschusses vor Veröffentlichung der BSG-Entscheidung erging, wurde aus Vertrauensschutzgründen die bisherige Rechtsprechung angewandt. Damit ist im streitgegenständlichen Verfahren für eine Berücksichtigung eines Wohlverhaltens des Vertragsarztes nach der Entscheidung des Berufungsausschusses kein Raum. Ein etwaiges pflichtgemäßes Verhalten des Vertragsarztes nach der Entscheidung des Berufungsausschusses kann nur in einem neuen Verfahren auf Wiederzulassung gewürdigt werden.
Abgesehen davon kann der Begriff „Wohlverhalten“ in diesem Zusammenhang nur bedeuten, dass der Vertragsarzt anders als bisher seine vertragsärztlichen Pflichten nunmehr zur Gänze, wenn nicht über Gebühr erfüllt. Als Wohlverhalten kann daher keinesfalls gewertet werden, dass der Kläger die an ihn gerichteten Forderungen wegen Falschabrechnung bzw. Unwirtschaftlichkeit beglichen und damit den Schaden ersetzt hat. Denn es handelt sich hierbei um eine Selbstverständlichkeit und um kein Zeichen eines Wohlverhaltens, das einem Vertragsarzt, der gröblich gegen seine vertragsärztlichen Pflichten verstoßen hat, zum Vorteil gereichen kann (vgl. BSG, Urteil vom 17.10.2012, Az. B 6 KA 49/11 R). Daran ändert sich auch nichts durch die Ausführungen des Prozessbevollmächtigten des Klägers, dieser habe eine überobligatorische Schadensregulierung vorgenommen, indem er sich nicht auf den Verjährungstatbestand berufen habe. Hierbei handelt es sich nämlich lediglich um eine Behauptung, für deren Richtigkeit jegliche Nachweise fehlen. Abgesehen davon würde dies dazu führen, dass sich ein Vertragsarzt, der eklatant gegen seine vertragsärztlichen Pflichten verstoßen hat, durch eine überobligatorische Schadensregulierung „freikaufen“ könnte, was an dem Vorliegen gröblicher Pflichtverletzungen und dem Verlust des Vertrauens gegenüber den vertragsärztlichen Institutionen nichts ändert.
Schließlich führt auch der Hinweis des Prozessbevollmächtigten des Klägers auf die Urteilsbegründung des Strafgerichts, der Kläger biete Gewähr dafür, dass er sich in Zukunft straffrei verhalte, nicht zu einer anderen Beurteilung. Es handelt sich zwar um eine positive Prognose, die sich aber auf künftiges strafbares Verhalten, nicht aber auf Pflichtverstöße im Vertragsarztrecht bezieht. Im Übrigen ist ein „Wohlverhalten“ generell nicht berücksichtigungsfähig (vgl. BSG, Urteil vom 17.10.2012, Az. B 6 KA 49/11 R).
Dem Antrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers, zunächst die Akten bezüglich der sachlich-rechnerischen Berichtigungen der GOP´s 01435 und 01436 beizuziehen, war nicht stattzugeben. Denn aus Sicht des Gerichts war das Verfahren zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 24.10.2019 entscheidungsreif, ohne dass es weiterer Ermittlungen bedurfte.
Aus den genannten Gründen war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.


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