Steuerrecht

Versäumung der Klagefrist in gewerberechtlichem Untersagungsverfahren gegen GmbH

Aktenzeichen  22 ZB 17.245

Datum:
9.3.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 105521
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GewO § 35 Abs. 1
HandwO § 7 Abs. 1
BGB § 130 Abs. 1 S. 1
BayVwZG Art. 9
VwGO § 60, § 74 Abs. 1
ZPO § 178 Abs. 1 Nr. 2, § 189

 

Leitsatz

1. Art. 9 BayVwZVG lässt die Heilung einer fehlerhaften Zustellung unter den gleichen Voraussetzungen eintreten, wie sie die Vorschrift des § 189 ZPO aufstellt; danach ist ein Dokument dann zugegangen, wenn es dergestalt in den Machtbereich des Adressaten gelangt ist, dass er Gelegenheit zur Kenntnisnahme besaß.                  (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Geschäftsführer einer GmbH, der Geschäftspost üblicherweise nur oberflächlich durchsieht, lässt jene Sorgfalt außer Acht, die für eine gewissenhafte, ihre Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmende Person im Hinblick auf die Einhaltung von Fristen geboten ist und die ihr nach den Gesamtumständen des konkreten Falles zuzumuten ist.                   (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein nachträgliches, an die jeweilige Prozesslage angepasstes Vorbringen, durch das ein Verfahrensbeteiligter möglicherweise einen ihm ungünstigen Vorhalt in einer von ihm angefochtenen Entscheidung zu entkräften versucht, kann jedenfalls so lange nicht als glaubhaft anerkannt werden, als der Betroffene den Wechsel seiner eigenen tatsächlichen Einlassungen nicht plausibel erklärt. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 5 K 16.894 2016-12-08 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 20.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Durch Bescheid vom 7. April 2016 (Az. 34-8221.4-71/14) untersagte das Landratsamt Neu-Ulm der H … GmbH, deren einziger Geschäftsführer der Kläger ist, die Ausübung näher bezeichneter Gewerbe sowie jegliche weitere selbständige, von § 35 Abs. 1 GewO erfasste gewerbliche Tätigkeit. Der Bescheid, der an die H … GmbH, vertreten durch den Kläger als Geschäftsführer dieser Gesellschaft, W …straße 8, I …, adressiert ist und für den das Landratsamt Zustellung gegen Postzustellungsurkunde verfügt hatte, wurde am 8. April 2016 ausweislich der Angaben auf der Postzustellungsurkunde der im Geschäftsraum der H* … GmbH beschäftigten Frau K … übergeben.
Durch weiteren Bescheid vom 7. April 2016 (Az. 34-8221.4-72/14) untersagte das Landratsamt dem Kläger persönlich die selbständige Ausübung der gleichen Gewerbe wie der H … GmbH, ferner die Ausübung jeder weiteren von § 35 Abs. 1 GewO erfassten selbständigen gewerblichen Tätigkeit sowie Tätigkeiten als Vertretungsberechtigter eines Gewerbetreibenden oder als Betriebsleiter eines Gewerbebetriebs mit Ausnahme einer Tätigkeit als fachlich-technischer Leiter eines Handwerksbetriebs im Sinn von § 7 Abs. 1 HwO in der Stellung als Arbeitnehmer in einem Betrieb, dessen Inhaber die Voraussetzungen für eine Eintragung in die Handwerksrolle erfüllt. Dieser Bescheid, der an den Kläger persönlich – ebenfalls unter Angabe der Adresse W …straße 8, I … – adressiert ist und auch mittels Postzustellungsurkunde zuzustellen war, wurde durch den Zustellbediensteten der Post am 8. April 2016 gleichfalls Frau K … übergeben.
Die am 6. Mai 2016 gegen den die H … GmbH betreffenden Untersagungsbescheid erhobene Anfechtungsklage wies das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg durch Urteil vom 8. Dezember 2016 (Az. Au 5 K 16.709), im Rubrum berichtigt durch Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 13. Februar 2017, als unbegründet ab. Der Antrag der H … GmbH, gegen dieses Urteil die Berufung zuzulassen, ist vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof unter dem Aktenzeichen 22 ZB 17.244 anhängig.
Im Verfahren Au 5 K 16.709 wies das Landratsamt das Verwaltungsgericht mit Schreiben vom 2. Juni 2016 auf den gegen den Kläger am 7. April 2016 persönlich erlassenen Bescheid sowie auf die unterbliebene Erhebung einer Anfechtungsklage hiergegen hin.
Nach Zuleitung dieses Schreibens an die Bevollmächtigten der H … GmbH durch das Verwaltungsgericht machten diese mit Schriftsatz vom 17. Juni 2016 geltend, die von der H … GmbH erhobene Klage sei so auszulegen, dass sie sich auch gegen den Bescheid vom 7. April 2016 mit dem Aktenzeichen 34-8221.4-72/14 richte. Sollte das Verwaltungsgericht diese Auffassung nicht teilen, werde die Klage ausdrücklich auch gegen den letztgenannten Bescheid gerichtet. Gleichzeitig beantragten die Klagebevollmächtigten, dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Klagefrist zu gewähren.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage des Klägers durch Urteil vom 8. Dezember 2016 (Au 5 K 16.894) als unzulässig ab, da die Klagefrist hinsichtlich des ihn persönlich betreffenden Bescheids am 9. Mai 2016 abgelaufen sei und ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden könne, da er die Klagefrist schuldhaft nicht eingehalten habe.
Der Kläger beantragt, gegen dieses Urteil die Berufung zuzulassen, da ernstliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden.
II.
Über den Antrag auf Zulassung der Berufung konnte ohne Anhörung des Beklagten entschieden werden, da sich aus der Begründung dieses Rechtsbehelfs (vgl. zur Maßgeblichkeit der darin enthaltenen Darlegungen § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) nicht ergibt, dass die Voraussetzungen des einzigen Zulassungsgrundes, auf den sich der Kläger stützt, vorliegen. Das Verwaltungsgericht hat die Klage vielmehr zweifelsfrei zutreffend als unzulässig abgewiesen, da der Kläger die einmonatige Klagefrist (§ 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO) nicht eingehalten hat und ihm keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann.
1. Die angefochtene Entscheidung geht im Ergebnis zutreffend davon aus, dass die Klagefrist jedenfalls vor dem 17. Juni 2016 abgelaufen war. Ob auch der den Kläger persönlich betreffende Untersagungsbescheid – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – spätestens am 9. Mai 2016 hätte gerichtlich angegriffen werden müssen, oder ob die Klagefrist insoweit erst am 18. Mai 2016 endete, kann im Rahmen des vorliegenden Beschlusses auf sich beruhen, da im konkreten Fall hiervon keine rechtlichen Folgen abhängen.
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht davon abgesehen, auf die Frage einzugehen, ob ein Bescheid, der – wie vorliegend der Fall – den Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung persönlich (d.h. nicht in seiner Eigenschaft als Organ dieser juristischen Person) betrifft, ihm im Wege einer Ersatzzustellung gemäß § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO (hier anzuwenden in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VwZVG) durch Übergabe an eine Person zugestellt werden kann, die in einem Geschäftsraum der Gesellschaft mit beschränkter Haftung beschäftigt ist. Sollte diese Frage jedenfalls dann zu bejahen sein, wenn die Ersatzzustellung in „Geschäfts-“ und nicht nur in „Betriebsräumen“ der Gesellschaft mit beschränkter Haftung vorgenommen wurde (so z.B. Häublein in MK zur ZPO, 5. Aufl. 2016, § 178 Rn. 19 m.w.N.; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 37. Aufl. 2016, § 178 Rn. 16 m.w.N.), läge eine fehlerfreie Ersatzzustellung vor. Denn im dritten Absatz auf Seite 4 der Antragsbegründung vom 24. Februar 2017 hat der Kläger selbst vorgetragen, im Anwesen „W …straße 8“ in I … befänden sich die Büroräume der H* … GmbH, während die Produktionsstätte dieses Unternehmens in einem Nachbarort liege.
Nicht anders würde sich die Rechtslage darstellen, falls man die Ersatzzustellung von Schriftstücken, die für den Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung persönlich bestimmt sind, an Beschäftigte dieser Gesellschaft in deren Geschäftsräumen dann zulässt, wenn der Name des Geschäftsführers – wie hier – in der Firma der Gesellschaft in Erscheinung tritt und er nach außen hin als Inhaber dieses Unternehmens – und nicht nur als dessen Angestellter – auftritt (so BVerwG, U.v. 9.10.1973 – V C 110.72 – BVerwGE 44, 104/107 f.). Auch die letztgenannte Voraussetzung ist hier erfüllt, da der Kläger selbst von einer „rein formal juristischen Trennung bei der E. GmbH zwischen Geschäftsbetrieb und Geschäftsführer“ gesprochen hat (Seite 3 oben des Schriftsatzes seiner Bevollmächtigten vom 17.6.2016), er und die H … GmbH ferner einen gemeinsamen Briefkasten benutzen würden (Seite 3 unten des gleichen Schriftsatzes) und er in der Antragsbegründung geltend macht, der im vorliegenden Verfahren streitgegenständliche Bescheid würde zehn Arbeitsplätze sowie die Lebensgrundlage von zehn Familien vernichten: Obgleich die unter dem Aktenzeichen 34-8221.4-72/14 verfügte Gewerbeuntersagung keine Regelung der gewerblichen Betätigung der H … GmbH zum Gegenstand hat, geht auch dieses Vorbringen des Klägers erkennbar davon aus, dass es sich bei den Beschäftigten der H … GmbH um „seine“ Arbeitnehmer handele, und dass er selbst, nicht aber die H … GmbH ihnen Arbeitsplätze zur Verfügung stelle.
In Lauf gesetzt worden wäre die Klagefrist nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO aber auch dann, falls der Auffassung zu folgen sein sollte, eine Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO dürfe nur in Geschäftsräumen des Zustelladressaten selbst vorgenommen werden (so z.B. BGH, B.v. 16.4.1986 – VIII ZB 26/85 – BGHZ 97, 341/343; OLG Brandenburg, B.v. 9.10.1995 – 7 W 16/95 – juris Rn. 6; OLG Nürnberg, B.v. 30.6.1998 – 1 W 1666/98 – MDR 1998, 1369; LAG Frankfurt a. M., B.v. 6.10.2006 – 4 Ta 435/06 – juris Rn. 5 f.). Auf der Grundlage dieses Rechtsstandpunkts wäre die Bekanntgabe des vorliegend verfahrensgegenständlichen Bescheids zwar unter Verstoß gegen zwingende Zustellungsvorschriften erfolgt. Dieser Umstand wäre gemäß Art. 9 VwZVG jedoch dadurch geheilt worden, dass dem Kläger der ihn betreffende Bescheid tatsächlich zugegangen ist. Ein „tatsächlicher Zugang“ im Sinn dieser Norm liegt vor, wenn die Person, für die das Dokument bestimmt ist, den Besitz hieran erlangt hat und ihr eine Kenntnisnahme zuverlässig möglich war (Giehl/Adolph/Käß, Verwaltungsverfahrensrecht in Bayern, Stand März 2013, Art. 9 VwZVG Anm. III.2). Art. 9 VwZVG lässt die Heilung einer fehlerhaften Zustellung damit unter den gleichen Voraussetzungen eintreten wie sie die – mit dieser Bestimmung weitgehend wortgleich übereinstimmende – Vorschrift des § 189 ZPO aufstellt. Danach ist ein Dokument dann zugegangen, wenn es dergestalt in den Machtbereich des Adressaten gelangt ist, dass er Gelegenheit zur Kenntnisnahme besaß (BGH, U.v. 23.11.1977 – VIII ZR 107/76 – MDR 1978, 487 zu der mit § 189 ZPO heutiger Fassung der Sache nach inhaltsgleichen Vorschrift des § 187 Satz 1 ZPO in der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung). Das Gesetz stellt insoweit auf den Gedanken der Zweckerreichung ab (BGH, U.v. 23.11.1977, a.a.O.); die Rechtsfolgen, die durch die förmliche Zustellung ausgelöst werden sollten, treten danach in dem Zeitpunkt ein, in dem der Zweck der förmlichen Zustellung durch den Zugang des Schriftstücks erreicht wurde (BGH, U.v. 23.11.1977, a.a.O.). Da die bloße Möglichkeit der Kenntnisnahme genügt, hängt die Heilungswirkung des § 189 ZPO nicht davon ab, ob und wann der Betroffene das Dokument tatsächlich liest (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 75. Aufl. 2017, § 189 Rn. 5).
Nach der Darstellung im Schriftsatz der Klagebevollmächtigten vom 17. Juni 2016, die mit den Angaben in den eidesstattlichen Versicherungen von Frau K … vom 16. Juni 2016 und des Klägers vom 21. Juni 2016 übereinstimmt, hat Frau K … am 8. April 2016 nur den an die H* … GmbH gerichteten Bescheid geöffnet und ihn per E-Mail an den damals auf Geschäftsreise befindlichen Kläger weitergeleitet. Den Bescheid, der den Kläger selbst betrifft, habe sie ungeöffnet auf dessen Schreibtisch gelegt. Der Kläger habe diesen Bescheid nach seiner am 18. April 2016 erfolgten Rückkehr von der Geschäftsreise an einem ihm nicht mehr bekannten Zeitpunkt geöffnet, ihn aber nicht weiter beachtet, da er der Meinung gewesen sei, es handele sich um den gleichen Bescheid wie derjenige, der gegenüber der H … GmbH erlassen wurde. In der Begründung des Zulassungsantrags behauptete der Kläger demgegenüber, Frau K … habe auch den ihn betreffenden Bescheid geöffnet und ihn „auf die allgemeine Geschäftspost“ bzw. „in den allgemeinen Posteingang der H … GmbH“ gelegt.
Es bedarf in vorliegendem Zusammenhang keiner Entscheidung, welche dieser beiden Versionen als glaubhaft angesehen werden kann. Denn der Geschäftsführer einer Gesellschaft für beschränkte Haftung erlangt Besitz an Schriftstücken, die – geöffnet oder ungeöffnet – auf seinen Schreibtisch gelegt werden.
Wie das Schicksal des ebenfalls am 8. April 2016 zugestellten, gegenüber der H … GmbH erlassenen Bescheids zeigt, hätte für den Kläger bereits an diesem Tag ohne weiteres die Möglichkeit bestanden, von der ihn selbst betreffenden Gewerbeuntersagung Kenntnis zu nehmen, wenn er seine Sekretärin angewiesen hätte, ihm auch diesen Verwaltungsakt per E-Mail an seinen Aufenthaltsort zu übermitteln, oder falls die Sekretärin aus eigenem Entschluss so verfahren wäre. Gerade bei Personen, die – wie beim Kläger der Fall – ein international tätiges Unternehmen leiten, sind derartige Formen der Weiterleitung von Unterlagen unter Nutzung der Möglichkeiten, die die Telekommunikationstechnik eröffnet, bereits seit mehreren Jahren derart verbreitet, dass nach der Verkehrsanschauung zu erwarten ist, dass sie von wichtigen Schriftstücken, die in ihrem Geschäftslokal eingehen, auch während einer Geschäftsreise Kenntnis erlangen. Dies gilt umso mehr, als die Rechtsprechung schriftliche Erklärungen, die einem Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt an seiner Heimatadresse zugestellt werden, an dem er sich im Urlaub oder im Ausland in Haft befindet, als im Sinn von § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB „zugegangen“ ansieht (vgl. grundlegend BAG, U.v. 16.3.1988 – 7 AZR 587/87 – NJW 1989, 606, ferner BAG, U.v. 2.3.1989 – 2 AZR 275/88 – NJW 1989, 2213 sowie allgemein zum Zugang von Willenserklärungen, die während des Urlaubs des Adressaten in dessen häuslichen oder geschäftlichen Machtbereich gelangt sind, in dem Zeitpunkt, in dem die „objektive Möglichkeit zur Kenntniserlangung im abstrakten Sinn“ bestand, BGH, U.v. 21.1.2004 – XII ZR 214/00 – NJW 2004, 1320). Da zugunsten des Geschäftsführers eines international tätigen Unternehmens keine milderen Maßstäbe gelten können, wäre vom Eintritt der Heilungswirkung nach Art. 9 VwZVG vorliegend bereits am 8. April 2016 mit der Folge auszugehen, dass die Klagefrist, wie das Verwaltungsgericht dies angenommen hat, am Folgetag in Lauf gesetzt worden wäre und am 9. Mai 2016 geendet hätte.
Ohne Auswirkungen auf das „Ob“ der Heilung eines ggf. unterlaufenen Zustellungsfehlers, sondern nur auf die zutreffende Beantwortung der Frage, wann die Klagefrist in Gang gesetzt wurde, wäre es, falls es für den Eintritt der in Art. 9 VwZVG bezeichneten Rechtsfolge nicht ausreichen sollte, dass für den „richtigen“ Zustellungsadressaten unter gewöhnlichen Umständen Gelegenheit zur Kenntnisnahme bestand, sondern insoweit zu fordern sein sollte, dass er das zuzustellende Dokument „in den Händen hält“ (so BFH, B.v. 6.5.2014 – GrS 2/13 – NJW 2014, 2524/2527). Diese Voraussetzung wäre jedenfalls am 18. April 2016 erfüllt gewesen, da der Kläger eigener Darstellung zufolge an diesem Tag von seiner Geschäftsreise in die Golf-Emirate zurückgekehrt ist; die Klagefrist nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO hätte in diesem Fall erst mit Ablauf des 18. Mai 2016 geendet. Auf die Frage, wann er von dem ihn persönlich betreffenden Untersagungsbescheid tatsächlich Kenntnis genommen hat, kommt es auch bei Zugrundelegung dieser Auffassung, die das Kriterium des „tatsächlichen Zugangs“ im Sinn von § 189 ZPO (und ggf. vergleichbarer Heilungsvorschriften wie Art. 9 VwZVG) enger fasst als das für die Bejahung eines Zugangs nach § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB erforderlich ist, nicht an.
2. Aus der Begründung des Zulassungsantrags ergeben sich keine ernstlichen Zweifel daran, dass das Verwaltungsgericht dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand deshalb zu Recht verweigert hat, weil die unterbliebene rechtzeitige Klageerhebung entgegen § 60 Abs. 1 VwGO als von ihm verschuldet angesehen werden muss.
Im Schriftsatz vom 24. Februar 2017 macht er geltend, Frau K … habe den ihn persönlich betreffenden Untersagungsbescheid geöffnet in einen Stapel mit Geschäftspost gelegt, die die H* … GmbH betroffen habe. Nach Rückkehr aus dem Ausland habe er „wie üblich den Stapel Briefe nur oberflächlich“ durchgesehen. Angesichts des großen Umfangs dieses Stapels sowie deshalb, weil ihn seine Sekretärin nicht darauf hingewiesen habe, dass der ihn betreffende Bescheid mit einer gesonderten Postzustellungsurkunde übersandt worden sei, sich beide Bescheide ferner äußerlich kaum voneinander unterscheiden würden, sei ihm die Bedeutung der ihn persönlich betreffenden Untersagungsverfügung entgangen.
Bereits dieses Vorbringen rechtfertigt die Aussage, dass den Kläger ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Klagefrist hinsichtlich des Bescheids mit dem Aktenzeichen 34-8221.4-72/14 trifft. Denn der Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, der Geschäftspost üblicherweise nur oberflächlich durchsieht, wie der Kläger das in Bezug auf sein Verhalten ausdrücklich einräumt, lässt jene Sorgfalt außer Acht, die für eine gewissenhafte, ihre Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmende Person im Hinblick auf die Einhaltung von Fristen geboten ist und die ihr nach den Gesamtumständen des konkreten Falles zuzumuten ist (vgl. zu diesem Maßstab für die Entscheidung der Frage, ob einem Rechtsschutzsuchenden ein Verschulden zur Last fällt, das einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entgegensteht, Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 60 Rn. 9 mit umfangreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung).
Vorliegend besteht zwar die Besonderheit, dass in den Monaten April und Mai 2016 noch kein gerichtliches Verfahren anhängig war, das eine den Kläger persönlich betreffende Gewerbeuntersagung zum Gegenstand hatte. Was das Maß der von ihm zu fordernden Sorgfalt anbetrifft, musste er damit nicht jenen Anforderungen genügen, die eine Person treffen, die bereits an einem Rechtsstreit beteiligt ist. Es steht vielmehr der erstmalige „Zugang zum Gericht“ als solcher inmitten, der nicht durch zu strenge, sachlich nicht mehr zu rechtfertigende Anforderungen erschwert werden darf. Andererseits bestand für den Kläger deswegen Anlass, sowohl die Geschäftsals auch die ihn persönlich betreffende Post sorgfältig daraufhin durchzusehen, ob sie für seine wirtschaftliche Existenz bedeutsame Schriftstücke enthält, weil er – und zwar gerade in zeitlicher Nähe zum Erhalt des die H* … GmbH betreffenden Untersagungsbescheids – mit einer Gewerbeuntersagung auch in Bezug auf seine eigene Person konkret rechnen musste.
Das Landratsamt hat vor Erlass der Bescheide vom 7. April 2016 jeweils zeitgleich sowohl an die H … GmbH als auch an den Kläger selbst vier Anhörungsschreiben gerichtet; sie datieren vom 25. Februar 2015, vom 16. April 2015, vom 21. August 2015 und vom 12. Oktober 2015. Soweit sie die H* … GmbH betrafen, tragen sie das Aktenzeichen 34-8221.4-71/14, soweit sie dazu dienten, dem Kläger eine Stellungnahme hinsichtlich einer gegen ihn persönlich zu richtenden Gewerbeuntersagung zu ermöglichen, das Aktenzeichen 34-8221.4-72/14. Bereits aufgrund der Duplizität dieser Zuleitungen konnte auch für eine auf rechtlichem Gebiet unbewanderte Person kein Zweifel daran bestehen, dass das Landratsamt parallel zueinander zwei Untersagungsverfahren betrieb; erst recht musste dies für den Geschäftsführer einer international tätigen Kapitalgesellschaft wie den Kläger erkennbar sein. Denn keine Behörde versendet viermal hintereinander am gleichen Tag jeweils zwei Anhörungsschreiben in ein und derselben Angelegenheit. Überdies ergab sich bereits aus dem Inhalt der Zuleitungen vom 25. Februar 2015 deutlich, dass das Landratsamt eine Gewerbeuntersagung zum einen gegen die H* … GmbH, zum anderen gegen den Kläger als natürliche Person in Aussicht nahm. In dem Schreiben, das seinerzeit an die H* … GmbH gerichtet wurde, hieß es u. a.:
„Der vorgenannte Sachverhalt lässt an der künftigen Zuverlässigkeit der ‚H … GmbH‘ zweifeln. Beim Landratsamt Neu-Ulm wurde deshalb ein Gewerbeuntersagungsverfahren eingeleitet und es ist beabsichtigt, der Gesellschaft die selbständige Gewerbeausübung zu versagen.“
Im Anhörungsschreiben vom 25. Februar 2015, das an den Kläger in eigener Person gerichtet wurde, hat die Behörde demgegenüber u. a. ausgeführt:
„Der vorgenannte Sachverhalt lässt daher an Ihrer gewerblichen Zuverlässigkeit zweifeln. Beim Landratsamt Neu-Ulm wurde deshalb ein Gewerbeuntersagungsverfahren eingeleitet und es ist beabsichtigt, Ihnen die selbständige Gewerbeausübung zu versagen.“
War für den Kläger aber während einer Zeitspanne von mehr als einem Jahr vor dem Erlass der Bescheide vom 7. April 2016 erkennbar, dass das Landratsamt nebeneinander ein Gewerbeuntersagungsverfahren gegen die von ihm geleitete Gesellschaft und ein weiteres derartiges Verwaltungsverfahren in Bezug auf seine eigene Person betrieb, so bestand für ihn dringender Anlass, sich nach dem Erhalt des die H … GmbH betreffenden Untersagungsbescheids sorgfältig darüber zu vergewissern, ob auch ihm selbst gegenüber ein derartiger Verwaltungsakt erlassen worden war. Mit dem Ergehen eines solchen Bescheids musste nicht nur angesichts der vier vorangegangenen, an den Kläger persönlich gerichteten Anhörungsschreiben gerechnet werden; vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Behörde beide Verwaltungsverfahren durchgängig parallel zueinander betrieben hatte, lag darüber hinaus die Annahme nahe, dass auch die diese Verfahren abschließenden Behördenentscheidungen (annähernd) zeitgleich ergehen würden. Eine gewissenhafte Durchsicht der eingehenden Post auf vom Landratsamt Neu-Ulm stammende Schriftstücke hin war deshalb für eine Person, die ihre Belange mit der gebotenen Sorgfalt wahrt, gerade im April 2016 unerlässlich.
Auf den Umstand, dass der Kläger angesichts der Vorgeschichte der beiden Bescheide vom 7. April 2016 konkret mit dem Erlass auch einer ihn persönlich betreffenden Gewerbeuntersagung rechnen musste, hat das Verwaltungsgericht auf Seite 10 des angefochtenen Urteils zutreffend hingewiesen. Der Kläger ist der Bedeutung dieses Umstandes für das Maß der von ihm zu fordernden Sorgfalt bei der Durchsicht des Posteinlaufs in der Antragsbegründung lediglich mit der Behauptung entgegengetreten, er könne sich nicht an ein separates Anhörungsschreiben erinnern. In der Nachbarschaft befinde sich eine „H … GmbH Verwertungen“, weswegen es sich nicht ausschließen lasse, dass ihm nicht der gesamte Schriftverkehr zugegangen sei.
Dieses Vorbringen ist nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils darzutun. Denn der Kläger hat auf die behördlichen Zuleitungen vom 25. Februar 2015 u. a. durch einen Anruf beim Landratsamt am 19. März 2015 reagiert; auf die Schreiben des Landratsamts vom 16. April 2015 hat er am 15. Mai 2015, auf diejenigen vom 21. August 2015 am 8. September 2015 und auf diejenigen vom 12. Oktober 2015 am 2. November 2015 mit jeweils von ihm eigenhändig unterzeichneten Briefen geantwortet. Wenn er in diesen drei Antwortschreiben stets nur das Aktenzeichen 34-8221.4-71/14 genannt hat, so folgt daraus nicht, dass ihm alle vier an ihn persönlich adressierten Anhörungsschreiben nicht zugegangen sind; denn für eine derartige Häufung postalischer Fehlleitungen (bei gleichzeitigem Erhalt aller vier die H … GmbH betreffenden Anhörungsschreiben) spricht nicht einmal eine entfernte Wahrscheinlichkeit.
Lediglich ergänzend ist vor diesem Hintergrund festzuhalten, dass das Vorbringen in der Antragsbegründung insoweit nicht als glaubhaft angesehen werden kann, als der Kläger nunmehr geltend macht, der ihn persönlich betreffende Bescheid vom 7. April 2016 habe sich in bereits geöffnetem Zustand in dem die H* … GmbH betreffenden Poststapel befunden. Diese Darstellung steht in offenkundigem Widerspruch zur Sachverhaltsschilderung in der Klageschrift vom 17. Juni 2016 sowie in der eidesstattlichen Versicherung von Frau K … vom 16. Juni 2016; dort wurde jeweils behauptet, Frau K … habe nur den an die H … GmbH adressierten Bescheid geöffnet, während sie den für den Kläger selbst bestimmten Brief ungeöffnet auf dessen Schreibtisch gelegt habe. Im Schriftsatz vom 17. Juni 2016 sowie in der vom 21. Juni 2016 stammenden eidesstattlichen Versicherung des Klägers wurde zusätzlich geltend gemacht, es sei der Kläger selbst gewesen, der an einem ihm nicht mehr bekannten Datum das ihn persönlich betreffende Schriftstück geöffnet habe.
Die Klagepartei hat nicht einmal im Ansatz erläutert, warum sie in der Begründung des Zulassungsantrags eine Behauptung aufstellt, die zu ihrem Vortrag im ersten Rechtszug, dessen Richtigkeit durch eidesstattliche Versicherungen glaubhaft gemacht wurde, in Gegensatz steht. Vor diesem Hintergrund könnte der Eindruck entstehen, dass durch die geänderte Sachverhaltsschilderung im Zulassungsverfahren das sinngemäße Argument des Verwaltungsgerichts entkräftet werden soll, der Kläger habe den im Verfahren 34-8221.4-72/14 erlassenen Bescheid auch deshalb nicht frei von Verschulden übersehen können, da beide Verwaltungsakte „in separaten Umschlägen, jeweils mit eigener Postzustellungsurkunde“ zugestellt worden seien (Seite 10 des angefochtenen Urteils). Zwar kommt der Postzustellungsurkunde in diesem Zusammenhang keine Bedeutung zu, da sie der Kläger nicht zu Gesicht bekam; sie ist seitens des Postunternehmens nach erfolgter Zustellung vielmehr an die absendende Stelle zurückzuleiten. Aussagekräftig ist jedoch der Hinweis des Verwaltungsgerichts auf die Besonderheit der Umschläge, in denen mittels Postzustellungsauftrags bekanntzugebende Schriftstücke versandt werden: Ihre auffallend gelbe Farbe steht der Annahme, ein hinreichend sorgfältiger Empfänger könne eine solche Sendung dann frei von Verschulden übersehen, wenn er sie nicht persönlich in Empfang nimmt, sondern er sie in einer größeren Menge anderer Schriftstücke vorfindet, zusätzlich entgegen. Ein nachträgliches, an die jeweilige Prozesslage angepasstes Vorbringen aber, durch das ein Verfahrensbeteiligter möglicherweise einen ihm ungünstigen Vorhalt in einer von ihm angefochtenen Entscheidung zu entkräften versucht, kann jedenfalls so lange nicht als glaubhaft anerkannt werden, als der Betroffene den Wechsel seiner eigenen tatsächlichen Einlassungen nicht plausibel erklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit der Empfehlung in der Nummer 54.2.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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