Steuerrecht

Verzögerte Bearbeitung des Steuerfalles durch das Finanzamt –  Unterbrechung der Außenprüfung

Aktenzeichen  7 K 281/18

Datum:
22.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24048
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:
AO § 238 Abs. 1 S. 1
FGO § 101 S. 1, § 102, § 115 Abs. 2, § 135 Abs. 1

 

Leitsatz

Eine verzögerte Bearbeitung des Steuerfalles durch das Finanzamt – hier Unterbrechung der Außenprüfung um 23 Monate – ist grundsätzlich nicht geeignet, eine abweichende Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen zu begründen. Für die Anwendung des § 233a AO ist ein Verschulden prinzipiell irrelevant, und zwar auf beiden Seiten des Steuerschuldverhältnisses.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg. Die Ablehnung des Antrags auf Erlass der Nachzahlungszinsen durch das Finanzamt war nicht ermessensfehlerhaft. Die Erhebung der streitgegenständlichen Zinsen ist nicht unbillig i.S. des § 227 AO.
1. Die Finanzbehörden können nach § 227 AO Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.
a) Zu den Ansprüchen aus Steuerschuldverhältnissen gehören nach § 37 Abs. 1 AO auch Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen, zu denen wiederum nach § 3 Abs. 4 AO auch Zinsen (§§ 233 bis 237 AO) zählen. Dem Erlass von Nachforderungszinsen nach § 233a AO steht nicht entgegen, dass § 233a AO im Gegensatz zu § 234 Abs. 2 AO für Stundungszinsen und § 237 Abs. 4 AO für Aussetzungszinsen keine ausdrückliche Ermächtigung zu Billigkeitsmaßnahmen enthält (BFH-Urteil vom 1. Juni 2016 X R 66/14, BFH/NV 2016, 1668 m.w.N.).
b) Die Unbilligkeit der Einziehung einer Steuer, an die § 227 AO die Möglichkeit eines Erlasses knüpft, kann sich aus sachlichen oder aus persönlichen Gründen ergeben. Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen – auf die die Klägerin ihren Erlassantrag ausschließlich stützt – ist nach ständiger BFH-Rechtsprechung dann anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (vgl. BFH-Urteil vom 8. Oktober 2013 X R 3/10, BFH/NV 2014, 5 m.w.N.). Dies setzt voraus, dass der Gesetzgeber eine andere Regelung getroffen hätte, wenn er die zu beurteilende Frage als regelungsbedürftig erkannt hätte. Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands bewusst in Kauf genommen hat, können einen Billigkeitserlass nicht rechtfertigen (vgl. BFH-Urteil vom 7. Oktober 2010 V R 17/09, BFH/NV 2011, 865). Die generelle Geltungsanordnung des den Steueranspruch begründenden Gesetzes darf durch eine Billigkeitsmaßnahme nicht unterlaufen werden, sich andererseits auch nicht in Überlegungen zur richtigen Rechtsanwendung erschöpfen, da dann ein auf sachliche Billigkeitsgründe gestützter Erlass nach § 227 AO niemals möglich wäre. Diese Grundsätze gelten auch für den Erlass nach § 233a AO festgesetzter Zinsen (BFH-Urteil vom 1. Juni 2016 X R 66/14, BFH-Urteil vom 8. Oktober 2013 X R 3/10, BFH/NV 2016, 1668 m.w.N.).
c) Die Entscheidung über den Erlass ist eine Ermessensentscheidung der Behörde und unterliegt deshalb gemäß § 102 Finanzgerichtsordnung (FGO) lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Zu prüfen ist daher bei einer Erlassablehnung nur, ob die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Im Einzelfall kann der Ermessensspielraum aber so eingeengt sein, dass nur eine Entscheidung ermessensgerecht ist (sog. Ermessensreduzierung auf null). Ist nur der Erlass eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis ermessensgerecht, kann das Gericht gemäß § 101 Satz 1 FGO die Verpflichtung zum Erlass aussprechen (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 1. Juni 2016 X R 66/14, BFH/NV 2016, 1668).
2. Die Verzinsungsregelung in § 233a AO bezweckt einen typisierten Ausgleich für die Liquiditätsverschiebungen, die aus dem individuell sehr unterschiedlichen Verlauf des Besteuerungsverfahrens entstehen können. Es soll ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen, aus welchen Gründen auch immer, zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden (vgl. BT Drucks. 11/2157, S. 194). Insoweit beruht die Vorschrift auf der zulässig typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditäts- und damit auch einen potentiellen Zinsvorteil hat. Dieser Vorteil ist umso größer, je höher der nachzuzahlende Betrag ist und je später die Steuer festgesetzt wird. Durch die Verzinsung soll der Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen und seine damit verbundene erhöhte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit abgeschöpft werden. Gleichzeitig soll der vorhandene Zinsnachteil des Fiskus, der den nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen kann, ausgeglichen werden (Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts – BVerfG – vom 3. September 2009 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115, unter III.1.a bb (2) (a)). Aus welchem Grund es zu einem Unterschiedsbetrag gekommen ist und ob die möglichen Zins- und Liquiditätsvorteile tatsächlich bestanden und genutzt wurden, ist demzufolge grundsätzlich unbeachtlich (vgl. BVerfG-Beschluss in BFH/NV 2009, 2115, unter III.1.a bb (2) (b) und III.1.a cc; BFH-Urteil in BFH/NV 2014, 5, m.w.N.).
Hiervon ausgehend ist eine verzögerte Bearbeitung des Steuerfalles durch das Finanzamt grundsätzlich nicht geeignet, eine abweichende Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen zu begründen. Für die Anwendung des § 233a AO ist ein Verschulden prinzipiell irrelevant, und zwar auf beiden Seiten des Steuerschuldverhältnisses (vgl. BFH-Urteil vom 19. März 1997
I.
R 7/96, BStBl II 1997, 446 zur verspäteten Festsetzung der Steuer auf Grund einer durch das Finanzamt verzögerten Veranlagung rd. 20 Monate nach Erklärungsabgabe; vgl. auch BFH-Beschluss vom 26. Juli 2006 VI B 134/05, BFH/NV 2006, 2029; BFH-Urteil vom 21. Oktober 2009 I R 112/08, BFH/NV 2010, 606; BFH-Urteile vom 8. Oktober 2013 X R 3/10, BFH/NV 2014, 5, Rz 14, vom 30. Oktober 2001 X B 147/01, BFH/NV 2002, 505; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 233a AO Rz 92; ebenso zur Verschuldensunabhängigkeit der Verzinsung BVerfG-Beschluss in BFH/NV 2009, 2115, Rz 34). Ob in einem bestimmten Einzelfall davon Ausnahmen zu machen sind, hängt von den konkreten Einzelfallumständen ab. Entsprechend hängt auch die Frage, ob die Ablehnung eines Erlasses von Nachzahlungszinsen ermessensfehlerhaft ist, wenn sie auf einer – aus Sicht des Steuerpflichtigen – unangemessen langen Außenprüfung beruhen, von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BFH-Beschluss vom 11. März 2014 X B 45/13, BFH/NV 2014, 826).
3. Das Finanzamt ist bei seiner Ermessensentscheidung von den vorstehenden Grundsätzen ausgegangen. Es hat die Umstände des vorliegenden Falls zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und ist in nicht zu beanstandender Weise zu dem Schluss gekommen, dass die Verzögerung der Außenprüfung durch den Prüfer einen Erlass nicht rechtfertigt.
a) Die Klägerin macht eine durch den Prüfer verursachte Verzögerung der Außenprüfung für den Prüfungszeitraum 2006 bis 2008 von 23 Monaten (1 Jahr und 11 Monate) geltend. Tatsächlich fanden im Zeitraum November 2010 bis September 2012 – somit in einem Zeitraum von 23 Monaten – keine für die Klägerin erkennbaren Prüfungshandlungen statt. Der Prüfer erteilte lediglich eine Zwischennachricht mit Schreiben vom 30. September 2011, dass die Prüfung noch nicht abgeschlossen sei. Erst am 5. Oktober 2012 teilte er der Klägerin mit, dass eine Fachprüferin beteiligt wird und forderte hierfür Unterlagen an. Das Finanzamt weist darauf hin, dass eine Verzögerung nur bis Sommer 2012 vorgelegen habe, da der Prüfer jedenfalls amtsintern tätig geworden sei. Tatsächlich wurde er Ende August insoweit tätig, als er mit Schreiben vom 29. August 2012 beim Landesamt für Steuern eine Fachprüfung für versicherungsmathematische Fragen beantragte, die dann mit Schreiben vom 5. September 2012 zugesagt wurde.
b) Ausgehend von diesen Umständen des Streitfalls ist es aus Sicht des Senats auch bei einer Unterbrechung der Prüfung von 23 Monaten – wie sie von der Klägerin vorgetragen wird – nicht unbillig, Zinsen nach § 233a AO zu erheben.
Anders als die Klägerin meint, lässt sich aus dem Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 21. Januar 2015 (Az.: VIII B 112/13) nicht ableiten, dass kein Ermessensspielraum der Behörde bestand und im Streitfall nur ein Erlass der Nachzahlungszinsen ermessensgerecht ist. In dem vom BFH entschiedenen Fall lag eine im Verantwortungsbereich des Finanzamts liegende Unterbrechung einer Außenprüfung von über 10 Jahren vor, in der keine erkennbaren Prüfungshandlungen stattfanden. Der BFH wies in seinem Beschluss vom 21. Januar 2015 darauf hin, dass – soweit die Kläger aufgrund der außergewöhnlich langen Bearbeitungszeit mit unverhältnismäßig hohen Nachzahlungszinsen gemäß §§ 233a, 235 AO belastet sein sollten – dem durch Billigkeitsmaßnahmen Rechnung zu tragen wäre, zumal die Länge der Prüfungsunterbrechung im Streitfall ausschließlich in den Verantwortungsbereich des Finanzamts fiel. Im vorliegenden Fall stellt sich der Sachverhalt jedoch anders dar, da keine derart außergewöhnlich lange Unterbrechung oder Verzögerung der Außenprüfung vorlag. Die Dauer der Verzögerung der Außenprüfung im Streitfall – auch wenn sie unstreitig in den Verantwortungsbereich des Prüfers fällt -, rechtfertigt es aus Sicht des Senats nicht, von dem Grundsatz abzuweichen, dass eine verzögerte Bearbeitung des Steuerfalles durch das Finanzamt grundsätzlich nicht geeignet ist, eine abweichende Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen zu begründen. Besondere Umstände, die dazu führen, dass nur ein Erlass der Nachzahlungszinsen ermessensgerecht ist, liegen nicht vor.
Zwischen den Beteiligten besteht im Übrigen Einigkeit, dass es nach Beteiligung der Fachprüferin für versicherungsmathematische Fragen sowie im Verlauf der Anschlussprüfung, die im Zeitraum Februar 2014 bis 21. November 2014 stattfand, zu keinen weiteren Verzögerungen kam.
4. Soweit sich die Klägerin im Klageverfahren erstmals Einwendungen gegen die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Zinshöhe nach § 238 AO vorbringt, betreffen diese die einfach-rechtlichen Grundlagen und damit die Rechtmäßigkeit der Zinsfestsetzung und sind vorrangig im Rechtsbehelfsverfahren gegen die Zinsfestsetzung und nicht im Erlassverfahren geltend zu machen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 25. April 2018 IX B 21/18, BStBl II 2018, 415; vom 31. Mai 2017 I R 77/15, BFH/NV 2017, 1409). Im Streitfall ist die Zinsfestsetzung in Rechtskraft erwachsen (vgl. hierzu auch das rechtskräftige Urteil des Finanzgerichts München vom 21. Juli 2017, Az.: 7 K 1505/16). Es kann daher offenbleiben, ob der Senat die vom BFH in mehreren Aussetzungsbeschlüssen nach § 69 Abs. 3 FGO (zuletzt im Beschluss vom 11. Februar 2020 VIII B 131/19, BFH/NV 2020, 507) geäußerten verfassungsrechtlichen Zweifel an der gesetzlichen Zinshöhe nach § 238 AO für Veranlagungszeiträume ab 2012 – für Veranlagungszeiträume vor 2012 hält er gesetzliche Zinshöhe nicht für verfassungsrechtlich zweifelhaft – teilt. Denn selbst wenn der Senat diese Auffassung bezüglich der dafür allein in Betracht kommenden Zinsfestsetzung zur Körperschaftsteuer 2012 teilen würde, könnte sich die Klägerin im Erlassverfahren nach § 227 AO darauf nicht berufen. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BFH, dass eine rechtlich unzutreffende, aber bestandskräftige Festsetzung von Steuern oder steuerlichen Nebenleistungen nicht durch einen Billigkeitserweis aus sachlichen Gründen nachträglich korrigiert werden kann (z.B. BFH-Urteile vom 11. August 1987 VII R 121/84, BStBl II 1988, 512; vom 13. Januar 2005 V R 35/03, BStBl II 2005, 460; Klein/Rüsken, AO, 14. Auflage, § 163 Rz 45, zu verfassungsrechtlichen Einwendungen auch Rz 40).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
6. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.


Ähnliche Artikel

Steuererklärung für Rentner

Grundsätzlich ist man als Rentner zur Steuererklärung verpflichtet, wenn der Grundfreibetrag überschritten wird. Es gibt allerdings Ausnahmen und Freibeträge, die diesen erhöhen.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben