Strafrecht

Ablehnung einer zugesicherten Rücküberstellung

Aktenzeichen  1 AR 228/20

Datum:
12.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30974
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
IRG § 85 Abs. 2 S. 3, § 85a Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Trotz zugesicherter Rücküberstellung kann diese vom Urteilsstaat nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss abgelehnt werden, wenn der Vollstreckungsstaat die verhängte Freiheitsstrafe in einer EU-rahmenbeschlusswidrigen Anpassungsentscheidung reduziert. (Rn. 41 – 44)

Tenor

Der Antrag des Antragstellers C… C… vom 08.10.2020 auf gerichtliche Entscheidung gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft München II vom 25.09.2020, die weitere Vollstreckung der gegen den Antragsteller C… verhängten Gesamtfreiheitsstrafe (richtig: Freiheitsstrafe) von drei Jahren sechs Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Miesbach vom 14.05.2019, rechtskräftig seit 27.06.2019 (Az.: …) durch die niederländischen Behörden nicht zu bewilligen, wird als unbegründet zurückgewiesen.

Gründe

I.
Am 16.10.2017 stellte die Staatsanwaltschaft München II einen Europäischen Haftbefehl gegen den Antragsteller aus, welcher auf dem Haftbefehl des Amtsgerichts Miesbach vom 01.09.2017 beruhte.
Aufgrund der bestehenden SIS-Ausschreibung wurde der Antragsteller am 11.07.2018 in Utrecht festgenommen und am 12.07.2018 aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung in dieser Sache unter Auflagen wieder entlassen.
Auf Bitten der niederländischen Behörden übersandte die Staatsanwaltschaft München II am 24.07.2020 den Europäischen Haftbefehl in niederländischer Sprache. Mit E-Mail vom 24.07.2020 informierten die niederländischen Behörden die Staatsanwaltschaft München II davon, dass diese, sobald eine Entscheidung des Gerichts in Amsterdam hinsichtlich der Auslieferung vorliege, über den neuesten Stand unterrichtet werden wird.
Mit E-Mail vom 01.02.2019 teilten die niederländischen Behörden der Staatsanwaltschaft München II mit, dass der Antragsteller eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis für die Niederlande besitze und die Auslieferung daher nach Art. 5 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und nach Art. 6 Abs. 1 des Niederländischen Auslieferungsgesetzes nur bewilligt werden könne, falls seitens der deutschen Behörden garantiert werde, dass der Antragsteller, sollte er rechtskräftig zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt werden, diese Strafe (“this punishment“) in den Niederlanden verbüßen könne.
Mit E-Mail vom 02.02.2019 sicherte die Staatsanwaltschaft München II den Niederländischen Behörden zu, dass, vorausgesetzt der Antragsteller sei nach einer rechtskräftigen Verurteilung mit der Rücküberstellung in die Niederlande zum Vollzug der Strafe einverstanden, zugestimmt und garantiert werde, dass
1.dem Antragsteller erlaubt werde, die Strafe in den Niederlanden zu verbüßen und
2.die verhängte Strafe in den Niederlanden umgewandelt werden könne.
Am 05.03.2019 bewilligte die internationale Rechtshilfekammer des Gerichts in Amsterdam die Auslieferung. Hierzu hielt die Rechtshilfekammer fest, dass die Auslieferung nur bewilligt werden kann,
„wenn nach dem Urteil des Gerichts garantiert ist, dass, wenn sie für die Tat, wegen der die Auslieferung bewilligt werden kann, im Ausstellungsmitgliedstaat zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wird, sie diese Strafe in den Niederlanden verbüßen kann. Die Staatsanwaltschaft München II hat mit E-Mail vom 1. Februar 2019 die folgende Garantie gegeben: Provided that C… C… (alias A… C…), born on …. in Beni Said (Marocco), agrees with his return to the Netherlands for execution of sentence after being legally convicted by a German Court we agree and guarantee, that he is allowed to carry out this punishment in the Netherlands (…) Nach dem Urteil des Gerichts ist die vorgenannte Garantie ausreichend.“
Am 08.04.2019 wurde der Antragsteller ausgeliefert und den deutschen Behörden übergeben.
Mit Urteil des Amtsgerichts Miesbach vom 14.05.2019, rechtskräftig seit 27.06.2019, wurde der Antragsteller wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren sechs Monaten verurteilt.
Der Antragsteller befindet sich nach Untersuchungshaft in der Zeit vom 08.04.2019 bis 26.06.2019 seit 27.06.2019 in dieser Sache in Strafhaft, seit 06.09.2019 in der Justizvollzugsanstalt …. Zwei Drittel der mit Urteil des Amtsgerichts Miesbach verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren 6 Monaten wird der Antragsteller mit Ablauf des 01.07.2021 verbüßt haben, das Strafende ist für den 01.09.2022 vorgemerkt.
Mit Schreiben vom 17.06.2019 informierten die niederländischen Behörden die Staatsanwaltschaft München II davon, dass der Antragsteller ihnen gegenüber den Wunsch geäußert habe, in die Niederlande überstellt zu werden und nahmen dabei Bezug auf die E-Mail der Staatsanwaltschaft München II vom 01.02.2019.
Mit Schreiben vom 09.07.2019 und vom 13.08.2019 bat der Antragssteller die Staatsanwaltschaft München II um seine Rücküberstellung in die Niederlande.
Mit Datum vom 27.08.2019 nahm die Justizvollzugsanstalt …, in welcher sich der Antragsteller in der Zeit vom 18.07.2019 bis zu seiner Verlegung nach … am 06.09.2019 befand, Stellung zu den persönlichen Verhältnissen des Antragstellers und befürwortete eine Überstellung in die Niederlande.
Mit Schreiben vom 23.09.2019 baten die niederländischen Behörden um eine Übersendung einer Ablichtung des Urteils des Amtsgerichts Miesbach.
Mit Schreiben vom 16.10.2019 informierte die Staatsanwaltschaft München II die niederländische Costodial Institutions Agency unter Übersendung der erbetenen Urteilskopie davon, dass die Überstellung in die Niederlande derzeit geprüft und eine mündliche Anhörung des Antragsstellers durchgeführt werde.
Am 10.12.2019 wurde der Antragsteller von der Ermittlungsrichterin des Amtsgerichts Rosenheim zur Frage der Überstellung in die Niederlande mündlich angehört. Nach Belehrung über die Unwiderruflichkeit seiner Erklärung nach § 85 Abs. 2 Satz 3 IRG erklärte sich der Antragsteller mit seiner Überstellung in die Niederlande einverstanden.
Am 06.02.2020 übersandte die Staatsanwaltschaft München II die niederländischen Übersetzungen der Bescheinigung vom 13.01.2020 nach Art. 4 des Rahmenbeschlusses … des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (im Folgenden: RB FS) an die niederländischen Behörden und ersuchte um die Übernahme der Vollstreckung der durch das Amtsgericht Miesbach am 14.05.2019 verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten.
Mit Schreiben vom 07.08.2020 stimmte die Custodial Institutions Agency der Rücküberstellung zu und teilte mit, dass das Berufungsgericht in Arnheim-Leeuwarden am 20.07.2020 die Strafe auf eine 18-monatige Freiheitsstrafe angepasst habe.
Mit Schreiben vom 13.08.2020 informierte die Staatsanwaltschaft München II die niederländischen Behörden davon, dass es zweifelhaft erscheine, ob an dem Vollstreckungsübernahmeersuchen festgehalten werde, im Hinblick auf die erfolgte Reduktion der Strafe und bat um Zuleitung der Entscheidung des Gerichts in Arnheim-Leeuwarden.
Am 14.08.2020 übersandten die niederländischen Behörden die vorgenannte Entscheidung. In dieser Entscheidung wird u.a. folgendes ausgeführt:
„Nach niederländischen Recht stellt die Straftat eine Beteiligung am vorsätzlichen Verstoß gegen das in Artikel 3 Buchstabe A des niederländischen Betäubungsmittelgesetzes genannte Verbot dar, wobei sich die Straftat auf eine große Menge des Betäubungsmittels bezieht.
Die Höchststrafe nach niederländischem Recht beträgt vier Jahre. (…)
Anpassung der Strafe
Das Gericht stellt fest, dass der Verurteilte vor seiner Verurteilung mit der Garantie der Rücküberstellung im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 des niederländischen Übergabegesetzes an Deutschland übergeben wurde. Gemäß Art. 2:11 Absatz 5 des niederländischen Übergabegesetzes hat das Gericht zu prüfen, ob die verhängte Freiheitsstrafe mit der Strafe übereinstimmt, die in den Niederlanden für die betreffende Straftat verhängt worden wäre, und sie, soweit erforderlich, anzupassen, wobei die im Ausstellungsmitgliedstaat herrschenden Auffassungen über die Schwere der Straftat zu berücksichtigen sind.
Obwohl der Gerichtshof am 11. März 2009 (…) geurteilt hat, dass die Bestimmung des oben genannten Absatzes gegen Artikel 8 des Rahmenbeschlusses … verstößt, wird die Auffassung vertreten, dass der vorgenannte Rahmenbeschluss keine unmittelbare Wirkung hat und das Gericht keine Möglichkeit sieht, das Recht im Einklang mit diesem Rahmenbeschluss auszulegen. Solange das Gesetz nicht geändert und mit dem Rahmenbeschluss in Einklang gebracht worden ist, wird das Gericht auf der Grundlage des aktuellen Wortlauts von Artikel 2:11 Absatz 5 des niederländischen Gesetzes über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Freiheitsstrafen und Bewährungsstrafen entscheiden.
(…) Nach Abwägung aller Aspekte ist das Gericht der Ansicht, dass die Haftstrafe für die oben genannten Straftaten auf eine Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten angepasst werden sollte.“
Mit Schriftsatz von 04.09.2020 teilte der Rechtsbeistand des Antragstellers mit, dass die Entscheidung des Gerechtshof Arnhem-Leeuwarden laut Auskunft des niederländischen Rechtsbeistands rechtskräftig sei und bat um Entlassung des Antragstellers aus der Strafhaft, da er die 18-monatige Freiheitsstrafe mittlerweile voll verbüßt habe.
Mit Entscheidung vom 25.09.2020 bewilligte die Staatsanwaltschaft München II die weitere Vollstreckung der verhängten „Gesamtfreiheitsstrafe“ von drei Jahren sechs Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Miesbach vom 14.05.2019 durch die niederländischen Behörden nicht. Zur Begründung verweist die Staatsanwaltschaft München II auf die Strafzumessungserwägungen des Amtsgerichts Miesbach und führt aus, dass die durch das Gericht Arnheim-Leeuwarden angepasste Freiheitsstrafe von 1 Jahr 6 Monaten keinen hinreichenden Schuldausgleich darstelle und dem Unrechtsgehalt der abgeurteilten Tat nicht gerecht werde. Die angepasste Freiheitsstrafe entspreche weniger als der Hälfte der vom Amtsgericht Miesbach verhängten Freiheitsstrafe. Das niederländische Gericht habe nicht ausreichend berücksichtigt, dass Gegenstand der Verurteilung eine ungeheure Menge an Betäubungsmitteln (140 kg Haschisch) war, dass alle 140 Pakete durch die Hände des Antragstellers gegangen seien, für den Verkauf bestimmt waren und der Wirkstoffgehalt keinen Einfluss auf die angepasste Strafe gehabt habe. Ferner sei auch die kriminelle Energie des Verurteilten bei der Anpassungsentscheidung nicht berücksichtigt worden.
Gegen diese dem Antragsteller am 05.10.2020 und seinem Rechtsbeistand am 08.10.2020 zugestellte Entscheidung stellte der Antragsteller mit Schriftsatz seines Rechtsbeistands vom 08.10.2020, beim Senat eingegangen am 12.10.2020, Antrag auf gerichtliche Entscheidung.
II.
Der gemäß § 85 Abs. 5 Satz 3 IRG statthafte und fristgerecht eingelegte Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig, erweist sich in der Sache allerdings als unbegründet.
1. Der Senat ist gemäß § 85 a Abs. 1 Satz 1 IRG zuständig für die Entscheidung über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung.
2. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung erweist ist als unbegründet nach § 85 b Abs. 2 Nr. 2 IRG, da die Staatsanwaltschaft München II ihr Ermessen nach § 85 Abs. 1 und Abs. 4 IRG fehlerfrei ausgeübt hat.
Der Senat kann dabei die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nur auf Nicht- oder Fehlgebrauch des ihr zustehenden Ermessens überprüfen (vgl. SLGH/Hackner, 6. Aufl. 2020, IRG § 85 b Rn. 3).
Vorliegend hat die Staatsanwaltschaft München II am 06.02.2020 zunächst ein Vollstreckungsübernahmeersuchen an die niederländischen Behörden gerichtet, indem sie entsprechend Art. 4 RB FS das Urteil des Amtsgerichts Miesbach vom 14.05.2020 zusammen mit der Bescheinigung entsprechend Anhang I RB FS den niederländischen Behörden auf Antrag des Antragstellers und auf Anforderung der niederländischen Behörden übermittelt hat.
Die angefochtene Entscheidung vom 25.09.2020 ist daher in Zusammenhang mit dem Ersuchen der Staatsanwaltschaft München II vom 06.02.2020 zu sehen. Dies bedeutet, dass die Staatsanwaltschaft München II die sozialen und familiären Bindungen des Antragstellers in den Niederlanden in ihrer Abwägung berücksichtigt hat, wie sich aus den Ausführungen in Ziffer 4 der am 06.02.2020 übersandten Bescheinigung nach Art. 4 RB FS ergibt. Dort führte die Staatsanwaltschaft München II folgendes aus:
„Der (ergänze: Antragsteller) kam im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern, zwei Schwestern und fünf Brüdern von Marokko in die Niederlande. Die Familienmitglieder leben nach wie vor noch in den Niederlanden. Sein Vater hat in einer Brauerei gearbeitet und seine Mutter war Hausfrau. Von seinem sechsten bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr besuchte der Verurteilte eine Schule in den Niederlanden. Eine Berufsausbildung hat er nicht. Er hat als Hilfskraft bei Reinigungsfirmen, Lebensmittelgeschäften und im Gastronomiebereich gearbeitet. Manchmal hatte der Verurteilte auch keine Arbeit und erhielt dann Unterstützung vom niederländischen Staat. Der Verurteilte konsumiert seit seinem 16. Lebensjahr Betäubungsmittel, nämlich Haschisch, wenn auch nicht durchgehend. Eine Therapie hat der Verurteilte nie in Angriff genommen. In der letzten Zeit vor der Verurteilung hat der Verurteilte Haschisch nur noch abends zum Schlafengehen geraucht. Zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung beabsichtigte der Verurteilte eine Marokkanerin zu heiraten, die in einer Wohnung in Rotterdam leben und als Kindergärtnerin arbeiten soll.“
Soweit die Staatsanwaltschaft München II in der angefochtenen Entscheidung daher keinerlei Ausführungen zu dem Resozialisierungsinteresse des Antragstellers macht, obwohl diesem Gesichtspunkt nach Art. 3 Abs. 1 RB FS ein großes Gewicht zukommt (vgl. SLGH/Hackner, 6. Aufl. 2020, IRG § 85 Rn. 10) und eine Nichtberücksichtigung einen Ermessensfehler darstellen würde, ergibt die Gesamtschau mit dem am 06.02.2020 an die niederländischen Behörden gestellten Ersuchen, dass die Staatsanwaltschaft München II dem Resozialisierungsinteresse aus den vorgenannten Gründen ein solch großes Gewicht beigemessen hat, dass sie mit einer Vollstreckungsübernahme einverstanden wäre, wenn die niederländischen Behörden die Anpassungsentscheidung nicht getroffen hätten.
Es ist aber nicht ermessensfehlerhaft, wenn mit dem Resozialisierungsinteresse auch die Erfordernisse der Rechtspflege, namentlich das staatliche Interesse an einer wirksamen inländischen Strafvollstreckung, abgewogen werden. Hierbei sind sämtliche dem deutschen Strafrecht zugrunde liegen Strafzwecke, auch generalpräventiver Art wie die Abschreckung ausländischer Straftäter, zu berücksichtigen. Zu beachten sind auch die rechtlichen und tatsächlichen Vollstreckungsbedingungen in dem anderen Mitgliedstaat, dessen erforderlichenfalls aufzuklärende tatsächliche Vollstreckungspraxis sowie die Schwere der Schuld der verurteilten Person (so SLGH/Hackner, 6. Aufl. 2020, IRG § 85 Rn. 11).
Nach § 85 Abs. 1 Satz 1 IRG kann die Vollstreckung an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nach Maßgabe des RB FS übertragen werden. Der RB FS wiederum regelt in Art. 8 Abs. 1 RB FS den Grundsatz, dass die verhängten Sanktionen grundsätzlich anzuerkennen sind. Wenn die Sanktion nach ihrer Dauer mit dem Recht des Vollstreckungsstaats, hier der Niederlande, nicht vereinbar ist, kann die zuständige Stelle eine Anpassung der Sanktion nur in den Fällen beschließen, in denen die Sanktion die für vergleichbare Straftaten nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehene Höchststrafe überschreitet (Art. 8 Abs. 2 Satz 1 RB FS). Die angepasste Sanktion darf nicht niedriger als die nach dem Recht des Vollstreckungsstaats für vergleichbare Straftaten vorgesehene Höchststrafe sein (Art. 8 Abs. 2 Satz 2 RB FS). Nach der Rechtsprechung des EuGH sieht Art. 8 RB FS strenge Voraussetzungen für die Anpassung der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion durch die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats vor, die die einzigen Ausnahmen von der dieser Behörde gemäß Art. 8 Abs. 1 RB FS obliegenden grundsätzlichen Verpflichtung darstellen, das ihr übermittelte Urteil anzuerkennen und die Sanktion in Bezug auf Dauer und Art so zu vollstrecken, wie es dem im Ausstellungsstaat ergangenen Urteil entspricht (Urteil vom 11.03.2020, C-314/18, BeckRS 2020, 3201 Rn. 65). Nach den Gründen der Anpassungsentscheidung des Gerichts in Arnheim-Leeuwarden vom 20.07.2020 beträgt die gesetzliche Höchststrafe für eine Straftat, wie der wegen der der Antragsteller durch das Urteil des Amtsgerichts Miesbach verurteilt wurde, nach niederländischem Recht 4 Jahre. Nach Art. 8 Abs. 2 RB FS in der Auslegung des EuGH hätten die niederländischen Behörden daher die Freiheitsstrafe von 3 Jahren 6 Monaten nicht reduzieren dürfen. Dies sah ausweislich der Entscheidungsgründe letztlich auch das Gericht in Arnheim-Leeuwarden so, sah sich aber aufgrund einer europarechtswidrigen nationalen, einer Auslegung nicht zugänglichen Vorschrift daran gehindert, die durch das Amtsgerichts Miesbach ausgeurteilte Strafe unverändert anzuerkennen. Nach dem Vorgenannten durfte die Staatsanwaltschaft München II, im Hinblick auf die nicht rahmenbeschlusskonforme Anpassungsentscheidung des Gerichts in Arnheim-Leeuwarden vom 20.07.2020, entsprechend § 85 Abs. 1 Satz 1 IRG die Herabsetzung der durch das Urteil des Amtsgerichts Miesbach ausgeurteilten Strafe von 3 Jahren 6 Monaten so stark in der Abwägung gewichten, dass es die Vollstreckungsübernahme nicht bewilligte. Die angefochtene Entscheidung ist insoweit ermessensfehlerfrei getroffen worden.
Soweit der Rechtsbeistand des Antragstellers darauf abhebt, dass die Staatsanwaltschaft München II bereits ein Ersuchen gestellt hat, welches durch die niederländischen Behörden angenommen worden sei, und daher nunmehr die Vollstreckungsübernahme durchzuführen, wenn nicht sogar der Antragsteller sofort aus der Haft zu entlassen sei, ist folgendes anzumerken:
Nach Art. 85 Abs. 4 IRG kann die Vollstreckungsbehörde ein Ersuchen zurücknehmen, solange der Vollstreckungsstaat noch nicht mit der Vollstreckung begonnen hat. Dies ist insbesondere dann möglich, wenn die Vollstreckungsbehörde mit den Umständen und/oder der Dauer der künftigen Vollstreckung im vorgesehenen Vollstreckungsstaat nicht einverstanden ist (vgl. SLGH/Hackner, 6. Aufl. 2020, IRG § 85 Rn. 23). Dem steht auch nicht die Verpflichtung zur Rücküberstellung aus Art. 5 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses des Rats vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl und das Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, 2002/584/JI, zuletzt geändert durch Art. 2 ÄndRB 2009/299/EG vom 26.02.2009 (im Folgenden: RB EuHB) entgegen, falls sich eine etwaige Anpassungsentscheidung nicht an die Vorgaben des Art. 8 Abs. 2 RB FS hält (vgl. SLGH/Hackner, 6. Aufl. 2020, IRG § 85 Rn. 24). So liegt es aber, wie bereits ausgeführt, im vorliegenden Fall.
Soweit der Rechtsbeistand des Antragstellers meint, dass eine Rücknahme eines gestellten Ersuchens nach dem RB FS nur möglich sei für den Fall, dass die nationalen Vorschriften hinsichtlich einer bedingten oder vorzeitigen Entlassung gelten, so zitiert er die Vorschrift des Art. 17 Abs. 3 RB FS. Er übersieht aber Art. 13 RB FS, dieser lautet:
„Solange im Vollstreckungsstaat noch nicht mit der Vollstreckung der Sanktion begonnen wurde, kann der Ausstellungsstaat die Bescheinigung aus diesem Staat unter Angabe von Gründen zurückziehen. Nach Zurückziehung der Bescheinigung wird der Vollstreckungsstaat die Sanktion nicht länger vollstrecken“.
Damit entspricht § 85 Abs. 4 IRG der Regelung in Art. 13 RB FS. Nach Abschluss dieses Verfahrens ist die Staatsanwaltschaft München II daher nicht gehindert, das Ersuchen vom 06.02.2020 zurückzuziehen. Sie hat dies in der E-Mail vom 13.08.2020 gegenüber den niederländischen Behörden bereits angedeutet.
Entgegen der Auffassung des Rechtsbeistands des Antragsstellers war die Staatsanwaltschaft München II auch nicht aufgrund der gegenüber den niederländischen Behörden abgegebenen Erklärung vom 02.02.2019 in der Ausübung ihres Ermessens zur Bewilligung der Vollstreckungsübernahme auf Null reduziert, so dass nur eine Bewilligung der Vollstreckungsübernahme in Betracht kam.
Allerdings ist es im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend, dass nach § 72 IRG Bedingungen, die ein ausländischer Staat an die Rechtshilfe gestellt hat, zu beachten sind.
Dabei sind Bedingungen nach Wortlaut, Sinn und Zweck im Rahmen der Bewilligungserklärung für geleistete Rechtshilfe auszulegen (so SLGH/Hackner, 6. Aufl. 2020, IRG § 72 Rn. 10).
Danach gilt zunächst folgendes:
Die Staatsanwaltschaft München II hat mit ihrer E-Mail vom 02.02.2019 den niederländischen Behörden völkerrechtlich verbindlich zugesagt, dass der Antragsteller zur Verbüßung der ggf. rechtskräftig verhängten Strafe in die Niederlande rücküberstellt wird. Damit ist die Staatsanwaltschaft München II der in Art. 5 Nr. 2 RB EuHB übernommen Verpflichtung nachgekommen. Dort heißt es:
„Ist die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft, so kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.“
Für die Auslegung der Rücküberstellungsgarantie ist mithin festzuhalten, dass die niederländischen Behörden mit E-Mail vom 01.09.2019 um eine Zusicherung ersuchten, dass der Antragsteller die verhängte Freiheitsstrafe (“this punishment“) in den Niederlanden verbüßen dürfe. Diese Zusicherung erteilte die Staatsanwaltschaft München II in der E-Mail vom 02.02.2019. Der Rechtsbeistand des Antragstellers hebt nun darauf ab, dass die Staatsanwaltschaft München II in ihrer E-Mail vom 02.02.2019 darüber hinaus zusicherte, dass die verhängte Strafe durch die niederländischen Behörden angepasst werden könne („that punishment to be imposed can/could bei convented by the Netherlands“). Dabei ist zunächst festzuhalten, dass diese Zusicherung seitens der niederländischen Behörden gerade nicht zur Bedingung der Auslieferung gemacht wurde. Vielmehr ersuchten die niederländischen Behörden in ihrer E-Mail um Zusicherung der Vollstreckung der – unveränderten – Strafe (“this punishment“) in den Niederlanden. Auch in der Bewilligung der Auslieferung durch die Rechtshilfekammer des Gerichts in Amsterdam vom 05.03.2019 wurde die Möglichkeit zur Anpassung der verhängten Strafe nicht zur Bedingung der Bewilligung gemacht, sondern allein die Zusicherung der Rücküberstellung zur Vollstreckung der verhängten Strafe. Dies wird besonders deutlich aus den Gründen der Entscheidung vom 05.03.2019, in denen die Rechtshilfekammer die nach niederländischen Recht erforderlichen Voraussetzungen anführt und unter teilweisem Zitat der Zusicherung der Staatsanwaltschaft München II erkennt, dass diese Zusicherung die nach niederländischem Recht erforderlichen Voraussetzungen erfüllt. In dem Zitat fehlt aber gerade die Zusicherung der Staatsanwaltschaft München II hinsichtlich der Anpassungsmöglichkeit der verhängten Strafe. Festzuhalten ist mithin zunächst, dass die niederländischen Behörden nur die Rücküberstellung zur Vollstreckung der verhängten unveränderten Strafe zur Bedingung der bewilligten Rechtshilfe gemacht haben. Fraglich ist also, ob die darüber hinaus gegebenen Zusicherung der Staatsanwaltschat München II, überhaupt völkerrechtlich und nach § 72 IRG bindende Wirkung entfaltete. Zwar entfaltet eine deutsche Zusicherung gegenüber einem ersuchten Staat, der keine Bedingung gestellt hat, die gleiche Bindungswirkung für die deutschen Behörden wie eine Bedingung, falls die Zusicherung die Rechtshilfeleistung erst ermöglicht hat (vgl. SLGH/Hackner, 6. Aufl. 2020, IRG § 72 Rn. 8). Hier aber ermöglichte, wie ausgeführt, die Zusicherung der Staatsanwaltschaft München II hinsichtlich der Möglichkeit der Anpassung der verhängten Strafe nicht die erbetene Auslieferung.
Letztlich kann dahinstehen, ob in einer Fallkonstellation, wie der vorliegenden, aus einer gegebenen Zusicherung eine nach § 72 IRG zu beachtende Verpflichtung entsteht. Denn die Auslegung ergibt im vorliegenden Verfahren, dass die Staatsanwaltschaft München II mit ihrer Zusicherung sich nur an die Vorgaben im RB FS halten wollte. Wie bereits dargelegt, besteht nach Art. 8 Abs. 2 RB FS für den Vollstreckungsstaat die Möglichkeit der Anpassung der Strafe. Diese Möglichkeit besteht nach dem Wortlaut des Art. 8 Abs. 2 RB FS und der hierzu erfolgten Entscheidung des EuGH vom 11.03.2020 (C-314/18; BeckRS 2020, 3201) zur Auslegung des Art. 8 Abs. 2 RB FS nur, falls das nationale Recht für entsprechend ausgeurteilte Freiheitsstrafen niedrigere gesetzliche Höchststrafen vorsieht. Zum Zeitpunkt der Zusicherung durch die Staatsanwaltschaft München II lief das Strafverfahren noch und es war somit noch nicht klar, ob und welche Sanktion durch das Amtsgericht Miesbach aufgrund welcher rechtlichen Einordnung verhängt werden würde. Mithin ist die Zusicherung der Staatsanwaltschaft München II zur Möglichkeit der Anpassung dahingehend zu verstehen, dass nur die im RB FS, welcher sowohl Deutschland als auch die Niederlande bindet, vorgesehene Anpassungsmöglichkeit zugesichert werden sollte.
Im Ergebnis bedeutet dies, dass die deutschen Behörden und Gerichte daran gebunden sind, die Rücküberstellung des Antragsstellers zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren 6 Monaten in den Niederlanden zu gewährleisten.
Aufgrund der nach den Angaben des Rechtsbeistands des Antragstellers rechtskräftigen Entscheidung des Gerichts in Arnheim-Leeuwarden vom 20.07.2020 können die niederländischen Behörden aber nicht die vorgeschriebene Anerkennung und Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe gemäß Art. 8 Abs. 1 RB FS gewährleisten, so dass die Nichtbewilligung der Rücküberstellung und der Vollstreckungsübernahme in der angefochtenen Entscheidung nicht ermessensfehlerhaft war.
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung war daher als unbegründet zurückzuweisen.


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