Strafrecht

Abschiebung, Sicherungsverwahrung, Ermessensentscheidung, Bescheid, Staatsanwaltschaft, Beschwerde, Generalstaatsanwaltschaft, Freiheitsstrafe, Strafvollstreckung, Justizvollzugsanstalt, Vollstreckung, Ermessen, Bundesgebiet, Rechtsbeschwerde, Bundesrepublik Deutschland, gerichtliche Entscheidung, Antrag auf gerichtliche Entscheidung

Aktenzeichen  203 VAs 470/20

Datum:
21.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 55626
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StPO § 456a
EGGVG §§ 23 ff.
StVollstrO § 2
ErgStVollstrO Ziff. 2.2.

 

Leitsatz

1. § 456a StPO dient dem fiskalischen Interesse der Bundesrepublik Deutschland, um diese von der Last der Straf- und Maßregelvollstreckung zu befreien, nicht jedoch dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit.
2. Im Rahmen des von den Vollstreckungsbehörden auszuübenden Ermessens ist es deshalb grundsätzlich unerheblich, ob von dem Verurteilten bzw. Untergebrachten eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht oder ob seine Legalprognose günstig ist.
3. Das Gebot nachhaltiger Strafvollstreckung gemäß § 2 Abs. 1 StVollstrO und das Gebot der Verteidigung der Rechtsordnung gemäß Ziffer 2.2. ErgStVollstrO sind zwar bei der Vollstreckung von Freiheitsstrafen zu beachten, gelten aber nicht für die Vollstreckung der zeitlich unbefristeten Sicherungsverwahrung als ein dem Untergebrachten auferlegtes Sonderopfer.
4. Eine negative Kriminalprognose erlangt im Rahmen des § 456a StPO nur dann Bedeutung, wenn die Annahme begründet ist, der Untergebrachte werde nach seiner Abschiebung alsbald in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren und hier neue Straftaten begehen, wobei diese Annahme mit konkreten tatsächlichen Anhaltspunkten belegt werden muss; ob der Untergebrachte ein Risiko im Abschiebeland darstellt, ist dagegen rechtlich ohne Belang.
5. Zur Feststellung ausreichender Tatsachen, die eine Rückkehr des Untergebrachten in die Bundesrepublik Deutschland nach erfolgter Abschiebung erwarten lassen.

Tenor

1. Auf Antrag des Untergebrachten werden die Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 09.06.2020 und der Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft München vom 26.10.2020 aufgehoben.
2. Die Staatsanwaltschaft München I wird verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.
3. Das Verfahren ist gebührenfrei. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers trägt die Staatskasse.
4. Der Geschäftswert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
5. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Das Landgericht München I hat den Antragsteller mit Urteil vom 08.07.2010 (Az.: 1 Ks 128 Js 12163/09) wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren verurteilt und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die Freiheitsstrafe verbüßte er bis zum 09.04.2019. Nach Verbüßung einer weiteren Freiheitsstrafe befindet er sich seit dem 10.06.2019 in Sicherungsverwahrung, und zwar seit dem 11.06.2019 in der Einrichtung für Sicherungsverwahrung der Justizvollzugsanstalt Straubing. Zuletzt hat die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing mit Beschluss vom 02.07.2020 (Az.: 1 SR StVK 630/15) den weiteren Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Durch rechtskräftigen Bescheid des Landratsamtes München vom 22.08.2012 wurde der Antragsteller gemäß § 53 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz mit unbefristeter Wirkung aus dem Bundesgebiet ausgewiesen unter Androhung der Abschiebung in die Türkei.
Mit Schreiben seiner Verteidigerin vom 10.02.2020 hat der Antragsteller bei der Staatsanwaltschaft München I beantragt, sofort von der weiteren Vollstreckung der Sicherungsverwahrung gemäß § 456a StPO abzusehen.
Die Justizvollzugsanstalt Straubing hat mit Stellungnahme vom 17.03.2020 eine Sachbehandlung nach § 456a StPO ab Mitte 2020 befürwortet.
Die Staatsanwaltschaft München I hat mit Verfügung vom 09.06.2020 (Az. 128 VRs 12163/09) den Antrag vom 10.02.2020 abgelehnt, da insbesondere angesichts der Schwere der Anlasstat, der zahlreichen erheblichen Vorstrafen sowie von Gewalthandlungen gegenüber Mitgefangenen auch weiterhin ein staatliches Interesse an der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung bestehe. Ihr Zweck sei der Schutz der Allgemeinheit, auch der Bevölkerung im Ausland, vor schweren Gewalttaten. Es bestehe seit Tatbegehung bei beharrlicher Therapieverweigerung unverändert eine hochgradige Gefahr für schwerste Gewaltstraftaten. In der Bundesrepublik Deutschland lebten seine Exehefrau und die vier leiblichen Kinder, zu denen der Antragsteller regelmäßigen Kontakt pflege.
Mit Schreiben seiner Verteidigerin vom 10.07.2020 hat der Antragsteller bei der Generalstaatsanwaltschaft München Vorschaltbeschwerde nach § 24 Abs. 2 EGGVG i.V.m § 21 StVollstrO erhoben und beantragt, die Entscheidung der Staatsanwaltschaft München I vom 09.06.2020 aufzuheben und dem Antrag vom 10.02.2020 zu entsprechen. Es liege ein Ermessensfehlgebrauch vor: Bei angeordneter Sicherungsverwahrung diene § 456a StPO nicht allgemein dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit; entscheidend sei damit nicht die generelle Legalprognose des Antragstellers, sondern allein die Frage, ob konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass er nach erfolgter Abschiebung wieder in das Bundesgebiet zurückkehren und hier neue Straftaten begehen werde.
Die Staatsanwaltschaft München I hat den Einwendungen mit Verfügungen vom 21.08.2020 und vom 01.09.2020 nicht abgeholfen. Es sei weder auszuschließen, dass der Antragsteller erneut schwere Gewaltstraftaten begehen werde, noch dass er nach erfolgter Abschiebung in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren werde, insbesondere da hier seit seiner Geburt sein Lebensmittelpunkt bestehe und seine Eltern als sozialer Empfangsraum nicht, wie von ihm angegeben, in der T lebten.
Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Bescheid vom 26.10.2020, der Verteidigerin zugestellt am 02.11.2020, die Beschwerde des Antragstellers gegen die Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 09.06.2020 zurückgewiesen.
Mit Schreiben seiner Verteidigerin vom 04.11.2020, eingegangen beim Bayerischen Obersten Landesgericht in Nürnberg am 06.11.2020, hat der Antragsteller Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt. Er beantragt, die Bescheide der Staatsanwaltschaft München I vom 09.06.2020 und der Generalstaatsanwaltschaft München vom 26.10.2020 aufzuheben und von der weiteren Vollstreckung der mit Urteil vom 08.07.2010 angeordneten Sicherungsverwahrung abzusehen. Es liege ein Ermessensfehlgebrauch vor. Die Nachermittlungen der Staatsanwaltschaft seien unvollständig, da die Eltern des Antragstellers auch in der T einen Wohnsitz hätten, sich in der Vergangenheit wegen Kranken- und Heilbehandlungen regelmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hätten und dies beim Vater auch zukünftig der Fall sein werde, während die Mutter nun dauerhaft in der T verbleibe.
Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt mit Schreiben vom 26.11.2020, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zu verwerfen, dem Verurteilten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, den Geschäftswert auf 5.000,00 EUR festzusetzen und die Rechtsbeschwerde nicht zuzulassen.
Die Verteidigerin hat hierzu mit Schreiben vom 07.12.2020 Stellung genommen.
Der Senat nimmt im Übrigen auf die genannten Entscheidungen, Stellungnahmen und Schreiben vollumfänglich Bezug.
II.
Der Antrag des Untergebrachten auf gerichtliche Entscheidung ist nach § 23 Abs. 1 und 2 EGGVG statthaft, er ist gemäß § 26 Abs. 1 EGGVG form- und fristgerecht eingelegt und auch nach § 24 Abs. 2 EGGVG zulässig, da das erforderliche Vorschaltverfahren (§ 21 StVollstrO) durchgeführt worden ist.
III.
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat auch – zumindest vorläufigen – Erfolg. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft München I als Vollstreckungsbehörde in Gestalt des Bescheides der Generalstaatsanwaltschaft München ist rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 28 Abs. 1 Satz 1 EGGVG). Es ist zum einen ein nicht am Gesetzeszweck des § 456a StPO orientierter Prüfungsmaßstab angelegt worden. Zum anderen sind nicht alle für die Entscheidung nach § 456a Abs. 1 StPO relevanten Umstände ausreichend konkret festgestellt und in die Gesamtabwägung eingestellt worden. Dies führt im Ergebnis zu einem Ermessensfehlgebrauch auf unvollständiger Tatsachengrundlage. Deshalb können die Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 09.06.2020 und der Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft München vom 26.10.2020 keinen Bestand haben.
1. Gegenstand der Überprüfung ist die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in der Gestalt, die sie durch den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft erhalten hat (OLG Bamberg, Beschluss vom 15.06.2015 – 1 VAs 8/15, und Beschluss vom 17.03.2014 – VAs 2/14 [beide nicht veröffentlicht]; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 16.01.1996 – 3 VAs 8/95, juris Rn. 16; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, § 456a Rn. 25).
Über die Frage des Absehens von weiterer Strafvollstreckung entscheidet die Vollstreckungsbehörde gemäß § 456a Abs. 1 StPO zwar nach ihrem Ermessen (Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 456a Rn. 14). Im Hinblick auf die eingeschränkte gerichtliche Nachprüfungsbefugnis nach § 28 Abs. 3 EGGVG obliegt dem Senat aber jedenfalls die Prüfung, ob die angefochtene Ermessensentscheidung rechtsfehlerfrei getroffen wurde, ob also die Vollstreckungsbehörde von einem vollständig ermittelten und zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie die Grenzen des Ermessens eingehalten hat und von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Der Senat ist daher zu der Überprüfung befugt, ob die Vollstreckungsbehörde Gesichtspunkte zum Nachteil des Antragstellers berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck des Gesetzes keine Rolle spielen dürfen, oder ob sie maßgebliche Gesichtspunkte, die bei der Ermessensentscheidung von Belang sein können, falsch bewertet oder außer Acht gelassen hat (Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, EGGVG § 28 Rn. 10; OLG Bamberg, Beschluss vom 17.03.2014 – VAs 2/14; OLG Hamm, Beschluss vom 19.03.2013 – 1 VAs 5/13, BeckRS 2013, 7686; KG, StraFo 2012, 337; OLG Stuttgart, Beschluss vom 27.01.1993 – 4 VAs 5/92, juris Rn. 7).
2. Der Zweck der Ermächtigung des § 456a StPO liegt nach den gesetzgeberischen Motiven in der Entlastung des Vollzugs bei Straftätern, auch bei im Maßregelvollzug Untergebrachten, die das Bundesgebiet aufgrund hoheitlicher Anordnung verlassen müssen und denen gegenüber die weitere Vollstreckung weder unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung noch unter dem der Prävention sinnvoll wäre (OLG Bamberg, Beschluss vom 15.06.2015 – 1 VAs 8/15 [unveröffentlicht]; OLG Hamm, a.a.O.; OLG München, Beschluss vom 26.02.2014 – 1 Ws 120/14, juris Rn. 35; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 126; Meyer-Goßner / Schmitt, a.a.O., § 456a Rn. 1; Graalmann-Scheerer, a.a.O., § 456a Rn. 1). Die Vorschrift des § 456a StPO wurde also aus fiskalischen Erwägungen im Interesse der Bundesrepublik Deutschland geschaffen, um diese im vertretbaren Rahmen von der Last der Straf- bzw. Maßregelvollstreckung zu befreien (OLG Hamm, Beschluss vom 13.10.2011 – 1 VAs 58/11, BeckRS 2012, 8399 m.w.N.). Sie dient – anders als § 57 StGB – nicht dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit (OLG Bamberg, Beschluss vom 15.06.2015 – 1 VAs 8/15; Beschluss vom 17.03.2014 – VAs 2/14; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25.03.2013 – 2 VAs 5/13). Die Entscheidung nach § 456a StPO beinhaltet daher keine Entscheidung darüber, ob von dem Verurteilten bzw. Untergebrachten eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht bzw. ob seine Legalprognose günstig ist (OLG München, Beschluss vom 26.02.2014 – 1 Ws 120/14, juris Rn. 34). Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber eine Besserstellung ausgewiesener Straftäter gegenüber nicht ausgewiesenen Straftätern geschaffen, die nur dann eine vorzeitige Vollzugsverschonung erfahren können, wenn sie die Voraussetzungen der §§ 57 f. StGB erfüllen (OLG Karlsruhe, a.a.O.).
Die in der Rechtsprechung für eine Abwägung im Rahmen des § 456a StPO herangezogenen Kriterien wie Umstände der Tat, Schwere der Schuld, bisherige Vollstreckungsdauer, familiäre und persönliche Situation des Verurteilten (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 06.03.2014 – 1 VAs 185/13; Beschluss vom 19.03.2013 – 1 VAs 5/13; Beschluss vom 21.04.2011 – 1 VAs 12/11; KG, StraFo 2012, 338; OLG Karlsruhe, StraFo 2009, 83; Beschluss vom 09.06.2010 – 2 VAs 19/10; Graalmann-Scheerer, a.a.O., § 456a Rn. 14) oder die Orientierung am Zeitablauf gemäß Ziffer 2.2. der ergänzenden Bestimmungen zur Strafvollstreckungsordnung (ErgStVollstrO) vom 22.06.2006 des bayerischen Justizministeriums (JMBl. S. 91; BayObLG, Beschluss vom 28.11.2019 – 203 VAs 1856/19; Graalmann-Scheerer, a.a.O., § 456a Rn. 14) sind zwar bei der Vollstreckung von Freiheitsstrafen zu beachten, können aber für die Vollstreckung der zeitlich unbefristeten Sicherungsverwahrung nicht ohne Weiteres Geltung beanspruchen (OLG München, Beschluss vom 12.03.2019 – 5 VAs 39/18; OLG Bamberg, Beschluss vom 15.06.2015 – 1 VAs 8/15; Beschluss vom 17.03.2014 – Az. VAs 2/14).
Das Gebot nachhaltiger Straf- / Maßregelvollstreckung gemäß § 2 Abs. 1 StVollstrO und das Gebot der Verteidigung der Rechtsordnung gemäß Ziffer 2.2. ErgStVollstrO sind nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts München (a.a.O.) auf die Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung allenfalls dahingehend übertragbar, dass dem Maßregelvollzug ausreichende Möglichkeiten eingeräumt werden müssen, um auf die Gefährlichkeit eines Untergebrachten in relevantem Maß einzuwirken. Richtigerweise kann jedoch das öffentliche Interesse an einer nachhaltigen Vollstreckung bei der Abwägung im Rahmen des § 456a StPO keine Rolle mehr spielen, wenn der Untergebrachte die schuldangemessene Strafe bereits voll verbüßt hat (BayObLG, Beschluss vom 28.11.2019 – 203 VAs 1669/19; OLG Bamberg, Beschluss vom 15.06.2015 – 1 VAs 8/15); mit der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung erbringt er nämlich ein Sonderopfer. Jedenfalls können generalpräventive Belange den weiteren Vollzug einer Maßregel auch nicht unter den Aspekten der nachhaltigen Straf- / Maßregelvollstreckung und der Verteidigung der Rechtsordnung selbstständig legitimieren (vgl. zum Ganzen auch Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 04.06.2020 – 204 VAs 2585/19).
3. Die Bescheide der Staatsanwaltschaft München I vom 09.06.2020 und der Generalstaatsanwaltschaft München vom 26.10.2020 können keinen Bestand haben, da sie im Rahmen der Abwägung nach § 456a Abs. 1 StPO der Kriminalprognose eine entscheidende Bedeutung beimessen, diese Prognose jedoch vorliegend nur ausnahmsweise unter bestimmten Umständen eine Rolle spielen kann, deren Vorliegen mit konkreten tatsächlichen Anhaltspunkten belegt werden muss. Da die Entscheidung nach § 456a Abs. 1 StPO – wie oben ausgeführt – gerade nicht dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit dient, kommt der Kriminalprognose für die Entscheidung über das Absehen von weiterer Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung, auch der Sicherungsverwahrung, in der Regel keine Bedeutung zu. Die negative Kriminalprognose erlangt im Rahmen des § 456a StPO nur dann Bedeutung, wenn die Annahme begründet ist, der Untergebrachte werde nach seiner Abschiebung alsbald in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren und hier neue Straftaten begehen, wobei diese Annahme mit konkreten Anhaltspunkten belegt werden muss (st. Rspr.; BayObLG, Beschluss vom 28.11.2019 – 203 VAs 1669/19; Beschluss vom 16.12.2019 – 203 VAs 1906/19; Beschluss vom 04.06.2020 – 204 VAs 2585/19; OLG Bamberg, Beschluss vom 15.06.2015 – 1 VAs 8/15; Beschluss vom 17.03.2014 – VAs 2/14; OLG München, Beschluss vom 12.03.2019 – 5 VAs 39/18; Beschluss vom 26.02.2014 – 1 Ws 120/14; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25.03.2013 – 2 VAs 5/13; Meyer-Goßner / Schmitt, a.a.O., § 456a Rn. 5 m.w.N.). Von einer solchen Annahme gehen die Vollstreckungsbehörden hier zwar aus. Indem die fortbestehende Gefährlichkeit des Antragstellers aber daneben als Argument für das Erfordernis einer nachhaltigen Vollstreckung explizit herangezogen wird, ist diese Kriminalprognose als nicht geeignetes Abwägungskriterium Gegenstand der Ermessensentscheidung geworden.
Die Vollstreckungsbehörde unterliegt dabei zugleich einem unzulässigen Zirkelschluss, der dazu führt, dass letztlich die Entscheidung gemäß § 456a Abs. 1 StPO inhaltlich mit einer Entscheidung nach § 67d Abs. 3 S. 1, § 67e Abs. 2 StGB gleichgesetzt wird. Weil die Vollstreckung der nachträglichen Sicherungsverwahrung eine negative allgemeine Kriminalprognose zwingend voraussetzt, kann dieser Aspekt denknotwendig nicht gleichzeitig und automatisch Versagungsgrund für das Absehen von der Vollstreckung gemäß § 456a StPO sein. Ansonsten bliebe für die Anwendung des § 456a StPO bei der Vollstreckung einer Sicherungsverwahrung kein Anwendungsbereich mehr.
Ob der Antragsteller ohne weitergehende Behandlung / Therapie ein Risiko für die Bevölkerung in dem möglichen Abschiebeland T darstellt, ist rechtlich ohne Belang (LG Berlin, Beschluss vom 11.04.2018 – 589 StVK 102/18, juris, mit dem zutreffenden Hinweis darauf, dass entsprechend dieser Einschätzung das OLG Bamberg im Beschluss vom 15.06.2015 – 1 VAs 8/15 – und der BGH in seiner daraufhin ergangenen Rechtsbeschwerdeentscheidung vom 16.03.2016 – 5 AR (Vs) 38/15 – [nach vorausgegangenem Hinweis vom 09.12.2015] nicht problematisiert haben, ob der dortige Sicherungsverwahrte nach der Abschiebung im Heimatland als gefährlich einzuschätzen ist; a. A. OLG München im Beschluss vom 12.03.2019 – 5 VAs 39/18, das es nicht für ausgeschlossen hält, eine Unterbringung zur Sicherung eines gefährlichen Straftäters trotz der Möglichkeit einer Abschiebung auch zum Schutz ausländischer Rechtsgüter fortzusetzen, was aber im entschiedenen Fall kein tragender Grund war). Der Wille des Gesetzgebers, der auch in den verschärften Abschiebemöglichkeiten für sogenannte Gefährder zum Ausdruck kommt, geht dahin, das Risiko der Gefährdung im Ausland gegenüber dem Schutz der in Deutschland lebenden Bevölkerung zurücktreten zu lassen (so zutreffend LG Berlin, a.a.O.).
4. Die Vollstreckungsbehörde wendet damit bei ihrer Abwägung im vorliegenden Fall nicht nur einen grundsätzlich falschen Prüfungsmaßstab an, sondern sie stellt auch tatsächliche Anhaltspunkte für die drohende Gefahr neuer Straftaten in Deutschland durch den Antragsteller nach einer Abschiebung und somit Umstände für eine ausnahmsweise doch relevante negative Kriminalprognose nicht ausreichend konkret fest.
a) Die Justizvollzugsanstalt Straubing legt in ihren Stellungnahmen vom 17.03.2020 und vom 19.05.2020 nachvollziehbar dar, dass sich der Antragsteller entgegen früheren Bedenken bezüglich einer Abschiebung in die Türkei nunmehr für eine solche entschieden habe und sich mit dieser Entscheidung wohl fühle. Die Entscheidung habe er in Absprache mit seiner gesamten Familie getroffen, mit seiner Mutter (dem früheren Tatopfer) habe er sich versöhnt. Die Justizvollzugsanstalt hält dies für glaubhaft und verweist insoweit darauf, dass die Mutter den Antragsteller mehrfach in der Justizvollzugsanstalt während des vorangegangenen Strafvollzugs besucht habe (die aktuellen Nachermittlungen der Vollstreckungsbehörden belegen einen weiteren Besuch der Eltern des Antragstellers in der Einrichtung für Sicherungsverwahrung am 05.01.2020).
Zudem habe der Antragsteller für den Fall seiner Rückkehr in die T einen dortigen geeigneten Empfangsraum mit einer konkreten Lebensperspektive aufgezeigt (Wohnung bei den Eltern; Arbeit in einem der Geschäfte seines Vaters; finanzielle Unterstützung durch seine Familie; Unterstützung bei der Wiedereingliederung durch weitere Verwandte). Die in der Bundesrepublik Deutschland zurückbleibenden Angehörigen des Antragstellers (Exehefrau und vier Kinder) könnten unschwer Kontakt zu ihm aufnehmen durch Besuche, postalisch, über Telefon oder mittels Skype.
Die Justizvollzugsanstalt Straubing, die zum Antragsteller über lange Zeit engen Kontakt hat und deshalb die Validität seiner Angaben am sachnächsten einschätzen kann, sieht unter diesen Umständen selbst keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller nach erfolgter Abschiebung in das Bundesgebiet zurückkehren werde, und befürwortet ausdrücklich eine Sachbehandlung nach § 456a StPO ab Mitte 2020.
b) Die Vollstreckungsbehörden verweisen demgegenüber zum einen darauf, dass der Antragsteller bislang seine Abschiebung in die T strikt abgelehnt habe, und nehmen insoweit Bezug etwa auf Anhörungen des Antragstellers bei der zuständigen Ausländerbehörde vor Erlass der Ausweisungsverfügung am 28.03.2011 und am 13.08.2012, auf Angaben des Antragstellers anlässlich eines Motivationsgespräches in der Justizvollzugsanstalt Straubing Ende des Jahres 2017 sowie auf Ausführungen in der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Straubing vom 30.01.2020. Der Antragsteller hat sich jedoch erst nach den vorgenannten Zeitpunkten zu einer Rückkehr in die Türkei entschlossen. Sein unbedingter Rückkehrwillen wird bestätigt durch das von der Verteidigerin im Schreiben vom 04.11.2020 zitierte Schreiben der Exehefrau des Antragstellers vom 17.04.2020 gegenüber der zuständigen Ausländerbehörde, welches von der Generalstaatsanwaltschaft München im Antragsschreiben vom 26.11.2020 unwidersprochen geblieben ist.
Zum anderen hat die Staatsanwaltschaft München I aufgrund durchgeführter Nachermittlungen zwar festgestellt, dass die Eltern des Antragstellers in Freising amtlich gemeldet sind und dort auch angetroffen werden konnten. Allein daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass dies deren einziger Wohnsitz ist, insbesondere nicht, dass sie in der T keinen (weiteren) Wohnsitz haben. Im Schreiben der Verteidigerin des Antragstellers vom 04.11.2020 wird dazu ausführlich Stellung genommen: Die Nachermittlungen der Staatsanwaltschaft seien unvollständig, da die Eltern des Antragstellers auch in der T einen Wohnsitz hätten, sich in der Vergangenheit wegen Kranken- und Heilbehandlungen regelmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hätten und dies beim Vater auch zukünftig der Fall sein werde, während die Mutter nun dauerhaft in der T verbleibe. Auch hierzu verhält sich die Generalstaatsanwaltschaft München im Antragsschreiben vom 26.11.2020 nicht.
Die Ausführungen der Vollstreckungsbehörden bezüglich einer zu erwartenden Rückkehr des Antragstellers in die Bundesrepublik Deutschland nach erfolgter Abschiebung in die T erschöpfen sich damit in nicht ausreichend tatsachenbasierten bloßen Vermutungen.
c) Schließlich muss in die Entscheidung, ob von der weiteren Vollstreckung der Maßregel der Sicherungsverwahrung gemäß § 456a StPO abgesehen werden kann, auch eingestellt werden, ob konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Antragsteller bereit ist, das ihm im Falle der Abschiebung erteilte Wiedereinreiseverbot in das Bundesgebiet bewusst zu missachten und sich damit einer erneuten strafrechtlichen Verfolgung sowie der Gefahr des weiteren Vollzugs der Sicherungsverwahrung auszusetzen, ohne hier aufgrund der rechtskräftigen Ausweisungsverfügung überhaupt eine Resozialisierungsperspektive zu haben.
5. Die Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 09.06.2020 und der Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft München vom 26.10.2020 verletzen den Antragsteller damit in seinem Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung; sie weisen ein Ermessensdefizit auf und sind deswegen gemäß § 28 Abs. 1 S. 1 EGGVG aufzuheben (OLG Stuttgart, Beschluss vom 27.01.1993 – 4 VAs 5/92, juris; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 16.01.1996 – 3 VAs 8/95, juris).
6. Dem Senat ist es verwehrt, selbst über die Frage des Absehens von der weiteren Strafvollstreckung zu entscheiden. Eine eigene Sachentscheidung nach § 456a Abs. 1 StPO wäre nur dann möglich, wenn die Sachlage ausschließlich eine bestimmte Entscheidung, nämlich das Absehen von der weiteren Vollstreckung der Sicherungsverwahrung, zwingend erfordern und sich der Ermessensspielraum der Vollstreckungsbehörde bei der gegebenen Sachlage auf Null reduzieren würde (OLG Dresden, Beschluss vom 12.02.2016 – 2 VAs 26/15). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Für die im Rahmen des § 456a StPO relevante Frage, ob es tatsächliche Anhaltspunkte für eine zu erwartende Rückkehr des Antragstellers nach seiner Abschiebung gibt, ist eine weitere Sachaufklärung erforderlich. Bei der Bewertung solcher tatsächlichen Anhaltspunkte handelt es sich zudem um eine prognostische Entscheidung, bei der der Vollstreckungsbehörde grundsätzlich ein Beurteilungsspielraum zusteht. Die Staatsanwaltschaft ist daher gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 EGGVG zu verpflichten, den Antragsteller erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu bescheiden (OLG Stuttgart, a.a.O.; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, a.a.O.).
IV.
1. Eine Kostengrundentscheidung nach § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 19, § 22 Abs. 1 GNotKG i.V.m. Nr. 15300 bzw. 15301 KV GNotKG war nicht veranlasst, da der Antrag weder zurückgenommen noch (insgesamt) zurückgewiesen wurde.
Die Erstattungspflicht der Staatskasse für die notwendigen Auslagen des Antragstellers entspricht der Billigkeit, § 30 Satz 1 EGGVG.
2. Die Festsetzung des Geschäftswerts ergibt sich aus § 79 Abs. 1 Satz 1, § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
3. Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen (§ 29 Abs. 2 EGGVG), da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.


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