Strafrecht

Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  M 24 K 17.260

Datum:
22.6.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 143000
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 3
AufenthG § 11

 

Leitsatz

Eine Drogenentziehungstherapie ist im Rahmen der Prognose einer ausweisungsrechtlichen Wiederholungsgefahr nur dann von Gewicht, wenn die Therapie abgeschlossen ist und sich der Ausländer unter realen Bedingungen eines Lebens in Freiheit für einen repräsentativen Zeitraum straffrei bewährt hat.  (Rn. 97) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 2017 in der Gestalt vom 1. Juni 2017 wird in Nr. 2 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 AufenthG) nach der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens hat der Kläger 4/5 und die Beklagte 1/5 zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Das Gericht kann aufgrund der Verhandlung vom 22. Juni 2017 entscheiden. Zum vorangegangenen Termin vom 1. Juni 2017 war ordnungsgemäß geladen und der Termin gemäß § 218 Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 173 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) im Wege der Verkündung vertagt worden. Eine (erneute) persönliche Ladung des Kl. gemäß § 141 Abs. 2 i.V.m. § 218 ZPO i.V.m. § 173 VwGO (auch) zum Folgetermin am 22. Juni 2017 war nicht erforderlich, weil nach der Einvernahme des Kl. am 1. Juni 2017 die ursprüngliche Anordnung des persönlichen Erscheinens aufgehoben worden ist (Sitzungsprotokoll vom 1.6.2017, S. 4/5).
2. Der für die vorliegende Entscheidung maßgebliche Streitgegenstand bestimmt sich nach dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag der Klagepartei (§ 103 Abs. 3 VwGO). Streitgegenständlich ist danach im Hauptantrag die Aufhebung des sgB und im Hilfsantrag die Verpflichtung der Bekl. über die Frage der Befristung des mit der Ausweisung verbundenen gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots erneut zu entscheiden. Bereits der ursprüngliche Antrag der Klageschrift war dahingehend auszulegen, wobei das Gericht nicht an die Form der Klageanträge, sondern nur an das tatsächliche (ursprüngliche) Klagebegehren gebunden ist (vgl. § 88 VwGO), weswegen die Umformulierung der ursprünglichen Anträge in der mündlichen Verhandlung das in der Klageschrift zum Ausdruck gebrachte Klagebegehren (§ 82 Abs. 1 Satz 1) und den Streitgegenstand nicht verändert hat. Es liegt insoweit im Ergebnis keine Klageänderung i.S.v. § 91 VwGO vor. Das gilt insbesondere auch insoweit als die Aufhebung des sgB in derjenigen Gestalt beantragt ist, die die Bekl. dem sgB in der mündlichen Verhandlung vom 1. Juni 2017 gegeben hatte – insofern ist schon im Hinblick auf § 264 Nr. 3 ZPO i.V.m. § 173 VwGO nicht von einer Klageänderung auszugehen.
3. Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben worden.
4. Die Klage ist hinsichtlich des Hauptantrags nur teilweise, nämlich nur hinsichtlich der Frage der Sperrfristlänge, begründet – nur insoweit erweist sich der sgB im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.2007 – 1 C 45/06 – Rn. 12 ff., BVerwGE 130, 20) als rechtswidrig und verletzt den Kl. in seinem Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
4.1. Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), wobei auf den Kl. als assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen (zwischen den Beteiligten unstreitig) auch § 53 Abs. 3 AufenthG anzuwenden ist, weswegen der Kl. nur unter den dort genannten Voraussetzungen ausgewiesen werden kann. Dem insoweit zutreffenden sgB (dort S. 6, drittletzter Absatz bis S. 7, vierter Absatz) folgt das Gericht und sieht diesbezüglich gemäß § 117 Abs. 5 VwGO von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
4.2. Die für eine Ausweisung des assoziationsberechtigten Kl. gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG unverzichtbare „gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“, liegt im Fall des Kl. vor.
4.2.1. Dabei haben nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (sog. differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab; st. Rspr. BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2/09 – juris Rn.17; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18; BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – juris Rn. 15-16; BayVGH, B.v. 03.03.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn 11; B.v. 16.03.2016 – 10 ZB 15.2109 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34).
4.2.2. Gemessen an diesem Maßstab geht vom Kl. eine gegenwärtige Gefahr i.S.v. § 53 Abs. 3 AufenthG aus.
4.2.2.1. Der Kl. ist wiederholt straffällig geworden, wobei insbesondere die Verurteilung vom … März 2007 wegen versuchter räuberischer Erpressung, die Verurteilung vom … Oktober 2011 wegen Raubes und die Anlassverurteilung vom … Februar 2016 (unter anderem) wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge ausweisungsrechtlich im Zusammenhang zu sehen sind. Es geht dabei um eine Form der Beschaffungskriminalität. Teilweise ergibt sich dabei unmittelbar aus dem Tathergang ein Drogenbezug (Verurteilungen vom …3.2007 und vom …2.2016) und auch dort, wo dies so nicht ablesbar ist (Verurteilung vom …10.2011), ging es jedenfalls auch um die Finanzierung des Lebensunterhalts des Kl. Diese mehrfache, vom Kl. an den Tag gelegte, Bereitschaft, gegen Strafvorschriften zu verstoßen, und zwar (im Zusammenhang mit der versuchten räuberischen Erpressung und dem Raub) unter Verletzung der Willensentschließungsfreiheit der Opfer, indiziert eine hinreichende Wiederholungsgefahr i.S.v. § 53 Abs. 3 AufenthG. Dabei ist zu sehen, dass das Interesse der Menschen, vom Drogenhandel und den mit Drogen verbundenen Gefahren für die körperliche Unversehrtheit verschont zu bleiben, mit einer grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates korrespondiert (vgl. Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz – GG). Hinzu kommt, dass den Staat wegen Art. 2 Abs. 1 GG auch eine Schutzpflicht im Hinblick auf die allgemeine Handlungsfreiheit und Willensentschließungsfreiheit trifft, dass der vom Kl. begangene Raub und die von ihm begangene versuchte räuberische Erpressung gerade auch diesen Bereich der Grundrechte anderer Menschen betrifft und dass deshalb auch insoweit eine entsprechende Schutzpflicht des Staates durch das Verhalten des Kl. ausgelöst wird. Beide genannten Bereiche sind schon wegen des jeweiligen Bezugs zu Grundrechten anderer Menschen hochrangig, was im Kontext des „differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabs“ (s.o.) zu berücksichtigen ist. Zwar ist dabei zu sehen, dass der Kl. bei den drei genannten, strafgerichtlich abgeurteilten, Taten nicht persönlich Gewalt angewandt hat. Allerdings relativiert dies die durch die genannten Verurteilungen indizierte Wiederholungsgefahr letztlich nicht. Denn zum einen hat der Kl. bei dem der Anlassverteilung (LG …, U.v. …2.2016) zugrundeliegenden Geschehen durchaus Waffen bei sich geführt, die zur Verletzung von Menschen geeignet und vom Kl. auch zu diesem Zweck bestimmt waren (wenn auch nicht zum Einsatz gekommen sind). Zum anderen lag bei dem Geschehen, das zur Verurteilung des Kl. wegen Raubes führte (LG …, U.v. …10.2011), bei dem das Opfer Gewalt durch einen anderen Tatbeteiligten erlitten hat, die Steuerung des Ablaufes der Geschehnisse ganz wesentlich in der Hand des Kl., der die Transaktion anbahnte, einen auffällig hohen Anteil an der Beute erhielt und den die Gewalt ausübenden anderen Tatbeteiligten instruierte, wobei der Kl. damit rechnete, dass der andere Tatbeteiligte auch Gewalt anwenden würde. Schließlich hat der Kl. bei dem Geschehen, das der Verurteilung wegen versuchter räuberischer Erpressung in Mittäterschaft (AG …, U.v. …3.2007) zugrunde lag, gezielt und im Zusammenwirken mit anderen Tätern versucht, sein Ziel, Rauschgift zu erbeuten, durch eine Drohung zu erreichen, nämlich in Form einer Drohgebärde mit einer silberglänzenden (einer Schusswaffe zumindest täuschend ähnlich sehenden) Gürtelschnalle, und zwar um das Opfer zu ängstigen, wobei das Opfer davon ausgehen sollte, der Kl. führe eine Waffe bei sich. Auch damit hat der Kl. deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er nicht davor zurückschreckt, die von ihm mitverursachte Furcht anderer auszunutzen, um entgegen dem Willen dieser anderen und unter erheblicher Verletzung der Willensentschließungsfreiheit dieser anderen seine (des Kl.) Ziele zu erreichen.
Diese, durch die genannten Verurteilungen indizierte, Wiederholungsgefahr wird dabei nicht entscheidend durch den bisherigen Verlauf der Drogenentziehungstherapie relativiert. Zwar ist zu sehen, dass der aktuelle Bericht dem Kl. Therapiewillen sowie einen insgesamt (trotz eines früheren Rückfalls) bislang positiven Therapieverlauf bescheinigt und zu einer positiven Prognose des erwarteten Therapieausgangs kommt. Gleichzeitig und für das Gericht entscheidend ist aber zu sehen, dass der aktuelle Therapiebericht auch explizit festhält, dass erst noch zu erweisen ist, ob der Kl. im Rahmen weitergehender Therapiestufen seine positive Entwicklung fortsetzen wird. Im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ist die Therapie weder abgeschlossen noch hat sich der Kl. unter realen Bedingungen eines Lebens in Freiheit für einen repräsentativen Zeitraum straffrei bewährt. Vielmehr hat sich im Rahmen der Therapie nur eine (im Vergleich zur Ausgangsverfassung des Kl.) „relative“ Verbesserung seiner Drogenabhängigkeit ergeben. Das genügt aber nicht, um im (ausländerrechtlich gesehen maßgeblichen) Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung die durch seine früheren und wiederholten Straftaten indizierte gegenwärtige Wiederholungsgefahr hinreichend zu relativieren. Dabei ist auch zu sehen, dass der Kl. mit der Anlasstat (vgl. LG …, U.v. …2.2016, Bl. 640 ff. d.A.) gegen drogenbezogene Strafvorschriften verstoßen hat und dass die aktuelle gutachtliche Stellungnahme der Therapieeinrichtung vom 29. Mai 2017 beim Kl. unter anderem eine Kokainabhängigkeit diagnostiziert, womit sich die frühere, für den Kl. günstige Prognose seiner früheren Therapieeinrichtung vom 7. Mai 2013, die ihm eine Bewährungsempfehlung ausgesprochen hatte (vgl. Bl. 372 ff. d.A.), in der Realität letztlich nicht bestätigt hat. Unabhängig davon ist weiter zu sehen, dass bei dem der Verurteilung wegen Raubes (LG …, U.v. …10.2011) zugrunde liegenden Geschehen der Kl. gerade eine andere Mittäter steuernde Verhaltensweise an den Tag gelegt hat (s.o.), was ihm während der Dauer der Unterbringung in einer Therapieeinrichtung mangels Zugriffsmöglichkeit auf eine Netzwerk von Mittätern so schon logistisch nicht möglich ist, weswegen die relativ gesehen positive (aber keineswegs abgeschlossene) Entwicklung der Drogenabhängigkeit des Kl. auch von daher ohne eine entsprechende Bewährung des Kl. auch im Alltag (außerhalb der Entziehungsanstalt) kein stichhaltiger Grund ist, die durch die früheren strafrechtlichen Verurteilungen des Kl. indizierte gegenwärtige Wiederholungsgefahr derzeit zu verneinen.
4.2.2.2. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Kl. unerlässlich, weil vom Kl. eine gegenwärtige Gefahr des weiteren Handeltreibens mit Drogen und damit (angesichts der mit Drogen verbundenen Gefahren) auch für die körperliche Unversehrtheit anderer Menschen ausgeht, deren Schutz einen wesentlichen Aspekt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausmacht, so dass diese Gefahr ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Unabhängig davon besteht angesichts des nicht hinreichend sicheren Therapieerfolgs im alltäglichen Leben (außerhalb der Entziehungsanstalt) auch die gegenwärtige Gefahr, dass der Kl. erneut im Zusammenhang mit drogenbezogener Beschaffungskriminalität nicht davor zurückschrecken wird, die Willensentschließungsfreiheit möglicher Opfer zu beeinträchtigen, um seine wirtschaftlichen Interessen im Zusammenhang mit Drogen zu erreichen.
4.3. Das Gericht verkennt nicht, dass das Bleibeinteresse des Kl. besonders schwer wiegt, und zwar schon aufgrund § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Dem Gericht ist bewusst, dass der Kl. ein Ausländer zweiter Generation ist, wobei zugunsten des Kl. davon ausgegangen wird, dass er ein intensives Verhältnis zu seiner Mutter hat, und weiter davon ausgegangen wird, dass die Mutter gesundheitlich angeschlagen ist, wie es der Bev.2 in der ersten mündlichen Verhandlung vorgetragen hat. Zugunsten des Kl. wird deshalb eine weitgehende Verwurzelung im Bundesgebiet und eine ebenso weitgehende Entwurzelung hinsichtlich der Türkei unterstellt.
4.4. Dabei wiegt aber auch das Ausweisungsinteresse im Fall des Kl. besonders schwer, und zwar schon wegen § 54 Nr. 1 AufenthG.
4.5. Die gemäß § 53 AufenthG gebotene Abwägung des Bleibeinteresses des Kl. einerseits und des Ausweisungsinteresses andererseits fällt angesichts der fortbestehenden erheblichen Gefährlichkeit des Kl. für hochrangige und grundrechtlich geschützte Rechtgüter anderer Menschen zugunsten des Ausweisungsinteresses aus, und zwar auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der im Bundesgebiet geborene Kl. ein Ausländer zweiter Generation, im Bundesgebiet verwurzelt und in der Türkei entwurzelt ist. Dem insoweit zutreffenden sgB (dort S. 15, siebtletzter Absatz bis S. 17, vierter Absatz) folgt das Gericht und sieht diesbezüglich gemäß § 117 Abs. 5 VwGO von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
5. Auch wenn das „Ob“ der Ausweisung somit nicht zu beanstanden ist, so erweist sich doch die Länge der vom sgB vorgesehenen Sperrfrist als rechtswidrig und die insoweit im Hilfsantrag einschlägige Verpflichtungsklage (auf Neuverbescheidung) hinsichtlich des Hilfsantrags in dem auch insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung als begründet – der Kl. hat einen Anspruch auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung über das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
5.1. Die Befristungsentscheidung des § 11 Abs. 3 AufenthG liegt im Verwaltungsermessen, das vom Gericht nur eingeschränkt überprüfbar ist (§ 114 VwGO), wobei vorliegend nicht ersichtlich ist, dass Umstände vorliegen, die dieses Ermessen auf Null reduzieren könnten; auch ist mehr als eine Verbescheidung insoweit vorliegend nicht beantragt.
5.2. Der Kl. hat somit gegen die Bekl. einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, dem die Bekl. mit der Befristungsentscheidung des sgB nicht genügt hat – denn der sgB weist insoweit Ermessensfehler (§ 114 VwGO) auf.
Sowohl die im Ausgangspunkt (ohne besondere Bedingungen) vorgesehene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 10 Jahre als auch die unter der Bedingung von Straf- und Drogenfreiheit vorgesehene Verkürzung der Sperrfrist auf 8 Jahre erweisen sich als unverhältnismäßig – denn das Gewicht der persönlichen Interessen des Kl. gebietet im Hinblick auf das Gebot eines verhältnismäßigen Ausgleichs mit dem öffentlichen Ausweisungsinteresse eine kürzere Sperrfrist.
5.2.1. Der sgB greift in die allgemeine Handlungsfreiheit des Kl. (Art. 2 Abs. 1 GG) und sein Interesse mit seiner Mutter in Deutschland zusammenzuleben (Art. 6 GG) ein. Betroffen ist vom sgB auch das von der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK) vorgesehene subjektive Recht des Kl. auf Privatleben (Art. 8 EMRK).
5.2.2. Keines des genannten Grund- und Konventionsrechte besteht allerdings schrankenlos. Insbesondere finden diese Rechte ihre Grenze beim gebotenen Schutz von Grund- und Konventionsrechten anderer Menschen vor Gefahren, wie sie vom Kl. ausgehen (s.o.).
Geboten ist ein verhältnismäßiger Ausgleich der beschriebenen rechtlichen Interessen. Dabei ist im Fall des Kl. seine starke Verwurzelung in Deutschland und seine weitgehende Entwurzelung aus der Türkei zu sehen. Auch ist davon auszugehen, dass der Kl. eine enge Beziehung zu seiner gesundheitlich angeschlagenen Mutter hat (s.o.), wobei insoweit allerdings relativierend zu sehen ist, dass der Kl. seit langem volljährig ist und dass die Klagepartei nicht von konkret erbrachten oder konkret anstehenden Pflegeleistungen des Kl. gegenüber seiner Mutter berichtet hat, geschweige denn entsprechende Belege vorgelegt hat (vgl. § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO). Dem vor diesem Hintergrund zu sehenden persönlichen Interesse des Kl. steht aber auch im Kontext des § 11 AufenthG das öffentliche Interesse an der Ausweisung des mehrfach und wiederholt zu Lasten anderer Menschen straffällig gewordenen Kl. gegenüber. Die Abwägung der so beschriebenen gegenläufigen Interessen lassen die vom sgB vorgesehene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 10 und 8 Jahre unverhältnismäßig erscheinen, weswegen der sgB letztlich gegen die genannten Grund- und Konventionsrechte verstößt.
Allerdings kann das Gericht angesichts des bestehenden Verwaltungsermessens (s.o.) schon mangels entsprechenden Antrags (vgl. § 88 VwGO), aber auch aus Gründen der Gewaltenteilung, die Bekl. nicht verpflichten, eine bestimmte Sperrfrist vorzusehen; vielmehr kommt insoweit nur ein Verbescheidungsausspruch in Betracht, wobei das Gericht allerdings nicht gehindert (wenn auch nicht verpflichtet) ist, Grenzwerte festzuhalten, die von Bekl. bei der Neufestsetzung der Sperrfrist nicht überschritten werden dürfen, um eine (neuerliche) Unverhältnismäßigkeit zu vermeiden (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – Rn. 25, juris).
Vorliegend würde die Bekl. den persönlichen Interessen des Kl. im Hinblick auf einen verhältnismäßigen Ausgleich mit dem öffentlichen Ausweisungsinteresse nicht hinreichend Rechnung tragen, wenn sie das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf mehr 8 Jahre und im Fall des Nachweises von Straf- und Drogenfreiheit auf mehr als 6 Jahre befristen würde. Das Gericht sieht dabei (mangels entsprechender Pflicht) davon ab, eine Untergrenze festzuhalten.
6. Die übrigen Regelungen des sgB erweisen sich als rechtmäßig. Insbesondere ist jedenfalls nach der in der ersten mündlichen Verhandlung erfolgten Klarstellung der Bekl., dass der Kl. das Bundesgebiet erst nach Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht zu verlassen hat, auch die Regelung in Nr. 3 des sgB nicht zu beanstanden, wobei sich auch die Gebührenregelung in Nr. 4 des sgB als rechtmäßig erweist.
7. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO – nach dieser Vorschrift sind die Kosten verhältnismäßig zu teilen, wenn die Klagepartei (wie hier) teils obsiegt und teils unterliegt. Das konkrete Verhältnis der Kostenteilung hängt dabei davon ab, was jeweils eingeklagt ist – das Obsiegen und Unterliegen ist zu dem jeweiligen Streitgegenstand ins Verhältnis zu setzen.
Vorliegend hat der Kl. nur im Hinblick auf die Verbescheidungsklage hinsichtlich der Sperrfristverkürzung obsiegt, während die Bekl. im Hinblick auf alle anderen Regelungen des sgB obsiegt hat. Das Verhältnis dieser Bereiche verhält sich wie 1/5 zu 4/5.
8. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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