Strafrecht

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Aktenzeichen  2 Qs 40/22

Datum:
7.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 8784
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Ingolstadt
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

1 Cs 26 Js 19023/21 2022-02-21 Bes AGNEUBURGADD AG Neuburg

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Ingolstadt gegen den Beschluss des Amtsgerichts Neuburg a.d. Donau vom 21.02.2022 wird dieser aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Entscheidung an das Amtsgericht Neuburg an der Donau zurückverwiesen.
3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I.
Die Staatsanwaltschaft Ingolstadt beantragte mit Verfügung vom 07.12.2021 den Erlass eines Strafbefehls gegen den Angeschuldigten wegen Urkundenfälschung gemäß § 267 StGB. Dabei legte sie ihm zur Last, am 29.10.2021 gegen 15:55 Uhr die Apotheke der B. B., B1. straße 1.. in 8… N. an der D. aufgesucht und ein Impfbuch vorgelegt zu haben, das zwei Eintragungen über eine Corona-Schutzimpfung enthielt. Dabei sollen zumindest die Eintragungen, ggf. aber auch das gesamte Impfbuch gefälscht gewesen sein und dadurch der Anschein erweckt werden, dass die Eintragungen durch die impfberechtigte Person Dr. L. im Impfzentrum D. vorgenommen wurden. Tatsächlich sollen die beiden Impfungen beim Angeschuldigten niemals vorgenommen worden sein. Der Angeschuldigte soll vorgehabt haben, mit dem gefälschten Impfbuch den Apotheker W. zu täuschen, um einen digitalen Impfnachweis auf seinem Smartphone zu erhalten.
Das Amtsgericht Neuburg an der Donau hat den Erlass des Strafbefehls mit Beschluss vom 21.02.2022, Az. 1 Cs 26 Js 19023/21, aus rechtlichen Gründen abgelehnt. Nach Ansicht des Amtsgerichts handle es sich bei den §§ 277, 279 StGB aF (in der Fassung bis zum 23.11.2021) um Privilegierungen, die einen Rückgriff auf die Urkundenfälschung nach § 267 StGB ausschlössen. Für die nähere Begründung wird auf die Ausführungen im Beschluss vom 21.02.2022 inhaltlich Bezug genommen.
Gegen diese, ihr am 25.02.2022 zugestellte, Entscheidung richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Ingolstadt vom 01.03.2022, eingegangen beim Amtsgericht Neuburg an der Donau am 02.03.2022. Zur Begründung wird ausgeführt, dass eine Privilegierung von Gesundheitszeugnissen nicht anzunehmen sei. Bei den §§ 277 ff. StGB aF handle es sich um Vorschriften, die nur dann zu einer Privilegierung führten, wenn Gesundheitszeugnisse gegenüber Behörden oder Versicherungsgesellschaften vorgelegt werden. Alle anderen Fälle seien nach § 267 StGB zu bestrafen. Auf die weiteren Ausführungen in der Beschwerde vom 01.03.2022 wird inhaltlich Bezug genommen.
Der Verteidiger des Angeschuldigten nahm mit Schriftsatz vom 30.03.2022 Stellung zur sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft. Er beantragte die Verwerfung der Beschwerde als unbegründet, da das Verhalten des Angeschuldigten aus den zutreffenden Gründen des Beschlusses des Amtsgerichts Neuburg an der Donau vor Änderung des Gesetzes zum 24.11.2021 nicht strafbar gewesen sei. Auf die weitere Begründung wird inhaltlich Bezug genommen.
II.
Die gemäß §§ 408 Abs. 2 S. 2, 210 Abs. 2, 304 StPO statthafte sowie form- und fristgerecht gemäß § 311 Abs. 2 StPO eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Ingolstadt ist erfolgreich und führt zur Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Neuburg an der Donau vom 21.02.2022 und zur Zurückverweisung zur neuen Entscheidung.
Der Erlass eines Strafbefehls kann abgelehnt werden, wenn das Amtsgericht den Angeschuldigten aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht für hinreichend verdächtigt hält, § 408 Abs. 2 StPO.
Die Ablehnung des Erlasses eines Strafbefehls hat die Wirkungen einer Nichteröffnung gemäß § 210 Abs. 2 StPO. Das Beschwerdegericht hat daher bei einer sofortigen Beschwerde wegen des Nichterlasses eines Strafbefehls, das Wahrscheinlichkeitsurteil des Erstgerichts und dessen rechtliche Würdigung in vollem Umfang nachzuprüfen (Schneider, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Auflage 2019, § 210 Rn. 10).
Ein hinreichender Tatverdacht besteht, wenn bei vorläufiger Tatbewertung auf Grundlage des Ermittlungsergebnisses, eine Verurteilung in einer Hauptverhandlung wahrscheinlich ist.
Nach dem zuvor dargestellten Maßstab ist der Angeschuldigte einer Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB hinreichend verdächtig.
1. Der hinreichende Tatverdacht ergibt sich in tatsächlicher Hinsicht aus dem Geständnis des Angeschuldigten, den Angaben der Zeugen W. und PHK B. sowie aus dem sichergestellten Impfbuch.
2. Der dem Angeschuldigten im Strafbefehl zur Last gelegte Sachverhalt erfüllt den Straftatbestand der Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 StGB.
Eine Urkunde ist eine verkörperte Gedankenerklärung, die zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt ist und ihren Aussteller erkennen lässt (vgl. Weidemann, in: BeckOK StGB, 52. Edition Stand 01.02.2022, § 267 Rn. 3).
Scheinbarer Aussteller war vorliegend Dr. L. als Arzt des Impfzentrums D.. Dem ausgefüllten Impfbuch des Angeschuldigten war daher die zum Beweis geeignete und bestimmte Gedankenerklärung des angeblichen Impfarztes Dr. L. zu entnehmen, dass der Angeschuldigte die bezeichneten Impfungen an einem bestimmten Datum erhalten habe, und dass dabei das Vakzin einer bestimmten Charge verwendet worden sei. Die Urkunde war aufgrund der Täuschung über den scheinbaren Aussteller falsch. So dann wurde von dieser falschen Urkunde im Rechtsverkehr durch die Vorlage in der Apotheke der B. B. gegenüber dem Zeugen W. G. gemacht, um einen digitalen Impfnachweis zu erlangen.
3. Die Anwendung des Straftatbestandes der Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB wird vorliegend nicht durch die vor dem 24.11.2021 gültige Fassung des § 279 StGB verdrängt (vgl. OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179; OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034).
a) In der bis zum 23.11.2021 geltenden Fassung des § 279 StGB wird bestraft, wer, um eine Behörde oder eine Versicherungsgesellschaft über seinen oder eines anderen Gesundheitszustand zu täuschen, von einem Zeugnis der in den §§ 277 oder 278 StGB bezeichneten Art Gebrauch macht. § 279 StGB afF stellt also den Gebrauch gefälschter Gesundheitszeugnisse im Sinne des § 277 StGB aF oder unrichtiger Gesundheitszeugnisse im Sinne des § 278 StGB aF unter Strafe.
b) Es besteht kein Zweifel daran, dass es sich bei Impfbüchern um Gesundheitszeugnisse handelt und dass bei Vorliegen sämtlicher Tatbestandsvoraussetzungen des § 279 StGB aF dieser als Privilegierungstatbestand nach den Grundsätzen der Spezialität einen mitverwirklichten Verstoß gegen § 267 StGB verdrängt (vgl. zur Rechtslage vor Ausbruch der Coronapandemie: Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2019, § 279 Rn. 5; Puppe/Schumann, in NK-StGB, 5. Auflage 2017, § 279 Rn. 9; Heine/Schuster, in: Schönke/Schröder StGB, 30. Auflage 2019, § 277 Rn. 12; Heger, in: Lackner/Kühl StGB, 29. Auflage 2018, § 277 Rn. 5).
Gesundheitszeugnisse sind Urkunden, die Erklärungen zum Gesundheitszustand eines Menschen enthalten (Weidemann, in: BeckOK StGB, 52. Edition Stand 01.02.2022, § 277 Rn. 4). Hierunter fällt auch ein Impfnachweis, weil die Impfung eine Information über die voraussichtlich gesteigerte Immunabwehrkraft als Aspekt eines menschlichen Gesundheitszustandes impliziert (vgl. OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179, 180, Rn. 16; OLG Bamberg, Beschluss v. 17.01.2022 – 1 Ws 732/21, COVuR 2022, 176, 177, Rn. 8; OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034, Rn. 14).
Die Privilegierung bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen ergibt sich aus den unterschiedlichen Strafandrohungen. Während § 267 StGB mit einer Geldstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren geahndet werden kann, sehen die Straftatbestände der §§ 277 bis 279 StGB aF nur Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem (§§ 277, 279 StGB aF) bzw. bis zu zwei Jahren (§ 278 StGB) vor. Außerdem ordnen die §§ 277 bis 279 StGB aF anders als § 267 StGB keine Strafbarkeit des Versuchs an.
Um den Täter nach § 279 StGB aF bestrafen zu können, muss das Gesundheitszeugnis zur Täuschung einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft gebraucht worden sein. Dabei ist eine Behörde ein ständiges, von der Person des Inhabers unabhängiges, in das Gefüge der öffentlichen Verwaltung eingeordnetes Organ, das mit öffentlicher Autorität auf die Erreichung von Staatszwecken oder staatlich geförderten Zwecken hinwirkt (vgl. von Heintschel-Heinegg, in BeckOK StGB, 52. Edition Stand 01.02.2022, § 11 Rn. 50).
Bei einer Apotheke, wie im vorliegenden Fall, handelt es sich nicht um eine Behörde in diesem Sinne, sondern um ein privates Unternehmen (vgl. LG Osnabrück, Beschluss v. 26.10.2021 – 3 Qs 38/21, MedR 2022, 38, 40; OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034, Rn. 16). Eine Apotheke verfügt über keinerlei staatliche Befugnisse. Auch die Übertragung von Befugnissen gemäß § 22 Abs. 5 Nr. 1 IfSG, also die Befugnis Impfungen gegen das Coronavirus in einem digitalen Impfzertifikat zu bescheinigen, ändert daran nichts. Wie das Amtsgericht Neuburg an der Donau zutreffend ausführt, macht bereits die Existenz einer sonstigen Stelle in § 11 Abs. 1 Nr. 4 lit. a StGB deutlich, dass nicht jede Übertragung staatlicher Befugnisse eine Stelle zu einer Behörde macht. Durch die Befugnis wurde Apotheken keineswegs in das staatliche Verwaltungsgefüge eingegliedert (vgl. auch für den Fall der Beleihung: Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 8).
Die in der Literatur vertretene Ansicht, dass nicht die Apotheke, sondern das Robert-Koch-Institut durch die Vorlage von gefälschten Impfnachweisen in der Apotheke getäuscht werde, weil dieses die personenbezogenen Daten verarbeite und daher der gefälschte Impfnachweis in mittelbarer Täterschaft durch die Apotheke gebraucht werde, teilt die Kammer nicht. Das Gebrauchmachen im Sinne des § 279 StGB setzt ein, wenn auch nur mittelbares Verbringen in den Machtbereich der Behörde mit der Möglichkeit jederzeitiger sinnlicher Wahrnehmung voraus. Dies geschieht, wie das Amtsgericht Neuburg an der Donau zutreffend ausführt, jedoch gerade nicht, da der Apotheker nicht den Impfausweis, sondern lediglich die personenbezogenen Daten aus diesem an das Robert-Koch-Institut übermittelt (OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034, Rn. 17).
c) Aus dem zuvor Dargestellten ergibt sich, dass der Angeschuldigte im vorliegenden Fall das gefälschte Impfbuch nicht gebraucht hat, um eine Behörde oder eine Versicherungsgesellschaft zu täuschen. Da damit die Voraussetzungen des § 279 StGB aF nicht vorliegen, entfalten die §§ 277 ff. StGB aF keine Sperrwirkung für einen Rückgriff auf § 267 Abs. 1 StGB.
In der Literatur und Rechtsprechung wird teilweise die Auffassung vertreten, dass die §§ 277 ff. StGB in der bis zum 23.11.2021 geltenden Fassung gegenüber der Urkundenfälschung eine umfassende Privilegierung des Umgangs mit gefälschten bzw. unrichtigen Gesundheitszeugnissen darstellten und daher ein Rückgriff auf § 267 StGB nicht möglich sei. Das Gebrauchen gefälschter Impfnachweise gegenüber Privaten sei daher bis einschließlich 23.11.2021 straflos (vgl. Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 11; OLG Bamberg, Beschluss v. 17.01.2022 – 1 Ws 732/21, COVuR 2022, 176; LG Osnabrück, Beschluss v. 26.10.2021 – 3 Qs 38/21; LG Karlsruhe, Beschluss v. 26.11.2021 – 19 Qs 90/21; LG Kaiserslautern, Beschluss v. 23.12.2021 – 5 Qs 107/21; LG Landau, Beschluss v. 13.12.2021 – 5 Qs 93/21).
Die Kammer teilt diese Auffassung nicht. Sie schließt sich der gegenteiligen Ansicht an, nach der bei der Vorlage eines mutmaßlich gefälschten Impfnachweises gegenüber Apotheken keine Sperrwirkung von den §§ 277 bis 279 StGB aF ausgeht, sondern auf den allgemeinen Tatbestand der Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB zurückzugreifen ist (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034, Rn. 20; OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179, 180, Rn. 15; LG Heidelberg, Beschluss v. 31.03.2022 – 1 Qs 5/22, BeckRS 2022, 6654, Rn. 17).
Aus der in Ziff. II. 3. Lit. b) beschriebenen Privilegierung der §§ 277 bis 279 StGB aF allein folgt nicht zwingend, dass die Anwendung des § 267 Abs. 1 StGB gesperrt ist, wenn Urkunden, die zugleich unrichtige Gesundheitszeugnisse darstellen, zur Täuschung im Rechtsverkehr natürlichen Personen oder Einrichtungen vorgelegt werden, bei denen es sich nicht um Behörden oder Versicherungsgesellschaften handelt. Dass die §§ 277 bis 279 StGB aF die Anwendung von § 267 Abs. 1 StGB generell sperren, wenn es sich bei der falschen Urkunde um ein Gesundheitszeugnis handelt, entspricht im Gegenteil weder dem erkennbaren Willen des historischen Gesetzgebers noch ergibt sich dies aus der Systematik des Gesetzes. Die Annahme einer solchen Sperrwirkung erscheint auch nicht sachgerecht.
Im Einzelnen:
aa) Die Tatbestände der §§ 277 bis 279 StGB aF sind seit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches am 01.01.1872 praktisch unverändert geblieben. Viel spricht dafür, dass durch die Vorläufernorm der §§ 277 bis 279 StGB aF im preußischen Strafgesetzbuch (§ 256 pStGB) der Anwendungsbereich des Straftatbestands der Urkundenfälschung in § 247 pStGB, der sehr viel enger war, als der des § 267 StGB, um die in § 256 pStGB geregelte Sachverhaltskonstellationen erweitert wurde und nicht beschränkt werden sollte (vgl. OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179, 180, Rn. 22). Da § 256 pStGB später – möglicherweise unreflektiert – als §§ 277 bis 279 StGB aF in das StGB übernommen und hier neben die sehr viel weitere Fassung des § 267 StGB gestellt wurde, kam den entsprechenden Normen ihre ursprüngliche Funktion, die Strafbarkeit der Urkundenfälschung auf Gesundheitszeugnisse zu erweitern, zwar rein objektiv nicht mehr zu. Dies erlaubt aber umgekehrt nicht den Schluss, dass der historische Gesetzgeber durch die möglicherweise ohne konkrete gesetzgeberische Zielrichtung erfolgte Übernahme der Vorschriften über das Herstellen und Gebrauchen unrichtiger Gesundheitszeugnisse (§§ 277 bis 279 StGB aF) falsche Gesundheitszeugnisse insgesamt vom Anwendungsbereich des § 267 ausnehmen wollte. Tendenziell dagegen spricht, dass der Tatbestand der Urkundenfälschung durch § 267 StGB im Vergleich zu seiner Vorläuferregelung in § 247 pStGB eine deutliche Erweiterung erfahren hatte (vgl. OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179, 180, Rn. 22.).
Letztlich erscheint der historische Wille des Gesetzgebers bei der Auslegung des Gesetzes angesichts des Alters der Normen und des seither erfolgten vielfältigen Bedeutungswandels des Strafrechts in seinem Gewicht vermindert (OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179, 180, Rn. 22; OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034, Rn. 21).
bb) Auch bei der Betrachtung der Gesetzessystematik kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Gesetz den Umgang mit unrichtigen Gesundheitszeugnissen nur dann unter Strafe stellen wollte, wenn solche gegenüber Behörden oder Versicherungsgesellschaften gebraucht werden, und sie damit grundsätzlich anders behandeln wollte als sonstige Urkunden (OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179, 180, Rn. 24; OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034, Rn. 23; LG Heidelberg, Beschluss v. 31.03.2022 – 1 Qs 5/22, BeckRS 2022, 6654, Rn. 21).
Das Gesetz enthält keine Hinweise auf einen Anwendungsvorrang der §§ 277 StGB aF. Dieser drängt sich nur auf, wenn die Voraussetzungen der §§ 277 StGB aF tatsächlich vorliegen.
Der Tatbestand der Urkundenfälschung schützt den Rechtsverkehr umfassend vor der Herstellung oder dem Gebrauch unechter bzw. gefälschter Urkunden, wobei eine Beschränkung auf Bereiche, die als besonders schützenswert oder bedeutsam angesehen werden, gerade nicht stattfindet. Eine generelle Herausnahme von Gesundheitszeugnissen aus dem Anwendungsbereich der Urkundendelikte stünde in einem überraschenden Gegensatz zur grundsätzlich weitreichenden Regelung der Urkundendelikte, die auch eine Vielzahl von Lebenssachverhalten erfassen, deren Bedeutung für den Rechtsverkehr erheblich geringer ist als derjenige von Gesundheitszeugnissen (vgl. OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179, 180, Rn. 27; OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034, Rn. 23).
Eine solche Herausnahme hätte zur Folge, dass der Gesetzgeber Täuschungen mit Gesundheitszeugnissen als generell weniger strafwürdig einstufen würde. Das ist aber nicht der Fall. Es sind keine sachlichen Gründe ersichtlich, dass der Gesetzgeber Gesundheitszeugnisse aus dem Anwendungsbereich des § 267 StGB herausnehmen wollte. Vielmehr hat der Gesetzgeber etwa in der ersten Handlungsalternative des § 277 StGB aF sogar ausnahmsweise die schriftliche Lüge unter Strafe gestellt, die dem Anwendungsbereich des § 267 Abs. 1 StGB entzogen ist (OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179, 180, Rn. 28; OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034, Rn. 23). Außerdem spricht gegen eine gewollte generelle Sonderstellung von Gesundheitszeugnissen, dass diese aufgrund des Fehlens einer diesbezüglichen Sonderregelung in den §§ 277 bis 279 StGB aF ebenso wie alle anderen Urkunden der Urkundenunterdrückung gemäß § 274 Abs. 1 Nr. StGB unterfallen (OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179, 182, Rn. 29; OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034, Rn. 23; LG Heidelberg, Beschluss v. 31.03.2022 – 1 Qs 5/22, BeckRS 2022, 6654, Rn. 24).
cc) Das Gesetz enthält auch keine Hinweise darauf, dass die rechtserheblichen Auswirkungen der Vorlage von Gesundheitszeugnissen gegenüber Privatleuten oder privaten Unternehmen – bei denen es sich häufig um Arbeitgeber handelt – allgemein als geringer einzustufen sind, ihnen daher ein geringerer Unrechtsgehalt zukäme als die Vorlage bei Behörden und Versicherungen, und die Vorlage straflos bleiben soll. Tatsächlich haben gerade Behörden und Versicherungen häufig eher als Privatpersonen die Möglichkeit, Gesundheitszeugnisse durch selbst beauftrage Sachverständige – wie etwa Amtsärzte – zu überprüfen. Hierin könnte, worauf das OLG Hamburg zu Recht hinweist, sogar ein Grund für die in §§ 277 bis 279 aF StGB enthaltene Privilegierung gesehen werden. Denn gegenüber Versicherungen und Behörden wird der Täter sich jedenfalls faktisch häufiger als gegenüber Privatpersonen zur Vorlage von Gesundheitszeugnissen und damit meist auch zur Offenbarung sensibler persönlicher Informationen, gezwungen sehen, die ansonsten einem erhöhten Geheimnisschutz – insbesondere vor staatlichem Zugriff – unterliegen, wie in den Normen der §§ 203 Abs. 1 Nr. 1, 278 StGB, § 53 StPO deutlich wird. (vgl. OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179, 181, Rn. 27; LG Heidelberg, Beschluss v. 31.03.2022 – 1 Qs 5/22, BeckRS 2022, 6654, Rn. 26)
dd) Schließlich spricht auch ein Vergleich mit Fällen der Vorlage gefälschter Rezepte bei Apotheken für die Richtigkeit der von der Kammer vorgenommenen Auslegung. Denn nach zutreffender Ansicht handelt es sich bei ärztlich ausgestellten Rezepten ebenfalls um Gesundheitszeugnisse im Sinne der §§ 277 bis 279 StGB aF (vgl. LG Köln, Beschluss vom 07.07.2016 – 105 Qs 165/16). Bei Vorlage gefälschter Rezepte bei einer Apotheke wird nach allgemeiner Meinung gerade eine Strafbarkeit wegen Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB unproblematisch für möglich erachtet (vgl. BGH, Urteil vom 02.11.2010 – 1 StR 579/09). Warum sich die Vorlage eines gefälschten Rezepts zur Erlangung eines Medikaments und die Vorlage eines gefälschten Impfausweises zur Erlangung eines Impfzertifikats derart grundlegend unterscheiden sollten, dass in einem Fall eine Strafbarkeit (sogar mit einer Höchststrafe von bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafe) eröffnet, in dem anderen Fall indes gänzlich ausschiede, ist nicht nachzuvollziehen und nicht mit den Schutzzwecken der §§ 277 bis 279 StGB aF (Sicherung der Beweiskraft ärztlicher Zeugnisse) sowie des § 267 StGB (Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs) in Einklang zu bringen. Denn bei unrechtmäßiger Erlangung von Medikamenten ist in erster Linie die individuell das Medikament einnehmende Person betroffen. Bei unrechtmäßiger Ausstellung von Impfzertifikaten an tatsächlich ungeimpfte Personen ist hingegen – über den fehlenden Impfschutz des ungeimpften Individuums hinaus – eine unübersehbare Anzahl an möglichen Kontaktpersonen einem potentiell erhöhten Ansteckungsrisiko durch die ungeimpfte Person ausgesetzt (vgl. LG Heidelberg, Beschluss v. 31.03.2022 – 1 Qs 5/22, BeckRS 2022, 6654, Rn. 29).
ee) Der Auffassung der Kammer steht auch nicht entgegen, dass ohne eine umfassende Sperrwirkung der §§ 277 ff. StGB aF das bloße Fälschen eines Gesundheitszeugnisses, welches lediglich nach § 267 Abs. 1 StGB strafbar ist, schwerer bestraft würde, als das Fälschen und die anschließende Vorlage im Sinne des § 277 StGB aF (vgl. OLG Bamberg, Beschluss v. 17.01.2021 – 1 Ws 732/21, COVuR 2022, 176, 178, Rn. 11). Dieser Problematik kann dadurch begegnet werden, dass die bloße Fälschung von Gesundheitszeugnissen dann unter die den § 267 StGB verdrängende Vorschrift fällt, wenn deren Zweckbestimmung zur Täuschung im Rechtsverkehr sich lediglich auf Behörden und Versicherungen bezieht (vgl. OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179, 182, Rn. 37; OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034, Rn. 26).
4. Das zuvor dargestellte, aus teleologischen und systematischen Erwägungen abgeleitete Auslegungsergebnis verstößt nicht gegen die Wortlautgrenze des Art. 103 Abs. 2 GG. Der Straftatbestand des § 267 StGB erfasst die Herstellung gefälschter Impfnachweise.
Ausdrückliche Hinweise auf einen Anwendungsvorrang des § 277 StGB enthält das Gesetz nicht (OLG Hamburg, Beschluss v. 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, COVuR 2022, 179, 183, Rn. 38; OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034, Rn. 27). Ein solcher drängt sich unmittelbar nur in Fällen auf, in denen die Voraussetzungen der § 277 bis 279 StGB aF vorliegen. Ist dies nicht der Fall, führt nicht der Wortlaut, sondern Überlegungen zur Gesetzessystematik die gegenteilige Ansicht zu dem Ergebnis eines Anwendungsvorranges. Mit den obigen Ausführungen wird jedoch aufgezeigt, dass die Gesetzessystematik in Fällen der vorliegenden Art gerade keinen Anwendungsvorrang der §§ 277 bis 279 StGB aF gebietet.
Deshalb ist der Angeschuldigte vorliegend der ihm zur Last gelegten Straftat einer Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB dringend verdächtig.
5. Da die Kammer selbst nicht befugt ist, einen Strafbefehl zu erlassen, war der Beschluss des Amtsgerichts Neuburg an der Donau aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung zurückzuverweisen (vgl. Temming, in: BeckOK StPO, 42. Edition Stand 01.01.2022, § 408 Rn. 8).
III.
Da die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Ingolstadt zur Aufhebung des Beschlusses mitsamt der Kostenentscheidung und zur Zurückverweisung zu einer neuen Entscheidung führt, ist eine Kostenentscheidung nicht veranlasst. Die Kosten eines zuungunsten des Angeschuldigten eingelegten Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft gehören zu den Verfahrenskosten, die der Angeschuldigte im Falle seiner Verurteilung durch Strafbefehl oder durch Urteil nach einer Hauptverhandlung nach § 465 StPO zu tragen hat. Eine Entlastung von seinen notwendigen Auslagen kommt insoweit nicht in Betracht (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034, Rn. 32).


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