Strafrecht

Rechtsbeschwerde, Staatsanwaltschaft, Frist, Verletzung, Generalstaatsanwaltschaft, Anfechtung, Aufhebung, Hauptverhandlungsprotokoll, Zustellung, Antragsschrift, Protokoll, Voraussetzungen, Annahme, Einlegung, Verletzung formellen und materiellen Rechts

Aktenzeichen  202 ObOWi 960/21

Datum:
2.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 28406
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

12 OWi 460 Js 1859/21 2021-03-01 Urt AGROSENHEIM AG Rosenheim

Tenor

I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Rosenheim vom 01.03.2021 mit den Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Rosenheim zurückverwiesen.

Gründe

I.
Das Amtsgericht hat den mit Beschluss vom 10.02.2021 von der Erscheinenspflicht in der Hauptverhandlung entbundenen und dort auch nicht durch seinen Verteidiger vertretenen Betroffenen am 01.03.2021 wegen einer am 23.08.2020 als Führer eines Pkw begangenen fahrlässigen Überschreitung der außerhalb geschlossener Ortschaften zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 26 km/h zu einer Geldbuße von 120 Euro verurteilt und gegen ihn wegen des Regelfalls eines (benannten) beharrlichen Pflichtverstoßes im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 [2. Alt.] StVG i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV entsprechend der Festsetzung im Bußgeldbescheid vom 22.10.2020 ein Regelfahrverbot für die Dauer eines Monats angeordnet.
Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner mit der Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründeten Rechtsbeschwerde.
II.
Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet und zwingt den Senat, wie die Generalstaatsanwaltschaft M. in ihrer Antragsschrift vom 19.07.2021 zutreffend feststellt, auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.
1. Aufgrund der vom Amtsgericht noch am Tag der Fertigstellung des Protokolls unter dem 08.03.2021 angeordneten (Bl. 34 d.A. einerseits, Bl. 31 unten andererseits) und spätestens am 17.03.2021 bewirkten Bekanntgabe durch (urschriftliche) Aktenübersendung an die Staatsanwaltschaft „gem. § 41 StPO“ unter gleichzeitiger Anordnung der am 19.03.2021 bewirkten Zustellung (zu Bl. 34 d.A.) eines entgegen § 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 267 StPO ohne Urteilsgründe abgefassten sog. ‚Protokollurteils‘ auch an den Verteidiger ist dem Senat eine materiell-rechtliche Überprüfung auf etwaige Rechtsfehler von vornherein verwehrt mit der Folge, dass es auf die nachträgliche, jedoch unzulässige und damit für das vorliegende Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr relevante Ergänzung des Urteils durch die (erst) am 12.04.2021 zu den Akten gelangten schriftlichen Urteilsgründe (Bl. 49 unten d.A.) nicht mehr ankommt (vgl. rechtsgrundsätzlich neben BGH, Beschl. v. 08.05.2013 – 4 StR 336/12 = BGHSt 58, 243 = DAR 2013, 477 = NJW 2013, 2837 = NZV 2013, 557 = NStZ 2013, 730 schon OLG Bamberg, Beschl. v. 16.12.2008 – 3 Ss OWi 1060/08 = BeckRS 2009, 3920 = ZfSch 2009, 175; ferner u.a. Beschl. v. 15.01.2009 – 3 Ss OWi 1610/08 = ZfSch 2009, 448; 27.12.2011 – 3 Ss OWi 1550/11; 22.02.2012 – 3 Ss OWi 200/12; 26.06.2013 – 3 Ss OWi 754/13; 02.07.2014 – 2 Ss OWi 625/14; 03.07.2015 – 3 Ss OWi 774/15; 08.01.2016 – 3 Ss OWi 1546/2015 und 06.06.2016 – 3 Ss OWi 646/16 = StraFo 2016, 385; siehe auch OLG Saarbrücken, Beschl. v. 06.09.2016 – Ss Bs 53/16 = NStZ 2017, 590; KG, Beschl. v. 22.02.2018 – 162 Ss 27/18 = NStZ-RR 2018, 292 = StraFo 2018, 384 und OLG Bamberg, Beschl. v. 23.10.2017 – 3 Ss OWi 896/17 = OLGSt StPO § 36 Nr. 4 sowie 02.05.2018 – 3 Ss OWi 490/18 = OLGSt OWiG § 77 b Nr. 5).
2. Zwar gilt § 275 Abs. 1 StPO gemäß §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG im gerichtlichen Bußgeldverfahren entsprechend. Dies bedeutet, dass das vollständige Urteil unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den Akten gebracht werden muss, sofern es nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen wurde. Liegt jedoch ein sog. ‚Protokollurteil‘ vor, gelten die Fristen für die Urteilsabsetzung nach § 275 Abs. 1 StPO nicht (BGH a.a.O.).
a) Wie im Strafverfahren steht es auch im Bußgeldverfahren im nicht anfechtbaren Ermessen der oder des Vorsitzenden zu entscheiden, ob das Urteil mit den Gründen als besondere Niederschrift zu den Akten zu bringen ist oder die Gründe vollständig in das Protokoll mit aufzunehmen sind. Hinsichtlich Form und Inhalt unterliegt das in das Protokoll aufgenommene Urteil den gleichen Anforderungen wie die in einer getrennten Urkunde erstellten Urteile. Wenn sich die nach § 275 Abs. 3 StPO erforderlichen Angaben bereits aus dem Protokoll ergeben, ist ein besonderer Urteilskopf jedoch entbehrlich (BGH a.a.O.).
b) Im Bußgeldverfahren eröffnet § 77 b Abs. 1 OWiG – über § 267 Abs. 4 und Abs. 5 Satz 2 StPO hinausgehend – aus Gründen der Verfahrensvereinfachung und zur Entlastung der Tatsacheninstanz die Möglichkeit, von einer schriftlichen Begründung des Urteils gänzlich abzusehen. Dies ist dann der Fall, wenn alle zur Anfechtung Berechtigten auf die Einlegung der Rechtsbeschwerde verzichtet haben oder wenn innerhalb der Frist keine Rechtsbeschwerde eingelegt wird (§ 77 b Abs. 1 Satz 1 OWiG) oder wenn die Verzichtserklärungen der Staatsanwaltschaft und des Betroffenen ausnahmsweise entbehrlich sind (§ 77 b Abs. 1 Sätze 2 und 3 OWiG). Im Bußgeldverfahren steht somit allein der Umstand, dass in dem Hauptverhandlungsprotokoll keine Urteilsgründe niedergelegt sind, der Annahme eines im Sinne der §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG, § 275 Abs. 1 Satz 1 StPO vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommenen Urteils nicht entgegen. Es genügt vielmehr, dass das Hauptverhandlungsprotokoll – wie hier – alle für den Urteilskopf nach § 275 Abs. 3 StPO erforderlichen Angaben sowie den vollständigen Tenor einschließlich der angewendeten Vorschriften enthält und von dem erkennenden Richter unterzeichnet ist (BGH a.a.O.; vgl. auch schon OLG Bamberg ZfSch 2009, 175 und StraFo 2010, 468; OLG Celle NZV 2012, 45; KG NZV 1992, 332; OLG Oldenburg NZV 2012, 352).
3. Wie bereits die Generalstaatsanwaltschaft München in ihrer schon vorgenannten Antragsschrift zutreffend ausführt, entspricht es gefestigter Rechtsprechung, dass die nachträgliche Ergänzung eines Urteils grundsätzlich nicht zulässig ist – und zwar auch nicht innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO -, wenn es bereits aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts herausgegeben worden ist. Für das Bußgeldverfahren folgt daraus, dass ein vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommenes, nicht mit Gründen versehenes Urteil, das den inneren Dienstbereich des Gerichts bereits verlassen hat, nicht mehr verändert werden darf, es sei denn, die nachträgliche Urteilsbegründung ist gemäß § 77 b Abs. 2 OWiG zulässig (BGH a.a.O. m.w.N.).
a) Die Voraussetzungen für eine nachträgliche Ergänzung der Urteilsgründe waren hier aber schon deshalb nicht gegeben, weil mit dem angefochtenen Urteil gegen den Betroffenen nicht lediglich Geldbußen von nicht mehr als 250 Euro festgesetzt worden sind (§ 77 b Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 OWiG).
b) Zwar ist Voraussetzung für die Annahme der Hinausgabe eines nicht begründeten sog. ‚Protokollurteils‘ der erkennbar zum Ausdruck gebrachte Wille des Gerichts, dass es von den Möglichkeiten des § 77 b Abs. 1 OWiG sowie des § 275 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG Gebrauch macht, also von einer schriftlichen Begründung des Urteils gänzlich absieht und das Urteil allein durch Aufnahme in das Hauptverhandlungsprotokoll fertigt. Das Gericht muss sich bewusst für eine derart abgekürzte Fassung des Urteils entschieden haben (OLG Bamberg ZfSch 2009, 175; KG NZV 1992, 332; BGH a.a.O., jeweils m.w.N.). Schon mit der gerichtlichen Anordnung (§ 36 Abs. 1 Satz 1 StPO) der Übersendung der Akten einschließlich eines ohne Gründe ins Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommenen bzw. als Anlage zum Hauptverhandlungsprotokoll genommenen Urteils an die Staatsanwaltschaft zur Zustellung hat sich die Tatrichterin hier jedoch für die Hinausgabe einer nicht mit Gründen versehenen Urteilsfassung endgültig entschieden. Damit hat ein „Protokollurteil ohne Gründe“ den inneren Dienstbereich des Gerichts verlassen und ist bereits mit der Zustellung an die Staatsanwaltschaft nach außen in Erscheinung getreten. Da die Tatrichterin das Urteil der Staatsanwaltschaft in Urschrift und im Wege der förmlichen Bekanntmachung einer Entscheidung zugeleitet hat, muss sie sich an dieser Erklärung festhalten lassen. Dabei wird den Anforderungen an eine Zustellung gemäß § 41 StPO bereits dadurch genügt, dass die Staatsanwaltschaft aus der Übersendungsverfügung in Verbindung mit der aus den Akten ersichtlichen Verfahrenslage erkennen kann, mit der Übersendung an sie werde die Zustellung nach § 41 StPO bezweckt, weshalb es dann keines – hier allerdings gegebenen – ausdrücklichen Hinweises auf diese Vorschrift bedarf (BGH a.a.O. m.w.N.).
c) Etwas anderes könnte ausnahmsweise nur dann anzunehmen sein, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände der eindeutige Wille der Tatrichterin oder des Tatrichters, dass die an die von ihr bzw. ihm verfügte förmliche Zustellung geknüpften Rechtsfolgen ausgelöst werden sollten, ersichtlich nicht hinreichend zum Ausdruck gekommen wäre (vgl. hierzu etwa KG, Beschl. v. 22.02.2018 – 162 Ss 27/18 = NStZ-RR 2018, 292 = StraFo 2018, 384). Hiervon kann vorliegend allerdings gerade nicht ausgegangenen werden.
III
Nach alledem ist das angefochtene Urteil mitsamt seinen tatsächlichen Feststellungen aufzuheben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Rosenheim zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).
IV.
Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.
V.
Gemäß § 80 a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).


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