Strafrecht

Sachlich-rechtliche Urteilsanforderungen bei narzisstischer Persönlichkeitsstörung

Aktenzeichen  202 StRR 136/21

Datum:
9.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42220
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StGB § 20, § 21, § 263 Abs. 1, Abs. 3 S. 2 Nr. 1, § 267 Abs. 2
StPO § 318, § 327, § 333, § 337, § 341 Abs. 1, § 344, § 345, § 349 Abs. 4, § 353, § 354 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1. Bei einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung muss im tatrichterlichen Urteil das Zustandsbild näher beschrieben und eingegrenzt werden, um die Frage der Schuldfähigkeit beurteilen zu können. (Rn. 5)
2. Die tatrichterliche Wertung, dass die Handlungsmöglichkeiten der Angeklagten bei Tatbegehung „nicht in einem solchen Maße eingeengt waren, dass sie zu normgerechten Verhalten nicht mehr in der Lage war“, belegt allein, dass bei der Angeklagten keine Steuerungsunfähigkeit im Sinne des § 20 StGB vorlag, eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit wird hierdurch aber nicht ausgeschlossen. (Rn. 7)
3. Im Falle der wirksamen Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch besteht keine Bindung des Berufungsgerichts gemäß § 327 StPO an die amtsgerichtlichen Feststellungen zum gewerbsmäßigen Handeln im Sinne von § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 1. Alt. StGB. (Rn. 9)
Als Gründe für die Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit kommen nur erhebliche Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit bzw. der Affektregulation, der Einengung der Lebensführung bzw. Stereotypisierung des Verhaltens, die durchgängige oder wiederholte Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und der psychosozialen Leistungsfähigkeit durch affektive Auffälligkeiten, Verhaltensprobleme sowie unflexible, unangepasste Denkstile, die durchgehende Störung des Selbstwertgefühls oder die deutliche Schwäche von Abwehr- und Realitätsprüfungsmechanismen in Betracht. Handelt es sich bei einer seit vielen Jahren und auch zu den Tatzeiten vorliegenden narzisstischen Persönlichkeitsstörung um ein eher unspezifisches Störungsbild, wird der Grad einer schweren anderen seelischen Abartigkeit regelmäßig erst dann erreicht, wenn der Täter aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat (Bestätigung von BGH BeckRS 2018, 10338). (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts vom 22.07.2021 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.
Wegen Betrugs in zwei Fällen verurteilte das Amtsgericht – Schöffengericht – die Angeklagte am 07.07.2020 zu einer aus Einzelfreiheitsstrafen von jeweils zwei Jahren zusammengesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und ordnete die Einziehung von Wertersatz an. Auf die hiergegen gerichtete, auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung der Angeklagten hat das Landgericht mit Urteil vom 22.07.2021 das Urteil des Amtsgerichts im Rechtsfolgenausspruch dahin abgeändert, dass die Anordnung der Einziehung von Wertersatz in Wegfall kommt; die weitergehende Berufung der Angeklagten und die – in der Berufungshauptverhandlung ebenfalls auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte – Berufung der Staatsanwaltschaft hat es jeweils als unbegründet verworfen. Gegen das Berufungsurteil wendet sich die Angeklagte mit ihrer Revision, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts rügt.
II.
Die aufgrund der nach § 318 StPO wirksamen beiderseitigen Berufungsbeschränkungen nur noch den Strafausspruch betreffende statthafte (§ 333 StPO) und auch sonst zulässige (§§ 341 Abs. 1, 344, 345 StPO) Revision führt auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, weil die Strafzumessungserwägungen in mehrfacher Hinsicht an sachlich-rechtlichen Fehlern leiden.
1. Bereits die Ausführungen, mit denen das Landgericht die Annahme der vollen Schuldfähigkeit der Angeklagten begründet, sind nicht rechtsfehlerfrei, weil sie die Überzeugung der Berufungskammer, die Persönlichkeitsstörung der Angeklagten habe „keinen forensisch relevanten Schweregrad“ i.S.v. § 21 StGB erreicht, nicht tragfähig belegen. Die Urteilsgründe zeigen insoweit nicht in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise auf, warum das Landgericht aufgrund der nach den Feststellungen seit vielen Jahren und auch noch zu den Tatzeiten bei der Angeklagten vorliegenden narzisstischen Persönlichkeitsstörung nicht von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit i.S.v. § 21 StGB bei Begehung der beiden verurteilten Betrugstaten ausgegangen ist, weshalb die Urteilsgründe insoweit an einem erheblichen Erörterungsmangel i.S.v. § 267 Abs. 2 StPO leiden.
a) Zwar kann eine Persönlichkeitsstörung die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit nur dann begründen, wenn sie Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben einer bzw. eines Angeklagten vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen wie eine krankhafte seelische Störung. Als Gründe für die Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als,schwere andere seelische Abartigkeit‘ kommen demgemäß nur erhebliche Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit bzw. der Affektregulation, der Einengung der Lebensführung bzw. Stereotypisierung des Verhaltens, die durchgängige oder wiederholte Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und der psychosozialen Leistungsfähigkeit durch affektive Auffälligkeiten, Verhaltensprobleme sowie unflexible, unangepasste Denkstile, die durchgehende Störung des Selbstwertgefühls oder die deutliche Schwäche von Abwehr- und Realitätsprüfungsmechanismen in Betracht. Handelt es sich, wie bei der hier diagnostizierten, seit vielen Jahren und auch zu den Tatzeiten bei der Angeklagten vorliegenden narzisstischen Persönlichkeitsstörung, um ein eher unspezifisches Störungsbild, wird der Grad einer,schweren anderen seelischen Abartigkeit’ regelmäßig erst dann erreicht, wenn der Täter aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat (st.Rspr.; vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 11.04.2018 – 2 StR 71/18 = NStZ 2018, 704 = NStZ-RR 2018, 237 = JR 2019, 98 [für,narzisstisch-dissoziale Borderlinestörung‘]; 11.02.2015 – 4 StR 498/14 = NStZ-RR 2015, 137; 27.01.2017 – 1 StR 532/16 = NStZ-RR 2017, 176 = StV 2019, 101 sowie zuletzt Beschluss vom 02.03.2021 – 4 StR 543/20 = StV 2021, 489 = NStZ-RR 2021, 138, jeweils m.w.N.).
b) Auch eine narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit bei der Tatbegehung zutage getretenen dissozialen Zügen zeichnet sich jedoch durch eine Vielzahl normalpsychologisch wirksamer Ausprägungen und Verhaltensbeeinträchtigungen aus, weshalb die Störung näher beschrieben und eingegrenzt werden muss, um beurteilen zu können, ob der Tatablauf den uneingeschränkten Erhalt der Steuerungsfähigkeit der bzw. des Angeklagten belegt und daher auf eine intakte psychische Funktion während der Tatbegehung geschlossen werden kann (BGH, Beschluss vom 11.04.2018 – 2 StR 71/18 = NStZ 2018, 704 = NStZ-RR 2018, 237 = JR 2019, 98).
c) Diesen Anforderungen werden die Gründe des angefochtenen Urteils auch in ihrer Gesamtheit nur unvollständig gerecht. Ihnen kann nicht hinreichend entnommen werden, welche forensisch relevanten Symptome der festgestellten Persönlichkeitsstörung die Berufungskammer ihrer Gesamtschau zu Grunde gelegt hat, und wie sich diese Auffälligkeiten bei der konkreten Tatausführung ausgewirkt haben. Dem Senat ist damit die Prüfung verwehrt, ob der Ablauf der Taten den uneingeschränkten Erhalt der Steuerungsfähigkeit der Angeklagten hinreichend belegt und den Rückschluss auf deren intakte psychische Funktionen während der Tatbegehung ermöglicht.
d) Ungeachtet dieser Darstellungsdefizite hat die Berufungskammer erkennbar einen fehlerhaften Maßstab bei der Beurteilung der eingeschränkten Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB zugrunde gelegt. Denn es wurde darauf abgestellt, dass die Handlungsmöglichkeiten der Angeklagten, die ohne Auffälligkeiten in einem Beschäftigungsverhältnis stand, bei Tatbegehung „nicht in einem solchen Maße eingeengt waren, dass sie zu normgerechten Verhalten nicht mehr in der Lage war.“ Mit dieser Wertung ist aber allein belegt, dass bei der Angeklagten keine Steuerungsunfähigkeit im Sinne des § 20 StGB vorlag, eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit aber keineswegs ausgeschlossen.
2. Auch soweit die Berufungskammer der Festsetzung der beiden Einzeltrafen von zwei Jahren Freiheitsstrafe jeweils den Strafrahmen eines besonders schweren Falles nach § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 1. Alt. StGB zugrunde legt, begegnet die Strafzumessung aus mehreren Gründen durchgreifenden Bedenken.
a) Die Berufungskammer hat jeweils den Strafrahmen des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB zu Grunde legt, ohne Feststellungen zum Vorliegen eines Regelfallbeispiels zu treffen. Vielmehr ist nach dem Inhalt des Berufungsurteils ersichtlich, dass sich das Landgericht an die entsprechenden Feststellungen des Urteils gebunden fühlte. Dies folgt zwanglos aus der Eingangsformulierung zu Ziffer III. der Gründe des Berufungsurteils, wonach die Berufungskammer an die „folgenden“ zugrunde liegenden Feststellungen gebunden sei, und im Folgenden exakt die entsprechende Feststellung zur angeblichen Gewerbsmäßigkeit des Handelns der Angeklagten wiedergibt. Insoweit bestand indes keine Bindungswirkung gemäß § 327 StPO. Denn die Feststellungen des Amtsgerichts zum Merkmal der Gewerbsmäßigkeit i.S.d. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 1. Alt. StGB, der nicht als Qualifikationstatbestand, sondern als reine Strafzumessungsregel ausgestaltet ist, betreffen allein den Rechtsfolgenausspruch. Die Gewerbsmäßigkeit stellt auch keine doppelrelevante, d.h. für den Schuld- und den Rechtsfolgenausspruch maßgebliche Tatsache dar, weil die Tatbegehung als solche von dem allein subjektiven Umstand des gewerbsmäßigen Handelns im Sinne einer reinen Handlungsmotivation ohne weiteres getrennt werden kann, ohne dass es zu widersprüchlichen Ergebnissen käme (vgl. zuletzt BayObLG, Beschluss vom 12.07.2021 – 202 StRR 37/21 bei juris m.w.N.).
b) Darauf, dass die amtsgerichtlichen Feststellungen die Annahme eines gewerbsmäßigen Handelns der Angeklagten i.S.v. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 1. Alt. StGB nicht rechtfertigen, kommt es deshalb nicht mehr entscheidend an.
3. Die rechtsfehlerhafte Festsetzung der Einzelfreiheitsstrafen entzieht zugleich der vom Landgericht festgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe die Grundlage und bedingt die Aufhebung des gesamten Strafausspruchs.
III.
Aufgrund der aufgezeigten Rechtsfehler (§ 337 StPO) ist auf die Revision der Angeklagten das angefochtene, nur noch den Strafausspruch betreffende Urteil aufzuheben (§ 353 StPO) und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere (kleine) Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen.
Die neue Strafkammer wird nunmehr insbesondere zu klären haben, ob es bei der Angeklagten aufgrund des Ausprägungsgrads einer zu den Tatzeiten gegebenen narzisstischen Persönlichkeitsstörung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit der Angeklagten auch im Alltag außerhalb der ihr zur Last liegenden Betrugsfälle zu erheblichen Einschränkungen des sozialen Handlungsvermögens gekommen ist. Insoweit wird vor allem der Frage nachzugehen sein, ob die Angeklagte aufgrund ihrer Persönlichkeitsstörung deshalb den Grad einer schuldmindernden schweren anderen seelischen Störung bereits erreicht hatte, weil sie bei Begehung der Taten aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat (BGH, Beschluss vom 02.03.2021 – 4 StR 543/20 = StV 2021, 489 = NStZ-RR 2021, 138).
IV.
Die Entscheidung ergeht durch einstimmigen Beschluss gemäß § 349 Abs. 4 StPO.


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