Strafrecht

Subsidiarität des Aufhebungsverfahrens nach § 454a Abs. 2 StPO gegenüber sofortiger Beschwerde

Aktenzeichen  1 Ws 32/21

Datum:
20.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1054
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Bamberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BayStVollzG Art. 90
StGB § 56 Abs. 1
StGB § 56b
StGB § 56c
StGB § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
StPO § 300 Abs. 1
StPO § 306 Abs. 1
StPO § 311
StPO § 454 Abs. 3
StPO § 454a Abs. 2 S. 1
StPO § 467 Abs. 1

 

Leitsatz

1. a) Das Aufhebungsverfahren nach § 454a Abs. 2 StPO ist bis zur Rechtskraft der Entscheidung nach § 57 StGB über die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung gegenüber der Möglichkeit der sofortigen Beschwerde nach § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO subsidiär (u.a. Anschluss an KG, Beschluss vom 25.11.2003 – 1 AR 1472/03 – 5 Ws 560/03 und OLG Bremen Beschluss vom 06.01.2014 – Ws 193-194/13, jeweils bei juris). (Rn. 7 – 8)
2. b) Ein innerhalb der Beschwerdefrist des § 311 Abs. 2 StPO gestellter Antrag der Staatsanwaltschaft auf Aufhebung des Bewährungsbeschlusses ist regelmäßig als sofortige Beschwerde gegen die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung auszulegen (§ 300 Abs. 1 StPO). (Rn. 9)
3. c) Vor der Rechtskraft der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes gem. § 57 StGB ist die StVK zur Aufhebung ihrer getroffenen Entscheidung nicht befugt. (Rn. 8)
4. a) Grundsätzlich kann bei einem Erstverbüßer davon ausgegangen werden, dass der bisherige Strafvollzug entsprechend seiner Zielsetzung bereits resozialisierend gewirkt hat. Etwas anderes gilt dann, wenn dieser Annahme gewichtige Gründe entgegenstehen. (Rn. 10)
5. b) Zweifel am tatsächlichen Vorliegen solcher, einer positiven Prognose entgegenstehenden Gründe, dürfen – anders als Zweifel an der günstigen Sozialprognose als solcher – nicht zu Lasten des Verurteilten gehen. (Rn. 13)

Tenor

1. [Anm: Verbindungsbeschluss]
2. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts – Strafvollstreckungskammer – vom 22.12.2020 aufgehoben.
3. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landgerichts – Strafvollstreckungskammer – vom 04.12.2020 wird verworfen.
4. Die Staatskasse hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

I.
Mit Beschluss vom 04.12.2020, der ohne mündliche Anhörung des Verurteilten erfolgte, nachdem sich Staatsanwaltschaft und Justizvollzugsanstalt für die Strafaussetzung zur Bewährung ausgesprochen hatten, hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts nach Verbüßung von jeweils zwei Dritteln die Reststrafen der mit Urteil des Amtsgerichts X rechtskräftig verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Monaten sowie der mit Urteil des Amtsgerichts Y rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe von 3 Monaten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln, deren ursprüngliche Strafaussetzung zur Bewährung mit Beschluss des Amtsgerichts Y rechtskräftig widerrufen worden war, ab 22.01.2021 zur Bewährung ausgesetzt. Die Strafvollstreckungskammer hat die Bewährungszeit auf 3 Jahre festgesetzt, den Verurteilten der Aufsicht und Weisung eines Bewährungshelfers unterstellt und ihm Weisungen hinsichtlich Wohnung, Arbeit, Kontakt mit dem Bewährungshelfer und hinsichtlich der Vorstellung bei einer Suchtberatungsstelle erteilt. Der Beschluss wurde dem Verurteilten am 10.12.2020 und der Staatsanwaltschaft am 11.12.2020 zugestellt. Der Verurteilte hat auf Rechtsmittel verzichtet. Mit Schreiben vom 14.12.2020, dem Landgericht per Fax zugegangen am gleichen Tag, stellte die Staatsanwaltschaft im Hinblick auf ein Schreiben der Justizvollzugsanstalt vom 09.12.2020 den Antrag, „gemäß § 454a Abs. 2 StPO den Beschluss vom 04.12.2020 aufzuheben und stattdessen die Nichtaussetzung der Strafreste anzuordnen“, weil nunmehr bekanntgeworden sei, dass der Verurteilte während des Strafvollzugs unerlaubt nicht verschriebene Medikamente eingenommen habe.
Mit Beschluss vom 22.12.2020 hat die Strafvollstreckungskammer die mit Beschluss vom 04.12.2020 gewährte Strafaussetzung zur Bewährung hinsichtlich der offenen Reststrafen gemäß § 454a Abs. 2 StPO wieder aufgehoben.
Gegen den ihm am 28.12.2020 zugestellten Beschluss hat der Verurteilte mit am 04.01.2021 bei den Justizbehörden eingegangenem Schreiben vom 30.12.2020, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird, sofortige Beschwerde eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Aus einem weiteren Schreiben vom 21.12.2020 geht hervor, dass es sich bei dem Medikament um ein Schlafmittel gegen seine Schlafstörungen gehandelt habe.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Verfügung vom 15.01.2021 beantragt, die sofortige Beschwerde des Verurteilten als unbegründet kostenfällig zu verwerfen.
II.
Die nach §§ 454a Abs. 2 Satz 1. Halbsatz, 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 1, Abs. 2 StPO) sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts vom 22.12.2020 hat schon aus formellen Gründen Erfolg. Die Strafvollstreckungskammer war nicht berechtigt, den zu diesem Zeitpunkt nicht rechtskräftigen, weil von der Staatsanwaltschaft mit der sofortigen Beschwerde (§ 300 Abs. 1 StPO) angefochtenen Beschluss vom 04.12.2020 nach § 454a Abs. 2 StPO aufzuheben.
a) Die Möglichkeit, die Aussetzungsentscheidung nach § 454a Abs. 2 StPO wieder aufzuheben, ist nur dann eröffnet, wenn kein anderer Weg zu dem erstrebten Ziel führen kann.
§ 454a StPO soll die rechtzeitige Entlassung eines Verurteilten erleichtern. Da hierzu eine möglichst frühzeitige Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes erwünscht ist, steht zum Ausgleich der mit einer frühen Prognoseentscheidung verbundenen Risiken die Korrekturmöglichkeit des Aufhebungsverfahrens nach § 454a Abs. 2 StPO zur Verfügung. Die Vorschrift soll sicherstellen, dass bei einer Vorverlagerung der Aussetzungsentscheidung die Beurteilungsgrundlage bis zur Entlassung nicht geschmälert wird. Für einen solchen Ausgleich besteht aber dann kein Bedürfnis, wenn die Aussetzungsentscheidung noch mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden kann (KG, Beschluss vom 25.11.2003 – 1 AR 1472/03 – 5 Ws 560/03 und OLG Bremen Beschluss vom 06.01.2014 – Ws 193/13 bei juris, jeweils m.w.N.).
Das Verfahren nach § 454a Abs. 2 Satz 1 StPO bewirkt eine Durchbrechung der Rechtskraft bei veränderter Entscheidungsgrundlage. Bis zum Eintritt der Rechtskraft können alle für die Prognose bedeutsamen Umstände mit der sofortigen Beschwerde zur Grundlage einer (neuen) Entscheidung gemacht werden. Deshalb ist das Verfahren nach § 454a Abs. 2 StPO bis zur Rechtskraft subsidiär. Ein schutzwürdiges Interesse daran, dieselben Umstände zum Gegenstand eines anderen Verfahrens mit lediglich lückenfüllender Funktion zu machen, besteht nicht. Solange eine rechtskräftige Aussetzungsentscheidung nicht vorliegt, fehlt es an einem Bedürfnis für das Aufhebungsverfahren (KG a.a.O. m.w.N.).
b) Der Aussetzungsbeschluss vom 04.12.2020 ist nicht rechtskräftig geworden. Die Staatsanwaltschaft hatte hiergegen form- und fristgerecht (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 1, Abs. 2 StPO) am 14.12.2020 ein als sofortige Beschwerde auszulegendes (§ 300 Abs. 1 StPO), gemäß § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO auch statthaftes Rechtsmittel eingelegt. Sie hatte mit ihrem Schreiben eindeutig zu erkennen gegeben, dass sie nicht gewillt war, es bei der Aussetzung der Vollstreckung zur Reststrafe zur Bewährung bewenden zu lassen und das Ziel der weiteren Vollstreckung der Strafe erstrebte. Sie hat sich mit ihrem Antrag daher in der Sache gegen die Aussetzungsentscheidung gewandt, auch wenn sie irrig der Meinung war, das von ihr erstrebte Ziel nur über eine Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses nach § 454a StPO erreichen zu können.
III.
Die, wie bereits ausgeführt, als solche auszulegende (§ 300 Abs. 1 StPO) statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss vom 04.12.2020 hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollstreckung der Strafreste zur Bewährung und die bedingte Entlassung des Verurteilten aus der Strafhaft gem. § 57 Abs. 1 StGB liegen vor. Zwei Drittel der Strafen werden am 21.01.2021 verbüßt sein. Der Verurteilte ist mit der Strafaussetzung zur Bewährung einverstanden. Eine Entlassung des Verurteilten aus der Strafhaft kann, insbesondere vor dem Hintergrund der dem Verurteilten erteilten Weisungen, unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden. Der Verurteilte verbüßt erstmals eine Freiheitsstrafe. Er hat sich zum Strafantritt selbst gestellt. Sein Verhalten während des Strafvollzugs gab mit Ausnahme der geschilderten Medikamenteneinnahmen und einer Ermahnung hinsichtlich der Sauberkeit des Haftraums zu keinen Beanstandungen Anlass. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die Strafe ihre spezialpräventiven Wirkungen entfaltet und resozialisierend gewirkt hat und dass es verantwortbar ist, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 25.04. 2003 – StB 4/03 = 1 AR 266/03 bei juris = NStZ-RR 2003, 200; Fischer StGB 67. Aufl. § 57 Rn. 14). Dies wäre nur dann anders, wenn dieser Annahme gewichtige Gründe entgegenstünden (vgl. Fischer a.a.O.), was jedoch beim Verurteilten, auch unter Berücksichtigung des nach dem Beschluss vom 04.12.2020 bekanntgewordenen Medikamentenkonsums, nicht der Fall ist.
a) Ein strengerer Beurteilungsmaßstab ist nicht etwa deshalb anzulegen, weil der erstmaligen Strafverbüßung ein Bewährungsbruch vorangegangen und der Verurteilte vor seiner erstmaligen Inhaftierung bereits mehrfach straffällig geworden ist. Im Gegensatz zu § 56 Abs. 1 StGB stellt die nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu treffende Prognoseentscheidung nicht auf die Erwartung ab, der Verurteilte werde ohne die Einwirkung weiteren Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Haftentlassung verantwortet werden kann. Dieser unterschiedliche Maßstab beruht darauf, dass der Verurteilte die gegen ihn verhängte Strafe bereits teilweise als Freiheitsentzug erlitten hat und im Strafvollzug resozialisierend auf ihn eingewirkt worden ist (vgl. Kinzig in: Schönke/Schröder StGB 30. Aufl. § 57 Rn. 10). Entscheidend für die Prognose nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB ist demgemäß eine Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des erlittenen Strafvollzugs für das künftige Leben des Verurteilten in Freiheit einerseits und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit andererseits. Dabei muss der Bezug zu den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit im Auge behalten werden. Dies bedeutet, dass je nach der Schwere der Straftaten, die von dem Verurteilten nach Erlangung der Freiheit im Falle eines Bewährungsbruchs zu erwarten sind, unterschiedliche Anforderungen an das Maß der Wahrscheinlichkeit für ein künftiges strafloses Leben der Verurteilten zu stellen sind (BGH a.a.O.; Kinzig a.a.O. Rn. 15). Dabei muss auch berücksichtigt werden, inwieweit einem Rückfallrisiko durch Auflagen und Weisungen (§ 57 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 i.V.m. §§ 56b, 56c StGB) entgegengewirkt werden kann (Kinzig Rn. 14). Das Gewicht der bei einem Rückfall drohenden Rechtsgutsverletzung wird im Regelfall wiederum nach Art und Schwere der Straftaten zu beurteilen sein, die die Verurteilte bereits begangen hat (BGH a.a.O.). Daran gemessen ist die Chance künftiger Straffreiheit des Verurteilten ausreichend, um seine bedingte Entlassung aus der Strafhaft mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit vereinbaren zu können. Ein solcher Fall liegt vor.
Die Entlassungssituation des Verurteilten, insbesondere seine Wohnsituation sind geklärt. Er hat eine Beschäftigung bei einer Zeitarbeitsfirma in Aussicht. Die vom Verurteilten begangenen Straftaten sind, was sich auch in Art und Höhe der verhängten Strafen zeigt, nicht besonders schwerwiegend gewesen. Die den derzeit verbüßten Verurteilungen und den Vorstrafen zugrunde liegenden Taten lassen im Falle eines Rückfalls auch keine schwerwiegenderen Taten erwarten. Eine soziale Kontrolle des Verurteilten, welche auf den Verurteilten stabilisierend wirken soll, erfolgt durch die weiteren aus den im Tenor der angefochtenen Entscheidung ersichtlichen Weisungen.
b) Ein gewichtiger Grund, der der Verantwortbarkeit der Strafaussetzung entgegenstehen würde, ergibt sich auch nicht aus dem unerlaubten Sichverschaffen und Konsumieren nicht verschriebener Arzneimittel während der Inhaftierung. Aus diesem zwar nicht erlaubten (Art. 90 BayStVollzG), weil für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt sowie die Gesundheit des Verurteilten relevanten und deshalb disziplinarisch geahndeten, strafrechtlich jedoch irrelevanten Verhalten des Verurteilten ist keine schlechtere Prognose hinsichtlich der Gefahr künftigen strafbaren Verhaltens des Verurteilten abzuleiten, als sie vor Bekanntwerden des Konsums bestand. Der Senat verkennt nicht, dass beim Verurteilten in der Gesamtschau zumindest der Verdacht für eine Substanzproblematik besteht (Besitz von Kräutermischungen bei einer Tat; Alkoholisierung bei der letzten Tat; positives Ergebnis der Urinkontrolle auf THC bei der Zugangsuntersuchung; Konsum von Schlaftabletten). Ein solcher lässt sich jedoch derzeit nicht erhärten, nachdem sich das Konsumverhalten des Verurteilten jeweils auf unterschiedliche, teils auch legale Substanzen bezog und weder hinsichtlich einer bestimmten Substanz noch in der Gesamtschau von einem problematischen Konsumverhalten gesprochen werden kann, welches die Gefahr der Begehung von Straftaten begünstigt. Allerdings handelt es sich hierbei um Zweifel hinsichtlich der Tatsachengrundlage für die Entkräftung einer, wie ausgeführt, grundsätzlich positiven Prognose, die, anders als Zweifel an der günstigen Sozialprognose als solcher, nicht zu Lasten des Verurteilten gehen dürfen (vgl. BVerfG NJW 1992, 2344/2345; Fischer § 57a Rn. 9).
In einem Fall wie diesem kann durch die nach § 56c StGB von der Strafvollstreckungskammer verhängte Vorstellungsweisung, die weiteren Weisungen und gegebenenfalls durch im Laufe der Bewährungszeit zu erteilende weitere Weisungen hinsichtlich der Bearbeitung einer möglicherweise sich herausstellenden Suchtproblematik einer Rückfallgefahr hinsichtlich der Begehung weiterer Straftaten in ausreichender Weise begegnet werden.
IV.
Die Kostenentscheidung folgt § 473 Abs. 1 StPO und aus der entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.


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