Verkehrsrecht

Haftungsverteilung bei Kollision zwischen Linksabbieger und Überholer

Aktenzeichen  17 O 10575/18

Datum:
17.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 17167
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StVO § 5 Abs. 3 Nr. 1, § 9 Abs. 1, Abs. 5
StVG § 7, § 17
VVG § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Kommt es zur Kollision zwischen einem Fahrzeug, dessen Fahrer sich zunächst rechts einordnet und dann ohne Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers nach links in ein Grundstück abbiegt, mit einem überholenden Verkehrsteilnehmer, ist eine hälftige Haftungsverteilung dann gerechtfertigt, wenn der Überholende nach den gegebenen Umständen mit einem ungefährlichen Überholvorgang nicht rechnen durfte, also die Verkehrslage unübersichtlich bzw. ihre Entwicklung nach objektiven Umständen nicht zu beurteilen war (hier bejaht). (Rn. 23 und 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagten werden samtverbindlich verurteilt, an den Kläger 5.913,47 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 4.753,22 € seit dem 23.02.2018 und aus 1.160,45 € seit dem 24.07.2018 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 571,44 € zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags Beschluss Der Streitwert wird auf 11.964,93 € festgesetzt.

Gründe

I.
Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
Der Kläger hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 5.913,47 € zuzüglich Nebenforderungen.
1. Zur Überzeugung des Gerichts steht nach der durchgeführten Beweisaufnahme fest, dass der streitgegenständliche Verkehrsunfall gleichermaßen durch die klägerische Fahrzeugführerin wie den Beklagten zu 1 verursacht wurde. Gegen die klägerische Fahrzeugführerin spricht der Anscheinsbeweis des § 9 Abs. 1, Abs. 5 StVO, während gegen den Beklagten zu 1 spricht, dass dieser in einer unklaren Verkehrslage gemäß § 5 Abs. 3 Nummer 1 StVO zu überholen versuchte.
a) Die Zeugin V. gab an, rechtsorientiert auf der Einbahnstraße gefahren zu sein. Sie habe nach links zu McDonald’s abbiegen wollen, als sie mit dem Unfallgegner kollidiert sei. Vor dem Abbiegen habe sie nicht nur verlangsamt, sie habe auch geblinkt. Dies sei etwa 3 m vor dem Abbiegevorgang gewesen.
Sie habe davor bereits das Beklagtenfahrzeug hinter sich gesehen und gedacht, dass dessen Fahrer sie sehen würde. Sie habe in den Spiegel geschaut und das Beklagtenfahrzeug herannahen sehen. Als sie mit dem Abbiegen begonnen habe, habe sie nur auf ein Fahrzeug geachtet, das aus der Ausfahrt herausgekommen sei.
b) Der Zeuge N1. führte aus, dass als zweites Fahrzeug vor ihm das Beklagtenfahrzeug und wiederum davor das klägerische Fahrzeug gefahren sei. Er habe gesehen, dass das klägerische Fahrzeug immer langsamer geworden sei und sich immer weiter rechts gehalten habe. Seiner Erinnerung nach habe es sich aber immer auf der linken, d. h. auf der Hauptspur befunden. Er habe noch zu seiner Frau gesagt: „Was macht die denn jetzt?“. Das Beklagtenfahrzeug habe dann begonnen, das klägerische Fahrzeug zu überholen. Als es sich genau neben diesem befunden habe, sei das klägerische Fahrzeug plötzlich nach links gezogen. Das klägerische Fahrzeug habe nicht geblinkt.
c) Der Sachverständige Professor Dr. B2. führte aus, dass die energetische Auswertung der Schäden eine Kollisionsgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeuges von 45 km/h und des klägerischen Fahrzeuges von 10 km/h ergebe. Im Hinblick auf die Kollisionsposition sei festzustellen, dass das Klägerfahrzeug etwa 2,7 m nach vorne links gefahren sei und zwar aus einer Fahrspur heraus, die am rechten Rand der einspurigen Fahrbahn sich befinde. Von der Rechtsabbiegerspur könne das klägerische Fahrzeug nicht nach links abgebogen sein. Das Beklagtenfahrzeug befinde sich gerade orientiert links daneben und fahre mit einem geringfügigen Abstand von ca. 50 cm zum linken Fahrbahnrand. Die klägerische Fahrzeugführerin hätte das Beklagtenfahrzeug bei der gebotenen Rückschau sehen, mithin die Kollision vermeiden können. Sofern der Beklagte zu 1 die Klägerin links habe überholen dürfen, bestehe eine Vermeidbarkeit für ihn nicht.
Seine Erkenntnisse vor Ort hätten gezeigt, dass in aller Regel die Fahrzeuglenker trotz 5,4 m Fahrbahnbreite hintereinander herfahren würden. In der Tat sei es aber möglich, dass zwei Fahrzeuge nebeneinander fahren. Auch dies habe er beobachten können.
d) Diesen Feststellungen der Sachverständigen schließt sich das Gericht vollumfänglich an. Der Sachverständige Prof. Dr. B2. ist dem Gericht aus zahlreichen Verfahren als sorgfältiger und fachkundiger Gutachter bekannt. Das Gutachten wertet die vorliegenden Informationen umfassend aus; formal ist es folgerichtig und plausibel aufgebaut. Auch die Parteien haben keine Einwände gegen das Gutachten erhoben.
e) Entgegen der Behauptung der Beklagtenseite steht damit zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die klägerische Fahrzeugführerin nicht von der Rechtsabbiegerspur, sondern von der Geradeausspur, auf welcher sie sich rechtsorientiert befand, nach links abgebogen ist. Dies wurde nicht nur von dem unbeteiligten Zeugen N1., sondern auch in technischer Sicht bestätigt. Hingegen konnte die Klageseite nicht nachweisen, dass die klägerische Fahrzeugführerin rechtzeitig vor dem Abbiegevorgang den Fahrtrichtungsanzeiger betätigte. Die Zeugin V. gab zwar an, wenige Meter vor dem beabsichtigten Abbiegevorgang links geblinkt zu haben. Dies dürfte schon nicht rechtzeitig gewesen sein. Überdies wurde ein Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers von dem Zeugen N1. nicht bestätigt. Das Gericht erachtet die Aussage des Zeugen für glaubhaft. Es handelt sich insoweit wie dargelegt um einen unbeteiligten Zeugen. Dieser tätigte seine Aussage sachlich, ruhig und nachvollziehbar. Es ist für das Gericht kein Grund ersichtlich, weshalb dieser die klägerische Fahrzeugführerin zu Unrecht belasten sollte.
Die klägerische Fahrzeugführerin hätte das Beklagtenfahrzeug bei der gebotenen Rückschau sehen und den Unfall vermeiden können. Dass die Zeugin das Beklagtenfahrzeug zwar zuvor wahrgenommen hatte, ihm aber im Zuge ihres Abbiegevorgangs überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr schenkte, ergibt sich aus ihrer eigenen Aussage.
Auf der anderen Seite ist zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen, dass der Beklagte zu 1 das klägerische Fahrzeug in einer unklaren Verkehrslage zu überholen beabsichtigte. Eine unklare Verkehrslage im Sinne des § 5 Abs. 3 Nummer 1 StVO liegt vor, wenn der Überholende nach den gegebenen Umständen mit einem ungefährlichen Überholvorgang nicht rechnen darf, wenn also die Verkehrslage unübersichtlich bzw. ihre Entwicklung nach objektiven Umständen nicht zu beurteilen ist.
Unstreitig ist, dass die Zeugin V. rechtsorientiert fuhr und ihre Geschwindigkeit reduziert hatte. Maßgebliche Bedeutung misst das Gericht zudem der Aussage des Zeugen N2. bei, der angab, sich bzw. seine Frau gefragt zu haben, was „die denn jetzt“ mache. Hieraus ergibt sich ganz eindeutig, dass das Fahrverhalten der klägerischen Fahrzeugführerin unsicher, mithin die Verkehrslage unübersichtlich und ihre weitere Entwicklung nicht verlässlich zu beurteilen war.
Weiter ist auch zu berücksichtigen, dass der Beklagte zu 1 das klägerische Fahrzeug auf derselben Fahrspur zu überholen beabsichtigte. Wie auf den Lichtbildern der Unfallörtlichkeit zu sehen ist und auch von dem Sachverständigen bestätigt wurde, ist die Fahrbahnbreite nicht zwangsläufig auf ein paralleles Befahren ausgelegt; in der Regel fahren die Fahrzeuge hintereinander. Dies entbindet die klägerische Fahrzeugführerin zwar nicht von ihrer Rückschaupflicht, verlangt aber den Überholenden auch eine erhöhte Sorgfalt und Rücksichtnahme ab. In Anbetracht des Fahrverhaltens der Zeugin V. hätte der Beklagte zu 1 von dem Überholvorgang mithin Abstand nehmen müssen.
Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung der gegenseitigen Verursachungsbeiträge erachtet das Gericht die vorliegenden Verkehrsverstöße für gleichwertig. Beide Fahrzeugführer haben den streitgegenständlichen Verkehrsunfall in gleichem Maße und damit zu 50% verursacht.
2. Auf Basis der festgestellten Haftungsquote kann der Kläger Ersatz seiner unfallbedingten Schäden wie folgt verlangen:
Der Höhe nach unstreitig sind die Reparaturkosten in Höhe von 9.263,90 €, die Wertminderung in Höhe von 875,00 € sowie die Kostenpauschale in Höhe von 25,00 €. Der Kläger kann mithin hälftigen Ersatz in Höhe von 5.081,95 € verlangen.
Soweit der Kläger Nutzungsausfallentschädigung begehrt, schätzt das Gericht gemäß § 287 ZPO die Nutzungsausfallgruppe des klägerischen Fahrzeuges unter Berücksichtigung vergleichbarer Fahrzeugmodelle auf Klasse B, d.h. 29,00 € pro Tag. Dies ergibt bei 23 Tagen einen Betrag in Höhe von 667,00 €, wovon der Kläger die Hälfte, also 333,50 € verlangen kann.
Der Kläger hat durch Vorlage von Anlage K8 nachgewiesen, die vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 996,03 € gezahlt zu haben, sodass ihm auch insoweit die Hälfte, d. h. 498,02 € zusteht.
3. Die dem Kläger ebenfalls zuzusprechenden Anwaltskosten in Höhe von 571,44 € wurden auf Basis einer 1,3 Gebühr zuzüglich Umsatzsteuer und Pauschale einem Gegenstandswert bis 6.000,00 € entnommen.
4. Der Zinsanspruch seit dem 23.02.2018 (aus 4.753,22 €) bzw. 24.07.2018 (aus 1.160,25 €) folgt unter Berücksichtigung einer der Beklagten zuzugestehenden Prüffrist von vier Wochen aus den §§ 286, 288 BGB.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nummer 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 3 ZPO.


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