Verkehrsrecht

Haftungsverteilung und ersatzfähiger Schaden bei Kollision nach Spurwechsel auf der Autobahn

Aktenzeichen  33 O 1276/17

Datum:
8.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 5015
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Memmingen
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1
BGB § § 249, § 823 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Kommt es auf der Autobahn zu einer Kollision zweier Pkw, nachdem der eine Pkw von der rechten auf die linke Spur gewechselt ist und der andere Pkw hiernach auf der linken Spur auf den Spurwechsler aufgefahren ist, bleiben die näheren Umstände des Unfalls aber insoweit offen, als nicht geklärt werden kann, ob sich der Unfall letztlich als Folge einer Unachtsamkeit des Spurwechslers oder einer solchen des Auffahrenden darstellt, so haften beide Parteien jeweils hälftig. Ein Anscheinsbeweis kommt nicht zur Anwendung. (Rn. 16 und 20 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
2 UPE-Aufschläge und Verbringungskosten sind auch im Rahmen der fiktiven Abrechnung von Reparaturkosten zu ersetzen, wenn sie im maßgeblichen Bezirk üblicherweise anfallen (vgl. nun BGH BeckRS 2018, 31246 Rn. 10 ff.). (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Ersatzfähigkeit des merkantilen Minderwerts setzt nicht voraus, dass das betroffene Fahrzeug vollständig und fachgerecht repariert wurde. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 3.602,50 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 09.10.2017 zu bezahlen.
2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 347,60 € netto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 09.10.2017 zu bezahlen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Die Kosten des Rechtsstreites werden gegeneinander aufgehoben.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Für die Klägerin jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages.
Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagten Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 7.205,00 € festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Klage ist lediglich teilweise begründet. Soweit sie sich, wie tenoriert, als unbegründet erweist, ist sie abzuweisen.
Die Klägerin stützt ihren Anspruch auf §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB, § 115 Abs. 1 VVG.
Zur Überzeugung des Gerichtes kann nicht mehr hinreichend geklärt werden, wie sich der verfahrensgegenständliche Verkehrsunfall zugetragen hat. Beide Parteien haften daher zu gleichen Teilen.
Durch Zeugenaussagen und die Angaben der beteiligten Parteien ist der Verkehrsunfall nicht mehr aufklärbar. Der Geschäftsführer der Klägerin hat in seiner informatorischen Anhörung im Wesentlichen den Vortrag aus der Klageschrift bestätigt. Er hat angegeben, dass der Beklagte zu 1) plötzlich und ohne zu blinken in seinen Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug auf der linken Spur hineingefahren sei. Er habe bereits aufgrund des eingeschalteten Distance-Control-Systems heruntergebremst, als der Beklagte zu 1) den Spurwechsel vollzogen habe. Der Geschäftsführer der Klägerin gab weiter an, dass das Beklagtenfahrzeug definitiv nicht 5 bis 600 m Fahrtstrecke auf der linken Fahrspur zurückgelegt habe, bis es zum Unfall gekommen sei. Ohne den Wechselvorgang des Beklagten zu 1) hätte er hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug noch zum Stillstand kommen können. Die Zeugin … hat in ihrer Einvernahme die Angaben ihres Ehemannes weitgehend bestätigt, sie gab an, dass der Beklagte zu 1) ohne zu blinken die Fahrspur gewechselt habe und auf der linken Fahrspur dann gebremst habe. Abstände oder Ähnliches konnte die Zeugin demgegenüber nicht angeben. Zur Frage des Eingeschaltetseins des Distance-Control-Systems konnte die Zeugin nur Angaben dahingehend tätigen, dass sie aufgrund der Tatsache, dass ihr Ehemann dieses immer einschalte, auch davon ausgehe, dass es auch zum Unfallzeitpunkt eingeschaltet gewesen sei. Die Zeugin meinte weiter aufgrund des Fahrverhaltens des Fahrzeuges erkennen zu können, dass es eingeschaltet gewesen sei. Dem gegenüber gab der Beklagte zu 1) im Rahmen seiner Anhörung an, dass er sich nach hinreichender Rückversicherung zum Fahrspurwechsel entschlossen habe, dann auf der linken Spur einen Abstand von 100 m zum Vordermann und 80 bis 100 m zum rückwärtigen Fahrzeug gehabt habe. Das rückwärtige Fahrzeug habe dann immer mehr zu ihm aufgeschlossen. Aufgrund der Feststellung, dass sich dann der Verkehr staute, habe der Beklagte zu 1) eine Vollbremsung eingeleitet und sei noch 2 m hinter dem Vordermann zum Stehen gekommen. Etwa 5 bis 10 Sekunden später sei es dann zum Aufprall gekommen. Der Beklagte zu 1) gab weiter an, dass er sich daher sicher sei, dass es nicht zu einem Hineinfahren in den Sicherheitsabstand des klägerischen Fahrzeuges gekommen sei. Auf der linken Fahrbahn habe er noch eine Strecke von 5 bis 600 m zurückgelegt. Der Zeuge … bestätigte im Wesentlichen die Angaben des Beklagten zu 1). Er gab an, dass der Beklagte zu 1) den Blinker gesetzt habe. Weiter gab er an, dass der Beklagte zu 1) dann hinsichtlich des stauenden Verkehrs gebremst habe und kurz hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug zum Stehen gekommen sei. Vielleicht höchstens 5 Sekunden später habe es dann den Aufprall des klägerischen Fahrzeuges gegeben. Weiter gab der Zeuge an, dass beim Fahrspurwechsel auf der linken Spur das Fahrzeug durch den Beklagten zu 1) noch beschleunigt worden sei und dann erst am Horizont, welcher etwa 500 m entfernt gewesen sei, sich abgezeichnet habe, dass Fahrzeuge dort bremsen und der Beklagte zu 1) seine Geschwindigkeit anpassen musste. Bei der Entfernung war der Zeuge unsicher. Er gab zunächst eine Entfernung von 2 bis 300 m an und korrigierte dies dann auf 500 m.
Insgesamt ist das Aussageverhalten der Parteien bzw. Zeugen, wie auch der schriftsätzliche Vortrag gegensätzlich. Aus den Zeugenaussagen ergeben sich keine Anhaltspunkte für das Gericht, der jeweiligen Partei mehr Glauben zu schenken als der anderen Partei. Unsicherheiten im Bereich der Aussage der jeweiligen Zeugen sind auf jeder Seite vorhanden. So hatte beide Zeugen Schwierigkeiten der räumlich-zeitlichen Einordnung der Vorgänge. Die Zeugin … wies zudem Unsicherheit in ihrer Aussage hinsichtlich der Aktivierung des Distance-Kontroll-Systems auf. Auch ist zu beachten, dass es sich bei der Zeugin … um eine Lagerzeugin handelt, welche im Lager ihres Ehemannes, des Geschäftsführers der Klägerin, steht. Insoweit kann sich das Gericht aufgrund der Zeugenaussagen und aufgrund der Angaben der Beteiligten Fahrer keine Überzeugung dahingehend bilden, dass sich der Unfall so wie eine Partei ihn geschildert hat, zugetragen hat.
Auch das Ergebnis des Sachverständigengutachtens des Sachverständigen … ist nicht geeignet, den Unfall im Sinne der Unfallschilderung einer der Parteien aufzuklären. Letztlich kommt das Sachverständigengutachten samt Ergänzung zusammengefasst zu dem Ergebnis, dass rekonstruktiv sowohl ein Hergang nach Klägervortrag als auch ein solcher nach dem Vortrag der Beklagtenseite möglich ist. Der Sachverständige konnte lediglich eine Untergrenze des Spurwechselvorganges bestimmen, nicht jedoch, welche Fahrstrecke beide Fahrzeuge auf der linken Fahrspur absolvierten bis es zur Kollision kam (Bl. 104, 138 d.A.). Insoweit hat keine der Parteien den Nachweis führen können, dass der Unfall so wie er von ihr beschrieben wurde tatsächlich zugetragen hat.
Aufgrund der Unaufklärbarkeit des genauen Unfallgeschehens haben beide Parteien jeweils hälftig zu haften. Die Anwendung des Anscheinsbeweises gegen den Auffahrenden bzw. eines eben solchen gegen den Spurwechsler kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn der typische Geschehensablauf, welcher erst die Anwendung eines Anscheinsbeweises ermöglicht, aufgrund der Nichtbeweisbarkeit der jeweiligen Sachverhaltsschilderung nicht beweissicher festgestellt werden kann. So liegt der Fall hier.
Unstreitig ist zwischen den Partien; dass im Vorfeld der Kollision ein Spurwechsel des Beklagten zu 1) auf die von dem klägerischen Fahrer befahrene linke Fahrspur erfolgte. Nach den Ausführungen des Sachverständigen, welche sich das Gericht nach eigener Prüfung zu eigen macht, kann der Unfall sich vorliegend sowohl so zugetragen haben, dass der Beklagte zu 1) in den aufgrund Dinstance-Control-Systems herunterregulierten Sicherheitsabstand zwischen dem klägerischen Fahrer und dem vorausfahrenden Fahrzeug einfuhr und im engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit diesem Einfuhrvorgang die Kollision letztlich stattfand. Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen kann jedoch aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Beklagte zu 1) seinen Spurwechsel vollführte und sodann der klägerische Fahrer entweder aus Unachtsamkeit oder aufgrund nicht angepasster Geschwindigkeit in das im Abbremsvorgang befindliche Fahrzeug des Beklagten zu 1) hinein kollidierte. Keine dieser beiden Sachverhaltsalternativen kann durch das Gericht ausgeschlossen werden. Es kommt daher nicht zur Anwendung eines Anscheinsbeweises, sondern aufgrund der unaufklärbaren Unfallsituation zu einer Schadensteilung (vgl. auch LG Fulda, AZ: 1 S 91/16, Urteil vom 20.01.2017).
Ausgehend von der vorgenannten Quote steht der Klagepartei einen Anspruch in Höhe von insgesamt 3.602,50 € gegen die Beklagten zu.
Es sind dabei keine Abzüge hinsichtlich der Schadenshöhe im Bezug auf die Positionen Verbringungskosten und UPE-Aufschläge vorzunehmen. Unstreitig ist zwischen den Parteien, dass Verbringungskosten und UPE-Aufschläge im Bezirk der Klägerin üblicherweise anfallen. In einem solchen Fall sind beide vorgenannten Positionen auch bei fiktiver Schadensabrechnung zu ersetzten (vgl. auch LG Hanau, Urt. v. 9.4.2010 – 2 S 281/09, NJOZ 2011, 935; LG Rostock, Urteil vom 02.02.2011 – 1 S 240/10; auch Knerr in Geigel, Haftpflichtprozess, 27. Aufl. 2015, 3. Kapitel, Rdnr. 33).
Zu ersetzen ist auch der quotenanteilig auf die Beklagte entfallende merkantile Minderwert. Die Rechtsauffassung der Beklagtenseite, insbesondere auch hinsichtlich des behaupteten. Inhaltes des in der mündlichen Verhandlung zitierten BGH-Urteil (NJW 1967, 522) teilte das Gericht so nicht. Aus dem beklagtenseits zitierten BGH-Urteil geht gerade nicht hervor, dass der BGH die Reparatur und vollständige, fachgerechte Instandsetzung des Fahrzeuges als Voraussetzung für die Fälligkeit des Ersatzanspruches ansieht, vielmehr stützt das zitierte Urteil die mit der ständigen Rechtsprechung übereinstimmende Auffassung der Klägerseite. Es ist vorliegend strikt der Unterschied zwischen konkreter und fiktiver Schadensabrechnung zu beachten. Folgte man der Auffassung der Beklagtenseite, so würde es vorliegend auf eine unzulässige Mischkalkulation hinauslaufen. Die Schadenspositionen an sich würden fiktiv abgerechnet, der merkantile Minderwert indes lediglich bei konkretem Anfall. Maßgeblich für die fiktive Abrechnung ist jedoch, dass die Klägerseite eine Pflicht zur Reparatur nicht trifft. Der Schadensfall ist insgesamt, soweit Schäden eingetreten sind, zum Zeitpunkt der Begutachtung abzuwickeln. Der Schaden aber, der dadurch eintritt, dass das Fahrzeug – repariert oder nicht – mit der Eigenschaft als Unfallwagen behaftet ist, tritt im Zeitpunkt der Schädigung unmittelbar ein, d.h. ein auf Ersatz der merkantilen Minderwertes gerichteter Anspruch ist damit auch fällig.
In Höhe der berechtigten Forderungen steht der vorsteuerabzugsberechtigten Klägerseite außerdem ein Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu, welche aus dem Betrag der berechtigten Schadensersatzforderung in Höhe von 3.602,50 €, insgesamt 347,60 € betragen.
Die Zinsentscheidung beruht auf §§ 291, 288 Abs. 1 ZPO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.
Die Festsetzung des Streitwertes erfolgt entsprechend der §§ 3 f. ZPO.
Verkündet am 08.01.2019


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