Versicherungsrecht

Leistungen, Versicherungsvertrag, Versicherungsbedingungen, Versicherungsfall, Widerspruch, Frist, Anspruch, Berechnung, Rechtsanwaltskosten, Anlage, Verwirkung, Umstandsmoment, Wirksamkeit, Berufungsverfahren, nicht ausreichend, Wahrung der Frist, zur Wahrung der Frist

Aktenzeichen  42 S 823/21

Datum:
10.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 54805
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts … vom 31.03.2021, Az. 32 C 1244/20, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 01.06.2021, abgeändert und neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.354,75 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 1.354,75 € seit dem 20.02.2020 zu zahlen.
Die Beklagte wird weiter verurteilt, an die Klägerin vorgerichtlich entstandene Rechtsanwaltsvergütung in Höhe von 121,98 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 06.01.2021 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 54 % und die Beklagte 46 % zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.
Die Klägerin schloss mit der Beklagten zum Versicherungsbeginn 01.10.1998 einen Versicherungsvertrag im sogenannten Policenmodell (§ 5a VVG a.F.) ab. Die Klägerin leistete Beiträge in Höhe von 6.134,40 €.
Im Jahr 2015 (4.560,00 €) und im Jahr 2017 (730,00 €) nahm die Klägerin ein sogenanntes Policendarlehen in Anspruch (Anlage BLD 3, Bl. 130 ff. d.A. bzw. BLD 4, Bl. 139 ff. d.A.).
Der Versicherungsvertrag lief am 01.10.2018 aus. Die Beklagte zahlte der Klägerin einen Betrag in Höhe von 5.944,79 € aus.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 13.01.2020 ließ die Klägerin den Widerspruch nach § 5 a VVG a.F. erklären (Anlage K 3, Bl. 49 d.A.). Mit weiterem Schreiben vom 05.02.2020 erfolgte eine betragsmäßige Aufgliederung des von der Klägerin geltend gemachten Rückgewähranspruchs (Anlage K 5, Bl. 59 ff. d.A.).
Der Versicherungsschein enthält zu einem Widerspruch folgende Belehrung:
„Sie können dem Versicherungsvertrag ab Stellung des Antrags bis zum Ablauf von vierzehn Tagen nach Zugang des Versicherungsscheins, der Versicherungsbedingungen und der übrigen Verbraucherinformation schriftlich widersprechen. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs.“
Wegen der weiteren Einzelheiten hinsichtlich des Druckbildes, des Inhalts und der graphischen Anmutung des Versicherungsscheins wird auf die Anlage K 1, dort Seite 2 (Bl. 37 d.A.), = Anlage K 4 (Bl. 55 d.A.), Bezug genommen.
Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (im Folgenden: „AVB“) enthalten unter § 3 einen Abschnitt „Können Sie dem Versicherungsvertrag widersprechen?“ Insoweit wird ergänzend auf die Anlage K 1 (Bl. 39 d.A.) verwiesen.
Die Klägerin macht geltend, es bestehe ein Zahlungsanspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung in Höhe von 2.944,67 €.
Dieser setze sich wie folgt-zusammen:
6.134,40 € (unstreitig erfolgte Beiträge der Klägerin)
+2.999,86 € (vorgetragene Nutzungen, Bl. 16 d.A., Anlage K 2, Bl. 43 ff. d.A., Anlage K 7, Bl. 67 ff. d.A., Standard BVV A I 100, Berechnung Rückabwicklungsanspruch bei Altersvorsorgeprodukten).
-244,80 € (vorgetragener Wert des faktischen Versicherungsschutzes, Bl. 13 f. d.A., Anlage K 2 und K 7).
-5.944,79 € (unstreitig erfolgter Auszahlungsbetrag incl. zweier Policendarlehen)
= 2.944,67 € (Klageforderung)
Die Klägerin trägt vor, die Belehrung der Beklagten sei nicht ausreichend drucktechnisch hervorgehoben gewesen und habe nicht den notwendigen Mindestinhalt aufgewiesen.
Das Amtsgericht Würzburg hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Belehrung sei drucktechnisch abgesetzt und problemlos zu lesen. Ansprüche seien aber auch verwirkt. Die Versicherungsnehmerin habe über die gesamte von ihr gewünschte Vertragsdauer den Versicherungsschutz genossen und dann ohne Beanstandungen den Auszahlungsbetrag akzeptiert. Auch durch die Inanspruchnahme eines Policendarlehens habe sie unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass der Vertrag ihrem Willen entspreche, dass sie daran festhalten und daraus Vorteile ziehen wolle. Daran müsse sie sich festhalten lassen.
Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird im Übrigen Bezug genommen, § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit welcher sie ihren erstinstanzlich gestellten Klageantrag vollumfänglich weiterverfolgt.
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des am 31.03.2021 verkündeten Urteils des Amtsgerichts …, Az: 32 C 1244/20, wird die Beklagte verurteilt,
an die Klägerin 2.944,67 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 2.944,67 € seit dem 24.01.2020 zu zahlen;
an die Klägerin vorgerichtlich entstandene Rechtsanwaltsvergütung in Höhe von 274,95 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
Die Kammer hat keinen Beweis erhoben. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands in der Berufungsinstanz wird auf die wechselseitigen Schriftsätze, soweit sie sich mit dem Streitgegenstand beschäftigen und nicht allgemeine Rechtsausführungen enthalten, sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.11.2021 Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist teilweise begründet.
Die Klägerin hat dem Grunde nach einen Anspruch gegen die Beklagte auf Rückgewähr ihrer Leistungen wegen des Versicherungsvertragsverhältnisses (Rückgewähr erbrachter Leistungen, § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB, Herausgabe von Nutzungen, § 818 Abs. 1 BGB).
1. Die von der Beklagten im vorliegenden Fall verwendete Widerspruchsbelehrung war nicht ordnungsgemäß. Die Widerspruchsbelehrung war nach den Maßstäben der höchstrichterlichen Rechtsprechung jedenfalls mangels drucktechnisch deutlicher Form nicht ordnungsgemäß im Sinne von § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. (vgl. BGH, Urt. v. 28.01.2004 – Az. IV ZR 58/03 -, NJW-RR 2004, 751 (752 f.): Erfordernis der drucktechnischen Hervorhebung). Der zweiseitige Versicherungsschein der Beklagten (Anlage K 1, Seite 36 f. d.A. enthält die Ausführungen zum Widerspruch wie alle notwendigen Informationen zum Versicherungsverhältnis in schreibmaschinennachahmender Schriftart. Dies ist sehr übersichtlich gestaltet, aber nicht im Sinne der Rechtsprechung „drucktechnisch hervorgehoben“. Auf der Grundlage dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung, der sich die Kammer anschließt, reicht dies für die besonders wichtigen Informationen zum Widerspruchsrecht der Versicherungsnehmerin, dem „Sein oder nicht sein“ des Versicherungsvertragsverhältnisses, nicht aus. Die diesbezüglichen Ausführungen in den AVB (Bl. 39 d.A.) genügen diesen Anforderungen ebenfalls nicht. Die Klägerin konnte daher noch im Jahr 2020 widersprechen.
2. Die klägerischen Ansprüche unterfallen auch nicht der Verwirkung. Das hierfür erforderliche sogenannte Zeitmoment ist eindeutig gegeben. Das sogenannte Umstandsmoment ist hingegen nicht erfüllt; es kann nach der Überzeugung der Kammer auch nicht vollständig durch Übererfüllung des Zeitmoments erfüllt werden, sondern setzt voraus, dass besonders gravierende Umstände gegeben sind, die über die bloße faktische Vertragsdurchführung hinausgehen und einen zwingenden Schluss darauf zulassen, dass die Klägerin in Kenntnis ihres Lösungsrechts vom Vertrag an diesem festgehalten und von diesem Recht keinen Gebrauch gemacht hatte (BGH, Urt. v. 11.05.2016 -, IV ZR 334/15 -, r+s 2016, 339 (340) Rn. 16). Gravierende Umstände liegen insbesondere nicht in der Inanspruchnahme eines Policendarlehens (vgl. BGH, Urt. v. 27.01.2016 – IV ZR 488/14 = r+s 2016, 285 (286) Rn. 20 st.Rspr.), welches allein eine vorgezogene und später verrechnete Vorauszahlung an die Versicherungsnehmerin und keine Zahlung beispielsweise auf einen eintrittspflichtigen Versicherungsfall darstellt, der die Wirksamkeit des Versicherungsvertragsverhältnisses voraussetzt.
Der Klägerin steht daher ein bereicherungsrechtlicher Rückgewähranspruch dem Grunde nach zu.
3. Der Höhe nach ergibt dies einen berechtigten Anspruch der Klägerin in Höhe von 1.35475 € und ergibt sich aus folgender Berechnung:
a.) 6.134,40 € [unstreitig eingezahlte Beträge]
b.) -906,69 € [Risikokosten]
(Vortrag im Schriftsatz der Beklagtenseite vom 23.02.2021, Bl. 158 d.A., im Schriftsatz vom 30.09.2021, dort Seite 10, Bl. 276 d.A. sodann tabellarisch aufgegliedert. Die von Beklagtenseite nun bezifferten und aufgegliederten Risikokosten sind in konkreter Kenntnis der versicherungsmathematischen Bemessungsgrundlagen und betriebswirtschaftlichen Gegebenheiten erfolgt und anders als der klägerische Vortrag hierzu, dem das entsprechende Wissen naturgemäß fehlt, auf das konkrete Versicherungsverhältnis bezogen. Die Kammer macht sich diesen Beklagtenvortrag nach Prüfung und Abgleich mit anderen aktenkundigen Zahlenwerken zu eigen, § 287 Abs. 2 ZPO. Die Ausführungen der klägerseits vorgelegten Anlage K 7 stehen einer solchen Schätzung nicht entgegen, da sie entweder sehr pauschal sind bzw. sich sehr umfassend zu „Altersvorsorgeprodukten“ im Allgemeinen äußern, was Abweichungen einer gerichtlichen Schätzung im konkreten Fall weder ausschließt noch den Beklagtenvortrag seiner Plausibilität als Schätzgrundlage des Gerichts beraubt.).
c.) -5.944,79 € [unstreitig erfolgte Auszahlungen]
d.) +2.071,83 € [Nutzungen]
(Der faktische Versicherungsschutz und der Risikoanteil sind bei Bestimmung der gezogenen Nutzungen abzugsfähig bzw. nicht zu berücksichtigen, vgl. BGH, Urt. v. 07.05.2014, – IV ZR 76/11 = BGHZ 201, 101 = NJW 2014, 2646 (2651) Rn. 45; BGH, Urt. v. 24.02.2016, – IV ZR 126/15 -, NJOZ 2016, 689 Rn 25; vgl. auch BGH, Urt. v. 11.11.2015, – IV ZR 513/14 -, NJW 2016, 1388 (1390) Rn. 42 zu Nutzungen aus dem Risikoanteil.
Nutzungen aus dem Sparanteil sind zugunsten der Klägerseite zu berücksichtigen BGH, Urt. v. 11.11.2015, – IV ZR 513/14 -, NJW 2016, 1388 (1391) Rn. 51 wobei die Darlegungs- und Beweislast, dass Nutzungen erzielt worden sind, bei der Versicherungsnehmerin liegt, vgl. BGH, Urt. v. 11.11.2015, – IV ZR 513/14 -, NJW 2016, 1388 (1391) Rn. 48). Die Beklagte hat diese mit 2.071,83 € beziffert, Schriftsatz der Beklagtenseite vom 23.02.2021, dort Seite 2 (Bl. 159 d.A., im Schriftsatz vom 30.09.2021, dort Seite 10, Bl. 276 d.A. tabellarisch aufgegliedert. Die von Klägerseite genannten Zahlenwerke und Bemessungsgrundlagen sind nicht auf das konkrete Versicherungsverhältnis bezogen. Die Kammer macht sich den Vortrag der Beklagtenseite nach Prüfung und Abgleich mit anderen aktenkundigen Zahlenwerken zu eigen, § 287 Abs. 2 ZPO. Die Ausführungen der Anlage K 7 stehen nicht entgegen, da sie sich sehr umfassend zu „Altersvorsorgeprodukten“ im Allgemeinen äußern, was Abweichungen einer gerichtlichen Schätzung im konkreten Fall weder ausschließt noch den Beklagtenvortrag seiner Plausibilität als gerichtlicher Schätzgrundlage beraubt.
Nutzungen aus dem Verwaltungskostenanteil sind rechtlich grundsätzlich zu Gunsten der Klägerseite berücksichtigungsfähig und müssten herausgegeben werden, wobei allerdings keine Vermutung für erzielte Nutzungszinsen in bestimmter Höhe besteht, vgl. BGH, Urt. v. 11.05.2016, – IV ZR 334/15 -, r+s 2016, 339 (340 f.) Rn. 23). Die Beklagte hat vorgetragen, dass sie keine Nutzungen aus Verwaltungskosten gezogen hat, was die Klägerin bestreiten ließ. Es ist plausibel und überzeugt die Kammer jedenfalls im Wege einer Schätzung nach § 287 Abs. 2 ZPO, dass die Beklagte mit den vorgetragenen Verwaltungskosten Kosten beglichen hat und nicht aus Teilbeträgen hieraus durch Geldanlage selbst Nutzungen ziehen konnte, die sie dann nun an die Klägerin herauszugeben hätte.).
e.) Es ergibt sich ein bereicherungsrechtlicher Rückabwicklungsanspruch der Klägerin in Höhe von 1.354,75 €
4. Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten der Klägerin, berechnet aus einem berechtigten Gegenstandswert in Höhe von 1.354,75 €, betragen insgesamt 121,98 € (1,3 Verfahrensgebühr 195,00 €, abzügl. 0,75 Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV RVG i.V.m. dem Klageantrag, zzgl. Auslagenpauschale 20,00 €, zzgl. Umsatzsteuer). Es handelte sich vorliegend um eine Angelegenheit allein durchschnittlicher Schwierigkeit, die selbst aus Sicht eines Allgemeinanwalts durch im wesentlichen gleichartige Schriftsätze bearbeitet werden kann und deren Entscheidung bei einmaliger Würdigung der bereits vorhandenen, inzwischen übersichtlichen höchstrichterlichen Rechtsprechung auf wenige tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten beschränkt ist, weswegen allein eine 1,3 Gebühr anzusetzen war.
5. Die Zinsansprüche ergeben sich aus Verzugsgesichtspunkten, §§ 286, 288 Abs. 1, 291 BGB. Zinsen konnten zum Hauptantrag jedoch erst ab dem 20.02.2020 zugesprochen werden, da erst nach fruchtlosem Ablauf der mit Schreiben vom 05.02.2020 gesetzten Frist bis zum 19.02.2020 Verzug eingetreten war (Anlage K 5, Bl. 59 ff. d.A.).
III.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 10 ZPO.
2. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.


Ähnliche Artikel


Nach oben