Verwaltungsrecht

Abschiebung, Abschiebungsverbot, Berufung, Verletzung, Migration, Bescheid, Zulassung, Mitgliedstaat, Zulassungsantrag, Griechenland, Zulassungsgrund, Kenntnis, Unterkunft, Zusicherung, Zulassung der Berufung, entscheidungserhebliches Vorbringen, Zulassung zur Berufung

Aktenzeichen  23 ZB 18.33102

Datum:
27.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 10992
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1 und 3
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Verfahrensgang

B 8 K 18.30696 2018-10-22 Urt VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 22. Oktober 2018 – B 8 K 18.30696 – hat keinen Erfolg.
Die geltend gemachten Zulassungsgründe eines Verfahrensfehlers durch Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegen nicht vor bzw. wurden nicht in einer Weise dargelegt, die den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügen.
1. Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – NJW 2003, 1924). Es verpflichtet das Gericht, das Vorbringen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfG, B.v. 15.4.1980 – 1 BvR 1365/78 – BVerfGE 54, 43; BVerwG, U.v. 23.4.2020 – 1 C 25.20 – BeckRS 2020, 12376 Rn. 19). Allerdings ist das Gericht nicht gezwungen, sich mit jedem Vorbringen in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinanderzusetzen und es ausdrücklich zu würdigen, vielmehr darf es sich auf den wesentlichen Kern des erheblichen und substantiierten Tatsachenvortrags beschränken (BVerfG, B.v. 1.2.1978 – 1 BvR 426/77 – BVerfGE 47, 182). Dabei müssen die Beteiligten grundsätzlich davon ausgehen, dass das Gericht ihr Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat; aus einem Schweigen der Entscheidungsgründe zu Einzelheiten des Prozessstoffs allein kann daher noch nicht der Schluss gezogen werden, das Gericht habe diese nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kann im Fall einer Nichtverarbeitung von tatsächlichem Vorbringen daher erst dann festgestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt, dass das Gericht aus seiner Perspektive entscheidungserhebliches tatsächliches Vorbringen der Beteiligten nicht in Erwägung gezogen hat (stRspr, vgl. BVerfG, B.v. 15.4.1980 – 1 BvR 1365/78 – BVerfGE 54, 43; BVerwG, U.v. 23.4.2020 – 1 C 25.20 – BeckRS 2020, 12376 Rn. 20; B.v. 15.12.2011 – 10 B 38/11 – BeckRS 2012, 45689; B.v. 16.11.2001 – 1 B 211/01 – InfAuslR 2002, 150).
Ferner ist die Garantie rechtlichen Gehörs dann nicht verletzt, wenn der rechtmittelführende Beteiligte es verabsäumt hat, sich unter Einsatz der ihm nach der Prozessordnung zur Verfügung stehenden Mittel rechtliches Gehör zu verschaffen (BVerfG, B.v. 25.5.1956 – 1 BvR 53/54 – BVerfGE 5, 9; BVerwG, U.v. 23.4.2020 – 1 C 25.20 – BeckRS 2020, 12376 Rn. 20), etwa an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen oder Beweisanträge zu stellen (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 78 AsylG Rn. 32; Hofmann in NK-Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 78 AsylVfG Rn. 50 m.w.N.). Schon bei sich abzeichnenden Gehörsverstößen, die im Verantwortungsbereich des Gerichts liegen, sind gegebene und sich aufdrängende Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen, durch die Beteiligten zu nutzen, um den drohenden Gehörsverstoß abzuwenden (Ostrop in Marx, Ausländer- und Asylrecht, 4. Aufl. 2020, Teil 3, § 13 Rn. 11). Vor diesem Hintergrund kann eine Gehörsrüge nur dann mit Erfolg geführt werden, wenn im Zulassungsantrag dargelegt wird, dass der Berufungsführer im erstinstanzlichen Verfahren die ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat (Ostrop a.a.O., § 13 Rn. 11 m.w.N.).
Schließlich kann ein Verfahrensfehler auch nur dann zur Zulassung der Berufung führen, wenn die angegriffene Entscheidung auf dem geltend gemachten Gehörsverstoß auch beruhen kann. Der Verweis auf § 138 VwGO in der im Asylprozess maßgeblichen Vorschrift des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG betrifft lediglich die Bezeichnung der rügefähigen Verfahrensmängel; er umschließt aber nicht die revisionsrechtliche (unwiderlegliche) Vermutung, dass bei Vorliegen eines der in § 138 VwGO bezeichneten Verfahrensmängel die Entscheidung gegen Bundesrecht verstößt und der vorliegende Verfahrensverstoß ursächlich für das Urteil ist, dieses also auf dem Verfahrensverstoß beruht. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht vor, wenn – nach Maßgabe der Rechtsmeinung des erkennenden Verwaltungsgerichts – auszuschließen ist, dass bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs eine dem Kläger günstigere Entscheidung ergangen wäre (BayVGH, B.v. 23.10.2017 – 20 ZB 16.30113 – juris Rn. 18 m.w.N.).
Vorliegend wird im Zulassungsantrag zur Gehörsrüge vorgebracht, die angegriffene Entscheidung zeige sich schon insoweit evident aktenwidrig, als das Verwaltungsgericht offenkundig einen völlig anderen Sachverhalt im Blick gehabt habe, weil es in den Urteilsgründen durchgängig von mehreren Klägern, darunter zwei Kinder mit besonders zu berücksichtigenden Bedürfnissen, ausgegangen sei.
Zudem habe das Gericht entscheidungserhebliches Vorbringen der Beklagten zum Vorliegen einer Zusicherung Griechenlands über die Gewährleistung aller Rechte gemäß der RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) ersichtlich nicht zur Kenntnis genommen und erwogen, sondern es habe vielmehr entscheidungstragend auf den Umstand des Fehlens einer solchen Zusicherung abgestellt. Da die verwaltungsgerichtliche Entscheidung im schriftlichen Verfahren ergangen sei, habe für die Beklagte auch keine Möglichkeit bestanden, im Rahmen einer mündlichen Verhandlung insoweit im nötigen Umfang rechtliches Gehör zu erlangen. Schließlich habe sich aus dem Verfahrensgang auch keinerlei Hinweis darauf ergeben, dass die Beklagte Weiteres zum Vorliegen einer einschlägigen Zusicherung Griechenlands hätte vortragen müssen, um sich insoweit rechtliches Gehör zu verschaffen.
Mit diesem Vorbringen ist ein zur Zulassung der Berufung führender Verfahrensfehler im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO nicht entsprechend den aufgezeigten Anforderungen dargetan bzw. liegt nicht vor.
a) Dies gilt zunächst für den Vortrag, das Verwaltungsgericht habe die von der Beklagten in der Klageerwiderung in Bezug genommene „einschlägige Zusicherung“ des griechischen Migrationsministeriums (Hellenic Republic, Ministry for Migration Policy, General Secretariat of Migration Policy, Ref. No. 006/080118) vom 8. Januar 2018 nicht in Erwägung gezogen.
Das Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil unter Zugrundelegung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Kammer) vom 8. Mai 2017 – 2 BvR 157/17 – (NVwZ 2017, 1196) sowie unter Berücksichtigung der Länderinformation des Bundesamts für … vom 1. Mai 2017 ernsthafte Zweifel angenommen, dass die Lebensbedingungen von international anerkannten Schutzberechtigten in Griechenland insbesondere in Bezug auf konkrete Integrationsmaßnahmen und auf die Versorgung mit Wohnraum den Voraussetzungen von Art. 3 EMRK genügen und daher eine Erklärung Griechenlands für erforderlich gehalten, „den Klägern“ zumindest in der ersten Zeit nach der Rückkehr Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen sowie Integrationsmaßnahmen zu gewähren; weil eine solche Zusicherung Griechenlands nicht vorliege, seien Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 AsylG festzustellen.
Zwar hat das Verwaltungsgericht die Erklärung vom 8. Januar 2018, in der Griechenland (allgemein) mitteilt, die Qualifikationsrichtlinie fristgerecht in nationales Recht umgesetzt zu haben und allen zurückkehrenden Schutzberechtigten eine richtlinienkonforme und einer den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention entsprechende Behandlung zusichert, in seinem Urteil nicht ausdrücklich erwähnt und gewürdigt. Jedoch hat es sie dadurch in seine Entscheidung miteinbezogen, indem es (UA S. 3) wegen der weiteren Einzelheiten auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte Bezug genommen hat, zumal da die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid (S. 8) auf diese verwiesen hat.
Es spricht allerdings einiges dafür, dass das Verwaltungsgericht die allgemeine ministerielle Erklärung vom 8. Januar 2018 nach seiner materiellen Rechtsauffassung nicht als entscheidungserheblich angesehen hat. Denn das Gericht moniert in seiner Entscheidung das Fehlen einer für erforderlich gehaltenen Erklärung Griechenlands (konkret) in Bezug auf „die Kläger“, wobei es sich auf den Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Mai 2017 – 2 BvR 157/17 – (NVwZ 2017, 1196) bezieht (UA Seite 4); hiernach muss aufgrund einer Zusicherung der griechischen Behörden jeweils im Einzelfall feststehen, dass der Zurückzuführende zumindest für eine Übergangszeit untergebracht wird (BVerfG, KammerB.v. 8.5.2017 a.a.O. Rn. 22).
Letztlich kann aber dahinstehen, ob das Verwaltungsgericht – unausgesprochen – seiner Entscheidung die – auf ihre Richtigkeit hier nicht zu bewertende – Rechtsauffassung zugrunde gelegt hat, dass die generelle Erklärung Griechenlands nicht die Voraussetzung einer einschlägigen (individuellen) Zusicherung erfüllt. Denn jedenfalls hat die Beklagte es verabsäumt, sich unter Einsatz der ihr nach der Prozessordnung zur Verfügung stehenden Mittel rechtliches Gehör zu verschaffen.
Die Beklagte hat in Beantwortung der gerichtlichen Anfrageverfügung vom 22. August 2018 ausdrücklich ihren Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erklärt und sich damit freiwillig ihrer Möglichkeit begeben, dem Gericht im Termin (weiteren) Vortrag insbesondere zu den Fragen der Wohnraumversorgung und des Angebots von Integrationsmaßnahmen für nach Griechenland zurückkehrende Schutzberechtigte und damit im Zusammenhang stehend zur Erklärung des griechischen Migrationsministeriums vom 8. Januar 2018 zu Gehör zu bringen. Soweit die Beklagte weiter vorträgt, aus dem gerichtlichen Verfahrensgang bis zur Urteilsfällung hätten sich keinerlei Hinweise auf die Notwendigkeit weiteren Vortrags zum Vorliegen einer einschlägigen Zusicherung Griechenlands ergeben, ist ihr entgegenzuhalten, dass das Verwaltungsgericht in seinem Schreiben vom 22. August 2018 ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass es in ständiger Rechtsprechung auch unter Berücksichtigung der neuerlichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Kammerbeschluss) vom 31. Juli 2018 – 2 BvR 714/18 – (NVwZ-RR 2019, 209) in Bezug auf zurückkehrende Schutzberechtigte nach Griechenland von einem Verstoß der Lebensbedingungen gegen Art. 3 EMRK mit der entsprechenden Folge eines Abschiebungsverbots ausgehe. Indem die rechtskundige Beklagte trotz dieses gerichtlichen Hinweises und in Kenntnis der damit einhergehenden prozessualen Risiken einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt hat, ist ihrer Gehörsrüge entgegenzuhalten, dass sie nicht alle zumutbaren verfahrensrechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um Gehör zu erhalten.
b) Auch soweit die Beklagte vorträgt, das Verwaltungsgericht habe bei seiner Entscheidungsfindung offenkundig einen völlig anderen Sachverhalt im Blick gehabt habe, weil es in den Urteilsgründen durchgängig von mehreren Klägern, darunter zwei Kindern mit besonders zu berücksichtigenden Bedürfnissen, ausgegangen sei, ergibt sich hieraus keine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Zugrundelegung eines aktenwidrigen Sachverhalts (vgl. VGH BW, B.v. 28.7.2020 – A 2 S 873/19 – juris Rn. 19) bzw. in Form einer unzulässigen Überraschungsentscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 20 ZB 19.31553 – juris Rn. 22).
Zum einen handelt es sich nach dem Akteninhalt hierbei ersichtlich um eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne von § 118 Abs. 1 VwGO; die Verwendung der Pluralform bei der Bezeichnung der Klagepartei und insbesondere die Passage über die Kläger zu 3 und zu 4 als sechs bzw. sieben Jahre alte Kinder auf Seite 5 des verwaltungsgerichtlichen Urteils ist ersichtlich einem „copy and paste“-Versehen durch Übernahme aus einem parallelen Urteil geschuldet (vgl. BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 20 ZB 19.31553 – juris Rn. 23), auch zumal die weiteren Daten (Asylantrag, Bescheid, Klage) auf das Verfahren des Klägers zutreffen.
Zum anderen war die unrichtige Bezeichnung der Klagepartei jedenfalls nicht kausal für die verwaltungsgerichtliche Entscheidung. Dies ergibt sich aus den Ausführungen des Gerichts in den Urteilsgründen und insbesondere auch aus seinem vorangegangenen Hinweisschreiben vom 22. August 2018, dass seiner Ansicht nach die Rückführung nicht nur des Klägers, sondern generell aller anerkannter Schutzberechtigter nach Griechenland ohne weitere Würdigung ihrer individuellen Umstände insbesondere wegen fehlender Integrationsmaßnahmen und drohender Obdachlosigkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstelle. Ob diese Einschätzung des Verwaltungsgerichts zutrifft, kann hier dahinstehen. Denn jedenfalls wäre aufgrund dessen auch bei zutreffender Bezeichnung des Klägers als Einzelperson keine für die Beklagte günstigere Entscheidung ergangen.
2. Auch der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG liegt nicht vor.
Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargestellte Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich wäre, bisher höchstrichterlich oder – bei tatsächlichen Fragen oder nicht revisiblen Rechtsfragen – durch die Rechtsprechung des Berufungsgerichts nicht geklärt, aber klärungsbedürftig und über den zu entscheidenden Fall hinaus bedeutsam ist (vgl. BayVGH, B.v. 7.2.2014 – 13a ZB 13.30225 – BeckRS 2014, 47672 Rn. 2; Seeger in BeckOK AuslR, Stand 1.1.2021 § 78 AsylG Rn. 18 ff.).
Die Beklagte wirft in ihrem Zulassungsantrag die Frage auf,
ob es im Rahmen des asylrechtlichen Verfahrens bei im Sinne der sog. Tarakhel-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als problematisch eingestuften Verhältnissen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, der Zielstaat der Überstellung ist, für den Erlass der Überstellungsentscheidung einer einzelfallbezogenen von diesen Mitgliedstaat abzugebenden Zusicherung bezüglich adäquater (Wieder-) Aufnahmebedingungen bedarf
und
welche Mindestanforderungen eine solche Zusicherung erfüllen muss
sowie die Tatsachenfrage,
ob die durch Griechenland mit Schreiben vom 8. Januar 2018 abgegebene Erklärung diese Mindestanforderungen erfüllt.
Die von der Beklagten aufgeworfenen Fragen können anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung beantwortet werden und sind folglich nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Was die Beklagte bei einer Rückführung eines Flüchtlings in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union im Hinblick auf Art. 3 EMRK zu beachten hat, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des Gerichtshofs der Europäischen Union, des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts geklärt (vgl. BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 20 ZB 19.31553 – juris; B.v. 24.6.2019 – 20 ZB 19.31555; B.v. 18.6.2019 – 20 ZB 18.33154; B.v. 6.6.2019 – 20 ZB 19.30505; B.v. 1.4.2021 – 23 ZB 19.30405).
In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist anerkannt, dass die Rückführung eines Flüchtlings in einen anderen Konventionsstaat eine Verletzung des Art. 3 EMRK auch durch den rückführenden Staat darstellen – und somit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG begründen – kann, wenn den Behörden bekannt ist oder bekannt sein muss, dass dort gegen Art. 3 EMRK verstoßende Bedingungen herrschen, mithin der Flüchtling einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist. Solche Bedingungen können dann anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln (vgl. hierzu insgesamt EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S. gg. Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413, vgl. auch BVerfG, B.v. 31.7.2018 – 2 BvR 714/18 – NVwZ-RR 2019, 209).
Das setzt allerdings voraus, dass im Zielstaat der Abschiebung das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere („minimum level of severity“) erreicht wird. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist nach der Rechtsprechung des EGMR, der das Bundesverwaltungsgericht folgt (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – NVwZ 2019, 61 m.w.N. zur Rechtsprechung von EuGH und EGMR), relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenden körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen. Ein derartiger Schweregrad kann demnach erreicht sein, wenn der Betroffene seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält.
Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – NVwZ 2019, 61).
Auch in seiner Entscheidung vom 19. März 2019 – C-163/17 – (EuGRZ 2019, 230) zum Vorliegen einer Verletzung des Art. 3 EMRK bei Abschiebung von Asylantragstellern aufgrund der Lebensbedingungen für die Betroffenen in EU-Mitgliedstaaten bestätigt der EuGH (Große Kammer) diese Rechtsprechung („extreme materielle Not“). Demnach führen zwar nach den Maßgaben der Inländergleichbehandlung grundsätzlich weder große Armut noch eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse zu einer Gefahr der Verletzung des Art. 3 EMRK infolge der Abschiebung. Auch das Fehlen der Rückgriffsmöglichkeit für den Betroffenen auf familiäre Strukturen und Solidarität – wie sie für Angehörige des Mitgliedstaates regelmäßig bestehen dürften – ist kein Grund für eine derartige Annahme. Nach dieser Rechtsprechung rechtfertigt auch weder ein fehlender Zugang zu Integrationsprogrammen noch bessere Sozialhilfestandards oder Lebensbedingungen im überstellenden Mitgliedstaat die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK (EuGH GK, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – EuGRZ 2019, 230 insbes. Rn. 92 ff.). Möglich ist aber der Nachweis durch den Betroffenen, dass in seiner Person außergewöhnliche Umstände vorliegen, so dass er sich nach Gewährung internationalen Schutzes aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH a.a.O. Rn. 95).
Für die Prüfung, ob im Einzelfall das dargestellte Mindestmaß an Schwere erreicht ist und daher die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, ist nach § 24 Abs. 2 und § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG das Bundesamt zuständig. Aus dem Untersuchungsgrundsatz des § 24 Abs. 1 AsylG ergibt sich, dass das Bundesamt den Sachverhalt klärt und die erforderlichen Beweise erhebt. Für das hier relevante Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bedeutet dies, dass alle für die Beurteilung des Vorliegens einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung relevanten Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung zu ermitteln und zu würdigen sind. Dafür ist unter anderem auch von Bedeutung, ob der rückkehrende Ausländer eine Unterkunft finden kann (BVerwG, B.v. 21.8.2018 – 1 B 40.18 – juris Rn 14).
Das Verwaltungsgericht war unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe der Ansicht, dass die Rückführung des Klägers, allerdings ohne Würdigung der Umstände des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – NVwZ 2019, 61), eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstelle, weil keine Feststellungen zu konkreten Integrationsmaßnahmen gemäß Art. 34 der RL 95/2011/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikations-/Anerkennungsrichtlinie) getroffen worden seien. Darüber hinaus sei die Versorgung mit Wohnraum so defizitär, dass angesichts der lediglich zur Verfügung stehenden 63.700 Plätze keinesfalls alle Asylsuchenden und anerkannten „international Schutzberechtigten“ eine Unterkunft finden könnten.
Ob diese Einschätzung des Verwaltungsgerichts zutreffend ist, kann hier dahin gestellt bleiben, weil sie durch die Grundsatzrüge der Beklagten nicht in Frage gestellt wird.
Insoweit ist die von der Beklagten aufgeworfene Frage zweideutig, denn die Klärung problematisch eingestufter Verhältnisse im Zielstaat der Rückführung ist gerade ihre Aufgabe und gegebenenfalls die der Gerichte. Entweder liegen die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vor oder nicht. Bei der Klärung dieser Frage mag die von der Beklagten angeführte allgemeine Zusicherung des griechischen Migrationsministeriums vom 8. Januar 2018 ein Indiz dafür sein, dass die Anforderungen an die Aufnahmebedingungen nach Art. 3 EMRK weitgehend erfüllt sind. Eine abschließende Beantwortung dieser Frage ist allerdings allein aufgrund dieser Zusicherung nicht möglich. Für das Verwaltungsgericht war jedenfalls auch ausschlaggebend, dass dem Kläger in Griechenland die Obdachlosigkeit drohte.
Im vorliegenden Verfahren geht es aber, auch wenn die aufgeworfenen Fragen diese Thematik betreffen, nicht um die Einholung einer Zusicherung, sondern allgemein um die Verfügbarkeit einer Unterkunftsmöglichkeit. Hierbei handelt es sich um eine zielstaatsbezogene Tatsache, die, wie ausgeführt, das Bundesamt aufzuklären hat. In diesem Zusammenhang kann es gegebenenfalls auch zu der Feststellung gelangen, dass es zur Beseitigung eines ansonsten bestehenden Abschiebungsverbots einer konkreten Zusicherung bedarf, um den besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen. Etwas anderes gilt nur für Umstände, die Gefahren betreffen, die sich im Einzelfall im Zusammenhang mit der Durchführung einer Abschiebung ergeben. Hierzu zählt jedoch die Frage, ob Flüchtlinge im Zielstaat Obdach finden können (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – NVwZ 2019, 61 = juris Rn. 15) nicht.
Dass die Erklärung des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik vom 8. Januar 2018 nicht als konkrete Zusicherung im Sinne der Kammerbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Mai 2017 – 2 BvR 157/17 – (NVwZ 2017, 1196) und vom 31. Juli 2018 – BvR 714/18 – (NVwZ-RR 2019, 209) verstanden werden kann, ergibt sich bereits aus ihrem Wortlaut und bedarf keiner Klärung in einem Berufungsverfahren. Denn sie beschränkt sich auf die Feststellung, dass die Qualifikationsrichtlinie in nationales Recht umgesetzt worden sei und sichert eine richtlinienkonforme Behandlung der Rückkehrer zu. Eine – im Sinn der dargestellten Rechtsprechung bei Bestehen eines Abschiebungsverbotes notwendige – Einzelfallregelung wird darin jedenfalls nicht getroffen.
Soweit die Beklagte darauf verweist, dass bei von Rechtsstaaten abgegebenen Zusicherungen nach der Rechtsprechung des EGMR abgesenkte Anforderungen gelten und sich dazu auf dessen Entscheidung vom 4. Oktober 2016 – 30474/14, Jihana Ali and others against Switzerland and Italy – (juris) bezieht, trägt diese Argumentation schon deshalb nicht, weil Italien dort Garantieerklärungen für die Zuweisung einer Unterkunft bei Überstellung von Rückkehrerfamilien abgegeben hatte, Griechenland in der Erklärung vom 8. Januar 2018 hingegen lediglich darauf verweist, EU-Recht in nationales Recht umgesetzt zu haben und zurückkehrende Flüchtlinge entsprechend der Qualifikationsrichtlinie zu behandeln. Beides ist nicht vergleichbar (vgl. BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 20 ZB 19.31553 – juris Rn. 21).
Angesichts des Verfahrensausgangs zugunsten des Klägers und der Unanfechtbarkeit der Entscheidung ist eine Entscheidung über den gestellten Prozesskostenhilfeantrag entbehrlich.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig, § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG.


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