Verwaltungsrecht

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Aktenzeichen  Au 6 K 20.31567

Datum:
11.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 6555
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 27. November 2020 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
a) Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling i.S.d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris) entspricht.
b) Nach dem Gesamtergebnis des Asylverfahrens ist der Einzelrichter davon über zeugt, dass der Kläger die Türkei nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung in diesem Sinne verlassen hat. Die Angaben des Klägers sind nicht geeignet, die Annahme einer vor seiner Ausreise tatsächlich erlittenen oder unmittelbar drohenden flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung zu rechtfertigen. Er hat zudem auch bei einer Rückkehr in die Türkei eine solche Verfolgung nicht zu erwarten. Im Einzelnen: 34 aa) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden haben Asylbewerber aus der Türkei nicht zu befürchten. Kurden gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei (Daten bei Accord, Türkei COI-Compilation, Auszug in deutscher Übersetzung, Dez. 2020, S. 7, 203 ff.). Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor (vgl. in st. Rspr. VG Augsburg, U.v. 17.12.2019 – Au 6 K 17.35166 – juris Rn. 40 ff. m.w.N.; bestätigend BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – Rn. 6).
bb) Die Angaben des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal sind auch unter Be rücksichtigung der vorgelegten Unterlagen unsubstantiiert, zum Teil widersprüchlich und insgesamt unglaubhaft.
Widersprüchlich ist bereits, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinen Fluchtgründen befragt angab, während seiner Schulzeit sowie seiner Zeit an der Universität habe die Polizei bzw. die Justiz ihn explizit ausgesucht, da sein Vater politisch aktiv sei, andererseits aber viele seiner Kollegen ein ähnliches Schicksal wie der Kläger hätten und deswegen alle von der Polizei in ähnlicher Weise behandelt worden seien (vgl. Protokoll S. 5f., S. 8).
Die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich polizeilicher Repressalien sind vage, oberflächlich und daher insgesamt unsubstantiiert. Der Kläger hat keine näheren Angaben über eine konkrete Anzahl polizeilicher Übergriffe, bestimmte Datumsangaben oder etwaige Verletzungen aufgrund der behaupteten Schläge und körperlichen Misshandlungen durch Polizisten vorgetragen und mithin nicht in schlüssiger Weise eine begründete Furcht vor Verfolgung darlegen können: Zwar hat der Kläger vorgetragen, ständig Probleme mit der Polizei an seiner Arbeitsstelle gehabt zu haben, mehrmals von Polizisten misshandelt und geschlagen und auch drei- bis viermal eingesperrt worden zu sein. Allerdings hat er trotz Nachfrage des Einzelrichters nach konkreten polizeilichen Übergriffen nur einen Vorfall zur Zeit seines Abiturs ca. 2016 näher geschildert, bei welchem er mit Schlagstöcken von Polizisten geschlagen und mit Stiefeln getreten worden sei, sodass er sich vier Wochen nicht habe bewegen können. Auch einen bereits vor dem Bundesamt vorgetragenen Vorfall, dass er von Polizisten mit einer Waffe bedroht worden sei, hat der Kläger zeitlich lediglich auf sein zweites Studiensemester eingrenzen können.
Selbiges gilt auch für die etwaigen Ingewahrsamnahmen des Klägers durch Polizisten, die er und auch andere oft erlebt hätten (vgl. Protokoll S. 8): Er sei einmal während seines Abiturs in einem Polizeiauto misshandelt worden; an genaue Datumsangaben anderer Ingewahrsamnahmen könne er sich aber nicht erinnern, nur, dass dies während seines Studiums gewesen sei. Die vom Kläger vorgetragenen Hausdurchsuchungen sind weder mit entsprechenden Unterlagen belegt, noch hat er sonstige konkrete Angaben zu einzelnen Durchsuchungen und deren Anzahl getätigt. Gleiches ist auch hinsichtlich der Angebote, für die Polizei zu arbeiten, der Fall; weder wurden Ausführungen zu einzelnen Angeboten gemacht, noch geschildert, wie sich die behaupteten Misshandlungen gegenüber seiner Familie nach seiner Ablehnung der Angebote gegenüber der Polizei dargestellt haben sollen.
Weiter hat der Kläger mehrfach in der mündlichen Verhandlung von Geschehnissen berichtet, die nicht unmittelbar ihm selbst, sondern seinem Vater, einem Freund, seinen Arbeitskollegen oder sonstigen Dritten wiederfahren seien. So hat der Kläger auf Vorhalt des Einzelrichters hinsichtlich etwaiger Morddrohungen, die er in seinem Bericht vom 28. Juli 2020 geschildert hat, nur ausgeführt, dass diese von Polizisten gegenüber seinem Vater geäußert worden seien. Der Einzelrichter ist daher aufgrund der insgesamt pauschalen und von Detailarmut geprägten Angaben des Klägers der Überzeugung, dass er nicht von selbst Erlebtem berichtet.
Schließlich hat der Kläger weder vor dem Bundesamt bei seiner Anhörung am 8. Januar 2020 angegeben, drei- bis viermal eingesperrt gewesen zu sein, noch von seinen psychischen Problemen berichtet, die er seit langer Zeit habe, insbesondere aufgrund des für ihn traumatisierenden Reiseweges nach Deutschland. Es ist nicht glaubhaft, dass der Kläger etwaige psychische Probleme deshalb nicht angegeben habe, da er andernfalls befürchtet habe, für „verrückt“ gehalten zu werden.
cc) Ungeachtet dessen liegen, selbst wenn man den Vortrag des Klägers im Kern als wahr unterstellt, keine Gründe vor, die eine Furcht vor Verfolgung beachtlich wahrscheinlich erscheinen lassen.
(1) Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit bzw. Zurechnung zur HDP.
(a) Es bestehen für das Gericht bereits Zweifel an seiner politischen Tätigkeit für die
HDP. So habe der Vater des Klägers zu seinem 18. Geburtstag eine Mitgliedschaft bei der HDP für den Kläger abgeschlossen; zuletzt habe der Kläger einen Antrag auf Mitgliedschaft am 15. Juli 2019 nur einen Tag vor seiner nach eigenen Angaben erfolgten Ausreise gestellt. Dies sei deswegen geschehen, da man ihm gesagt habe, in Deutschland eine Bestätigung zu benötigen, Mitglied in der HDP zu sein. Aufgrund dieses zeitlichen Zusammenhangs erscheint die politische Mitgliedschaft zur HDP nur aus asyltaktischen Gründen erfolgt zu sein, zumal der Kläger in seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 8. Januar 2020 angegeben hat, immer wieder Mitglied bei der HDP gewesen zu sein und seine Mitgliedschaft dann wieder stillliegen gelassen zu haben.
(b) Unabhängig davon hat sich der Kläger, selbst wenn man seine Ausführungen im Kern als wahr unterstellt, nicht exponiert politisch für die HDP betätigt. Selbst wenn er in dem beschriebenen Umfang für die HDP tätig gewesen sein will, ist nicht ersichtlich, inwiefern er sich aus der Masse der HDP-Sympathisanten und einfachen Mitglieder hervorgehoben haben und in das Visier des türkischen Staates geraten sein sollte. Nach seinem Sachvortrag ist nicht hinreichend wahrscheinlich, dass er einem gesteigerten Verfolgungsinteresse des türkischen Staats unterliege. Vielmehr gab er im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 8. Januar 2020 selbst an, die Polizei übe Druck auf ihn aus, weil er Mitglied seiner Familie sei und damit nicht wegen eigener politischer Aktivitäten. Soweit der Kläger vorträgt, er sei zur Zeit seines Abiturs ca. 2016 einmal von Polizisten mit Schlagstöcken und Stiefeln geschlagen bzw. getreten sowie in einem Polizeiauto misshandelt worden, stehen diese Vorfälle jedenfalls wegen des mehrjährigen Auseinanderliegens zu der am 16. Juli 2019 erfolgten Ausreise in keinem zeitlichen Zusammenhang und sind daher nicht fluchtauslösend. Es können den Schilderungen des Klägers insgesamt keine hinreichend substantiierten Anhaltspunkte dafür entnommen werden, dass oder warum ihm die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung wie der PKK in einer Weise vorgeworfen werden könnte, die eine landesweite Verfolgung des Klägers begründen könnte.
(2) Eine „Reflexverfolgung“ bzw. Sippenhaft aufgrund seiner familiären Herkunft droht dem Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
Zwar mag es sein, dass Familienmitglieder des Klägers aufgrund ihrer politischen Aktivitäten Repressalien des türkischen Staates ausgesetzt sind. Aus dem Schicksal anderer Personen kann der Kläger jedoch grundsätzlich nichts für sich herleiten. Im türkischen Strafrecht gibt es keine Sippenhaft; gemäß Art. 20 des tStGB wird allein der Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 01.06.2019, Erkenntnisse Türkei – Auswertung der Anfragen von Behörden und Gerichten an das Auswärtige Amt im 1. Halbjahr 2019, S. 5). Anhaltspunkte für eine in der Türkei praktizierte Sippenhaft von Familienangehörigen von Regimekritikern bestehen nach der Erkenntnismittellage nicht (vgl. VG Augsburg, U.v. 30.4.2019 – Au 6 K 17.33876 – juris Rn. 49; VG Augsburg, B.v. 1.4.2019 – Au 6 S 19.30430 – juris Rn. 27). Auch im konkreten Einzelfall liegt nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Fall einer Reflexverfolgung vor, die in bestimmten Fällen in der Türkei Familienangehörige von Personen betrifft, die vermeintlich oder tatsächlich mit einer als terroristisch eingestuften Gruppe wie der PKK von den türkischen Behörden gesucht und vorgeladen werden (vgl. VG Augsburg, U.v. 25.5.2021 – Au 6 K 19.30581 – Rn. 28): 47 (a) Das Risiko einer Reflexverfolgung ist nicht erhöht, da der Kläger selbst nicht ex poniert politisch tätig war (siehe oben). Zudem belegen die vom Kläger geschilderten einzelnen polizeilichen Übergriffe und Repressalien keine gezielte Verfolgung des Klägers durch türkische Sicherheitsbehörden: Die während seines Abiturs ca. 2016 erlittenen Schläge und Tritte durch Polizisten sowie eine Ingewahrsamnahme in selbigen Zeitraum ist bereits aufgrund der zeitlichen Differenz zur Ausreise am 16. Juli 2019 erkennbar nicht fluchtauslösend gewesen. Die in seinem Bericht vom 28. Juli 2020 vorgebrachten Morddrohungen hat der Kläger auf Vorhalt durch den Einzelrichter insbesondere auf dessen Vater bezogen; diesem sei durch türkische Polizisten gedroht worden (Protokoll S. 8). Nach eigenen Angaben werde in der Türkei auch kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Kläger geführt. Vielmehr wird durch die Tatsache, dass dem Kläger nach eigenen Angaben am 10. August 2018 ein türkischer Reisepass ausgestellt worden sein soll, belegt, dass er sich zu diesem Zeitpunkt – und damit bereits nach erfolgten etwaigen Bedrohungen und Repressalien durch Polizisten in * – nicht im Visier des türkischen Staates befand. Dagegen spricht zudem, dass nach eigenem Vortrag des Klägers viele seiner Kollegen ein ähnliches Schicksal erlitten hätten und alle wegen ihrer HDP-Mitgliedschaft ähnlich von der Polizei behandelt worden seien (Protokoll S. 8). Ein gesteigertes Interesse des türkischen Staates gerade am Kläger persönlich folgt daraus nicht.
(b) Darüber hinaus hat der Kläger an keiner Stelle von seinem konkreten Verhältnis zu seinen Onkeln, gegen die nach den vorgelegten Unterlagen und Angaben im Verfahren Strafverfahren geführt werden, berichtet. Vor dem Bundesamt hat er am 8. Januar 2020 lediglich erwähnt, dass seine Mutter und seine beiden Brüder mit den Onkeln nach der Hausdurchsuchung am 8. Dezember 2019 in einem Haus gelebt haben, jedoch hat er nicht davon berichtet, diese speziell unterstützt, sich für sie eingesetzt oder ihnen sonst bis auf die Verwandtschaftsbeziehung an sich nahe gestanden zu haben.
(c) Schließlich ist weder substantiiert dargelegt noch anderweitig ersichtlich, inwiefern die Zusendung einer staatsanwaltschaftlichen Einstellungsmitteilung wegen des Vorwurfs des illegalen Grenzübertritts an die alte Heimatadresse des Klägers in der Türkei diesen in den Fokus des türkischen Staates gerückt haben soll. Selbst wenn die türkischen Behörden Kenntnis von dem Brief und dessen Inhalt erlangt hätten, geht daraus lediglich hervor, dass ein in Deutschland gegen den Kläger geführtes Strafverfahren eingestellt worden ist und sich der Kläger in Deutschland aufhält. Weiter spricht der Umstand, dass trotz der wohl Ende 2019 erfolgten Zustellung des Briefes in der Türkei (der Kläger befürchtet insofern einen Zusammenhang mit der Verhaftung seines Vaters am 8. Dezember 2019) bisher noch kein Ermittlungsverfahren gegen den Kläger eingeleitet wurde, nicht dafür, dass sich der Kläger im Visier türkischer Behörden befindet. Soweit der Kläger auf einen seiner Onkel verweist, der ein Einreiseverbot in die Türkei erhalten habe, ist ebenfalls nicht in substantiierter Weise dargetan, welche Bezüge der Kläger zu diesem hat bzw. überhaupt in einem Näheverhältnis zu diesem steht.
dd) Unabhängig davon ist der Kläger auf innerstaatliche Fluchtalternativen in anderen Großstädten in der Westtürkei zu verweisen. Dem Kläger ist ein Umzug in eine andere große Stadt in der Westtürkei möglich und zumutbar, insbesondere wäre dort auch mehr als sein Existenzminimum gesichert. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens sind Anhaltspunkte für eine landesweite Verfolgung des Klägers nicht ersichtlich. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat der Kläger angegeben, es sei kein Strafermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden (vgl. Protokoll S. 9). Aus der vom Kläger vorgelegten Stellungnahme eines Abgeordneten der HDP geht hervor, dass die Sicherheitskräfte in * die Kinder der aktiven Mitarbeiter als potenzielle Gefahr sähen; mit willkürlichen Verhaftungen, Drohungen oder ähnlichen Methoden würden sie versuchen, diese aus * zu entfernen und in andere Städte oder nach Europa auswandern zu lassen (vgl. Gerichtsakte Bl. 70). Diese Angaben belegen ebenfalls bestehende innerstaatliche Fluchtalternativen in anderen Großstädten in der Westtürkei.
Soweit der Kläger vor dem Bundesamt am 8. Januar 2020 angegeben hat, im Jahre 2005 bzw. 2006 Diskriminierungen durch andere türkische Kinder in * bzw. * erlitten zu haben, sind diese bereits mangels zeitlichen Zusammenhangs zur Ausreise am 16. Juli 2019 offensichtlich nicht fluchtauslösend gewesen. Selbiges gilt für etwaige Hausdurchsuchungen und Verhaftungen während dieser Zeit; diese waren jedenfalls gegen den Vater des Klägers gerichtet (vgl. Protokoll S. 6).
ee) Eine Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG in Verbindung mit § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung droht nicht.
(1) Nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Ver weigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden.
In der Türkei gibt es zwar kein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes oder einen Anspruch auf Ableistung eines Ersatzdienstes. Musterungsverweigerer, Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige werden strafrechtlich verfolgt (vgl. VG Augsburg, U.v. 11.7.2019 – Au 6 K 17.34147 – juris Rn. 46 mit umfassenden weiteren Nachweisen).
Die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen stellen aber nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen. Den in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen lässt sich nichts Substantiiertes dafür entnehmen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in einem „Konflikt“ eingesetzt würde, in dem der Militärdienst die oben genannten Verbrechen oder sonstigen Handlungen umfassen würde (vgl. BVerwG, U.v. 6.2.2019 – 1 A 3/18 – juris Rn. 98 m.w.N.), zumal die türkische Armee nach der Auskunftslage vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt hat (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 39).
Es ist auch nicht erkennbar, dass eine Bestrafung wegen (unterstellter) Wehrdienstverweigerung – wie nach § 3a Abs. 3 und § 3b AsylG gefordert – an einen tatsächlich vorhandenen oder dem Kläger zugeschriebenen Verfolgungsgrund anknüpfen würde (vgl. BVerwG, U.v. 6.2.2019 – 1 A 3/18 – juris Rn. 98 m.w.N.). Kurden werden bei der Heranziehung zum Militärdienst ebenso wie bei einer Bestrafung wegen Militärdienstentziehung auch nicht aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit in asylerheblicher Weise benachteiligt (vgl. VG Augsburg, U.v. 11.7.2019 – Au 6 K 17.34147 – juris Rn. 60 m.w.N.). Deshalb fehlt es an der erforderlichen Kausalbeziehung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsmerkmal.
Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für das türkische System, das keinen Ersatzdienst und kein Verfahren vorsieht, in dem dargelegt werden kann, ob die Voraussetzungen einer Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vorliegen, eine Verletzung der von Art. 9 EMRK garantierten Gewissensfreiheit angenommen, weil es keinen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft und jenem von Wehrdienstverweigern treffe (vgl. BVerwG, U.v. 6.2.2019 – 1 A 3/18 – juris Rn. 110 unter Verweis auf EGMR, U.v. 12.6.2012 – 42730/05).
Eine Verletzung von Art. 9 EMRK setzt aber voraus, dass der Betroffene glaubhaft machen kann, dass er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert. Eine solche Gewissensentscheidung ist eine sittliche Entscheidung, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten. Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen (vgl. BVerwG, U.v. 6.2.2019 – 1 A 3/18 – juris Rn. 110 m.w.N.).
(2) Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist nicht ersichtlich, dass der Kläger den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung führte der Kläger lediglich aus, dass für ihn zwei Eintragungen bei eDevlet vorhanden seien, den Wehrdienst zu leisten (vgl. Protokoll S. 4). Weder legte er entsprechende Nachweise im Verfahren vor, noch hat er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt 8. Januar 2020 bzw. in der mündlichen Verhandlung hinreichende Anhaltspunkte für eine Gewissensentscheidung im oben genannten Sinne getätigt.
(3) Letztlich kommt es darauf aber nicht entscheidungserheblich an. Denn aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergeben sich keine hinreichend substantiierten Anhaltspunkte für die Annahme, dass der türkische Staat Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen systematisch härter oder anders bestraft als andere Wehrdienstverweigerer. Deshalb fehlt es auch insoweit an der erforderlichen Kausalbeziehung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsmerkmal (vgl. dazu VG Augsburg, U.v. 11.7.2019 – Au 6 K 17.34147 – juris Rn. 57 m.w.N.).
ff) Eine Verfolgung des Klägers durch nichtstaatliche Dritte mit staatlicher Billigung liegt nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit vor.
(a) Nach § 3c Nr. 3 AsylG kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens ist, i.S.d. § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten.
(b) Die vor dem Bundesamt am 8. Januar 2020 angegebene Behandlung im * Park in * etwa 2016 durch Mitglieder der HÜDA-Partei stellt keine Verfolgung des Klägers durch Dritte mit staatlicher Billigung dar. Bei Einstufung dieses Vortrags als kriminelles Unrecht geht der Einzelrichter nach Auswertung der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel davon aus, dass der türkische Staat grundsätzlich schutzfähig und schutzwillig gegenüber kriminellem Unrecht ist. Unabhängig davon, ob nach Ansicht des Klägers dieser mit Absicht dorthin versetzt worden sei, ist die vorgetragene Behandlung nicht ausreiserelevant, da sie mehrere Jahre vor seiner Ausreise stattgefunden hat. Zudem hat er auch hier eine inländische Fluchtalternative. Eine Verfolgung durch Anhänger der HÜDA-Partei hat sich nach den Angaben des Klägers nur während dessen Arbeitstätigkeit im * Park in * ereignet und ist mangels entsprechend substantiierter Angaben an einem anderen Ort auch nicht beachtlich wahrscheinlich.
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis Nr. 3 AsylG droht.
a) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
b) Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 18). In der Person des Klägers liegt kein ein Risiko von Folter zum Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhender Umstand vor. Es besteht auch keine beachtliche Gefahr einer Inhaftierung in der Türkei zu unmenschlichen Bedingungen. Im Übrigen steht die inländische Fluchtalternative in die Westtürkei nach § 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG entgegen.
3. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschie bungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
a) Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
b) Der erwachsene, gesunde und erwerbsfähige Kläger würde im Fall seiner Abschie bung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert (in std. Rspr. VG Augsburg, U.v. 9.10.2018 – Au 6 K 17.33922 – juris Rn. 89 ff.). Der Kläger hat nach eigenen Angaben ein Studium in der Türkei abgeschlossen, dort auch gearbeitet und sich in dieser Weise seinen Lebensunterhalt finanziert. Es ist nicht erkennbar, dass dies nach einer Rückkehr nicht wieder der Fall sein sollte.
c) Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden (vgl. VG Augsburg, U.v. 28.1.2020 – Au 6 K 17.35104 – juris Rn. 65 ff. m.w.N.).
d) Etwas Anderes folgt auch nicht daraus, dass eine staatsanwaltschaftliche Einstel lungsmitteilung an die Heimatadresse des Klägers in die Türkei, die in die türkische Postkontrolle gekommen sein solle, versandt worden sei. Der Kläger hat insofern lediglich angegeben, türkische Polizisten hätten bei der Durchsuchung am 8. Dezember 2020 seine Mutter bzw. seinen Vater nach ihm befragt. Weder hat der Kläger Anhaltspunkte oder Belege dafür vorgelegt, dass in der Türkei deswegen ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet worden sei, noch ist ersichtlich bzw. hinreichend substantiiert, auf welcher Grundlage der türkische Staat diesen Sachverhalt verfolgen sollte (vgl. oben).
4. Ein Abschiebungsverbot i.S.d. des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer ziel staatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers nicht vor. Soweit er psychische Belastungen vorträgt, hat der Kläger weder dargetan, in ärztlicher Behandlung zu stehen, noch etwaige eine Erkrankung belegende Atteste vorgelegt.
Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).


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