Verwaltungsrecht

Abschiebungsanordnung nach Ungarn – Keine systemischen Mängel im dortigen Asylverfahren

Aktenzeichen  M 18 S 16.50525

Datum:
22.9.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin-III-VO Art. 3 Abs. 2 S. 2, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 25 Abs. 2
AsylG AsylG § 27a, § 34a

 

Leitsatz

Es bestehen keine systemischen Mängel im ungarischen Asylverfahren oder bei den dortigen Aufnahembedingungen für Asylbewerber, sodass ein Asylbewerber dort nicht Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein (ebenso VGH München BeckRS 2016, 46778). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben am … geboren und afghanischer Staatsangehöriger. Am 6. Juni 2016 wurde er im Bundesgebiet aufgegriffen.
Für den Antragsteller wurde ein EURODAC-Treffer in Ungarn (…) ermittelt.
Am 9. Juni 2016 richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ein Wiederaufnahmegesuch an Ungarn. Eine Reaktion der ungarischen Behörden hierauf ist nach der Behördenakte nicht festzustellen.
Mit Bescheid vom 6. Juli 2016 ordnete das Bundesamt die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn an. Auf die Bescheidsbegründung wird Bezug genommen. Der Bescheid wurde dem Antragsteller gegen Postzustellungsurkunde am 11. Juli 2016 zugestellt.
Mit Schreiben vom 12. Juli 2016, das am 19. Juli 2016 bei Gericht einging, erhob der Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 6. Juli 2016 (M 18 K 16.50524) und stellte weiter
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO.
Mit Schreiben vom 16. August 2016 beantragte das Bundesamt,
diesen Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Es ist bereits zweifelhaft, ob der Antrag zulässig ist. Jedenfalls bleibt er in der Sache ohne Erfolg.
Der Antragsteller hat die einwöchige Antragsfrist nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG versäumt. Der streitgegenständliche Bescheid wurde ihm am 11. Juli 2016 zugestellt; der Antrag ging erst am 19. Juli 2016, einen Dienstag, bei Gericht ein. Ob dem damals inhaftierten Antragsteller bei entsprechender Antragstellung Wiedereinsetzung in die versäumte Frist nach § 60 VwGO gewährt werden könnte, da zwischen dem Datum der Antragsschrift und dem Eingang bei Gericht ein Zeitraum von 7 Tagen liegt, kann offenbleiben.
Der Antrag hat auf jeden Fall in der Sache keinen Erfolg.
Nach § 27a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt, wenn ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach Satz 2 dieser Vorschrift gilt dies auch dann, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen, aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat.
Die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung sind nach der im Eilverfahren vorzunehmenden summarischen Überprüfung gegeben. Danach ist Ungarn aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Die ungarischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch vom 9. Juni 2016 nicht innerhalb der Frist des Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO reagiert, so dass davon auszugehen ist, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wurde. Da für den Antragsteller ein EURODAC-Treffer der Kategorie 1 (vgl. Art. 24 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 VO (EG) Nr. 603/2013) ermittelt wurde, ist Ungarn nach Art. 18 Abs. 1 lit.b Dublin-III-VO zuständiger Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers. Somit steht grundsätzlich fest, dass die Abschiebung nach Ungarn durchgeführt werden darf.
Die Überstellung an Ungarn ist auch nicht rechtlich unmöglich im Sinn des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der EU den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EUV entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtscharta) ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH v. 21.12.2011 a. a. O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris).
Ausgehend von diesen Maßstäben und im Einklang mit der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller in Ungarn aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. BayVGH v. 9.5.2016 – 20 ZB 16.50034 – juris; SächsOVG v. 1.6.2016 – 1 A 291/15.A – juris). Insoweit ist nicht von ausschlaggebender Bedeutung, dass sich die genannten obergerichtlichen Entscheidungen ausdrücklich nur auf die Darlegungs-anforderungen im Berufungszulassungsverfahren hinsichtlich des Bestehens systemischer Mängel im Dublin-Verfahren bezüglich Ungarn beziehen. Es kann nämlich nicht unterstellt werden, dass bei erkannten systemischen Mängeln eine Berufungszulassung gleichwohl unter dem rein formalen Aspekt der Darlegung dieser Mängel abgelehnt worden wäre.
Gegen die Annahme systemischer Mängel des ungarischen Asylverfahrens im oben genannten strengen Sinn spricht auch der Bericht des UNHCR zur Asylsituation in Ungarn (Hungary as a Country of Asylum) vom Mai 2016. Zusammenfassend äußert der UNHCR insoweit zwar schwerwiegende Bedenken („In conclusion, UNHCR considers that significant aspects of Hungarian law and practice, as described above, raise serious concerns as regards compatibility with international and European law.“). Eine Empfehlung oder gar dringende Empfehlung, von Rückführungen nach Ungarn abzusehen, spricht der UNHCR gleichwohl nicht aus.
Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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