Verwaltungsrecht

Abschiebungsschutz für georgischen Asylbewerber wegen Transsexualität

Aktenzeichen  AN 4 S 17.33045

Datum:
18.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 36 Abs. 4, § 71a Abs. 4
EMRK EMRK Art. 3, Art. 8

 

Leitsatz

1 Es erscheint bislang ungeklärt, ob die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG auch dann in Betracht kommt, wenn der Abschiebezielstaat selbst Signatarstaat der EMRK ist und ihn daher eine eigenständige Verantwortung für die Einhaltung der Konventionsrechte trifft. (Rn. 11) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Übergriffe nichtstaatlicher Stellen gegen georgische Staatsangehörige aufgrund ihrer sexuellen Identität können sowohl Art. 8 (Schutz der Privatsphäre) als auch Art. 3 (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) unterfallen. (Rn. 12) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Georgien scheint nicht fähig oder in der Lage zu sein – auch nach dem Identoba-Urteil des EGMR (Urt. v. 12.5.2015 – 73235/12, Identoba ua gegen Georgien) – sexuelle Minderheiten effektiv vor erniedrigender Behandlung zu schützen. (Rn. 13) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 11. Mai 2017 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 27. April 2017 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist eine Transgender-Person und lebt in männlicher Geschlechtsrolle. Nach eigenen Angaben ist er georgischer Staatsangehöriger. Er hatte bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, im Königreich Schweden, einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Am 30. November 2015 beantragte der Antragsteller eine Anerkennung als Asylberechtigter.
Mit Schreiben vom 27. Januar 2016 teilte das Königreich Schweden der Antragsgegnerin mit, dass das Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz in Schweden erfolglos abgeschlossen wurde. Es wurde die Zustimmung zur Übernahme des Antragstellers gemäß Art. 18 Abs. 2d Dublin III-VO erklärt. Die Antragsgegnerin behandelte das Verfahren als Zweitantrag im Sinne des § 71a AsylG.
Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 25. Januar 2017 trug der Antragsteller im Wesentlichen vor, man habe von ihm verlangt, gesellschaftlich als Frau zu leben. Die Nachbarn hätten gedroht, seine Geschwister zu töten, wenn er nicht als Frau leben würde. Er habe sich auch bei der Polizei über die Nachbarn beschwert. Er vermute auch, dass der Nachbar seinen Vater zusammengeschlagen habe. Er sei auch von seiner Familie und Bekannten wegen seiner Transsexualität geschlagen worden. Er sei nach Europa gekommen, um hier eine Geschlechtsumwandlung zu bekommen. Er sei auch in Georgien bereits in psychiatrischer Behandlung gewesen. Sein Bruder sei auch geschlagen worden, um ihn zu bedrohen. Auf Grund seines Onkels, der Angehöriger der Kirche sei, sei ihm die medizinische Behandlung verwehrt worden. In Georgien sei es mehrmals zu Verbrechen gegen Transsexuelle gekommen. Im Oktober 2012 habe er sein Heimatland verlassen.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2017 wurde der Antrag als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1). In Ziffer 2) wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. In Ziffer 3) wurde der Antragsteller aufgefordert, Deutschland binnen einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen und ihm die Abschiebung nach Georgien angedroht. In Ziffer 4) wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf den Inhalt des Bescheids wird Bezug genommen.
Der Antragsteller lässt durch seinen anwaltlichen Vertreter am 11. Mai 2017 Klage erheben und beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2017 aufzuheben und festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
Zugleich wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, der Antragsteller strebe die Umwandlung von Frau zum Mann an. Die Geschlechtsumwandlung des Antragstellers habe bereits begonnen. Hieraus ergäben sich für eine Rückkehr für den Antragsteller in sein Heimatgebiet verheerende Konsequenzen. Beim Antragsteller hätten sich inzwischen die männlichen Attribute herausgebildet, die bei einer Rückkehr nach Georgien auf Grund der dort bestehenden Beeinträchtigungen und Benachteiligungen von Transsexuellen schwerste Nachteile mit sich bringen würden. Sein nunmehr männlich geprägtes äußeres Erscheinungsbild würde sofort auffallen, insbesondere bei Behörden und Verwandten, einschließlich seiner Familienangehörigen. Es seien vor allem durch nichtstaatliche Akteure verursachte unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen auf Grund der bereits eingeleiteten Geschlechtsumwandlung zu erwarten. Weiterhin lägen auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG vor. Insoweit werde auf eine Reihe von Attesten verwiesen. Es finde eine Psychotherapie wegen der Transidentität statt. Darüber hinaus liege eine mittelgradige depressive Störung vor. Für die Indikationsstellung für die finale geschlechtsangleichende Operation warte der Antragsteller derzeit auf eine Zusage der Krankenkasse. Der Antragsteller befürchte selbst, dass die regelmäßige Testosteron-Behandlung auf Grund der Schwierigkeiten in Georgien nicht ohne weiteres möglich sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet. Daher war die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2017 anzuordnen.
Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG kann das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die im angefochtenen Bescheid vom 27. April 2017 erteilte Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung anordnen.
Das Gericht ordnet die aufschiebende Wirkung der Klage an, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Diese Voraussetzungen sind nach Auffassung des Gerichts im vorliegenden Verfahren gegeben. Angesichts der Auskunftslage für das Abschiebungszielland Georgien zur Lage der sexuellen Minderheiten und in Verbindung mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Sachen Identoba gegen Georgien bestehen ernstliche Zweifel daran, ob im vorliegenden Fall nicht vielmehr ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen gewesen wäre.
Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II, S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Verpflichtung der Antragsgegnerin besteht nach Rechtsprechung des EGMR auch bei der Übergabe eines Ausländers an einen anderen Staat. Der EGMR hat ferner auch durch nichtstaatliche Stellen verursachte Gefahren als mögliche Verletzung der EMRK anerkannt (Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, AufenthG, § 60 Rn. 21). Den ernstlichen Zweifeln steht auch nicht entgegen, dass nach bisherigem Recherchestand des Gerichts nicht geklärt zu sein scheint, ob die Anwendung des § 60 Abs. 5 AufenthG auch dann in Betracht kommt, wenn der Abschiebungszielstaat selbst Unterzeichnerstaat der EMRK ist und als Unterzeichnerstaat damit eigenständig für die Einhaltung der Grundfreiheiten verantwortlich ist.
Nach Auskunftslage des Auswärtigen Amtes steht seit 2012 die Diskriminierung auf Grund der sexuellen Orientierung unter Strafe. Die Situation von sexuellen Minderheiten wird allerdings als praktisch schwierig beschrieben. Die Angehörigen von Minderheiten seien häufig gezwungen, ihre sexuelle Identität und Orientierung zu verbergen. Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Identoba gegen Georgien am 12. Mai 2015 festgestellt, dass die Polizei demonstrierenden LGBTI-Aktivisten nicht ausreichend Schutz vor den Übergriffen nichtstaatlicher Stellen gewährt hat. Im vorliegenden Verfahren geht es zunächst um den Schutz der sexuellen Identität des Antragstellers, welcher von Art. 8 EMRK und dem Recht auf Privatsphäre grundsätzlich umfasst wird (Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2017, Art. 8, Rn. 26). Darüber hinaus kommt wegen des fehlenden Schutzes vor Übergriffen Privater auch ein Verstoß gegen das Verbot der erniedrigenden Behandlung in Betracht (Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2017, Art. 3, Rn. 9).
Mit Blick auf den konkreten Einzelfall und dabei namentlich auf die schwierige Versorgung von Rückkehrern, die sich üblicherweise auch auf Familienangehörige verlassen müssen, auf die Vorgeschichte des Antragstellers, der auch Übergriffe und Anfeindungen aus der Familie erdulden musste, und auf die nach außen durch Bartwuchs und die Vermännlichung ohne Weiteres erkennbare Transidentität erscheinen ernstliche Zweifel angebracht, ob eine Abschiebung in Übereinstimmung mit den Rechten aus der EMRK möglich erscheint. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen, wie sie durch Amnesty International berichtet werden. Demnach konnten LGBTI-Aktivisten an einer politischen Diskussion zur Änderung der Verfassung, auf Grund fehlender Sicherheitszusage durch die staatlichen Stellen Georgiens nicht teilnehmen. Der Staat Georgien scheint daher weiterhin nicht fähig oder in der Lage zu sein – auch nach dem Identoba-Urteil – sexuelle Minderheiten effektiv vor erniedrigender Behandlung zu schützen (Art. 3 EMRK).
Bereits jetzt kann allerdings gesagt werden, dass an der Richtigkeit der Entscheidung zu Art. 60 Abs. 7 AufenthG keine ernstlichen Zweifel bestehen.
Damit war dem Antrag stattzugeben.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 83b AsylG, § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.


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