Verwaltungsrecht

Abschiebungsschutz wegen geistiger Defizite – Afghanistan

Aktenzeichen  W 1 S 16.31109

Datum:
4.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 36 Abs. 3 S. 1, § 80, § 83b
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 7
BGB BGB § 1896 Abs. 1 S. 1
VwGO VwGO § 80 Abs. 5, 7, § 154 Abs. 1
VwZG VwZG § 6 Abs. 1 S. 1, § 8

 

Leitsatz

Ergibt ein im Betreuungsverfahren eingeholtes Gutachten, dass der Asylsuchende in vielen Bereichen des Alltagslebens der Betreuung bedarf, gehört er nicht zum Personenkreis der gesunden, jungen, männlichen afghanischen Staatsangehörigen, denen trotz der schwierigen Versorgungslage in diesem Land keine Extremgefahr droht (§ 60 Abs. 7 AufenthG). Denn wegen der geistigen Defizit ist nicht zu erwarten, dass er sich in Afghanistan behauptet, so dass Abschiebungsschutz in Betracht kommt.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 30. Mai 2016, Az: W 1 S 16.30617, wird in Ziffer I. abgeändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 24. Mai 2016 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Mai 2016, Gz. 6077109-423, wird angeordnet.
II.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Mit Beschluss vom 30. Mai 2016, Az: W 1 S 16.30617, hat das Gericht den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers vom 24. Mai 2016 (Az: W 1 K 16.30616) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 13. Mai 2016 abgelehnt.
Mit dem vorliegenden Antrag vom 31. Juli 2016 beantragt der Antragsteller nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, den Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 30. Mai 2016 abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Mit Beschluss des Amtsgerichts G. vom 5. Juli 2016 sei für den Antragsteller ein Betreuer bestellt worden, da er aufgrund der in § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB aufgeführten Krankheiten bzw. Behinderungen nicht in der Lage sei, seine Angelegenheiten ausreichend zu besorgen. Da die Behinderung bzw. Krankheit, die zur Anordnung der Betreuung geführt habe, in der Persönlichkeit des Antragstellers begründet sei, sei er bereits im Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides verfahrensunfähig gewesen. Damit sei der Bescheid nicht wirksam zugestellt worden. Zwischenzeitlich habe sich auch die Mutter des Antragstellers aus Schweden gemeldet und geltend gemacht, dass ihr Sohn erst 16 Jahre alt sei und dass sie auf dieser Grundlage die Familienzusammenführung beantrage.
Aus dem vorgelegten E-Mail-Verkehr des Betreuers mit der vorgeblichen Mutter des Antragstellers geht hervor, dass der Antragsteller im Jahre 1999 geboren sein soll.
Aus dem im Betreuungsverfahren vor dem Amtsgericht G. erstellten Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamtes im Landratsamt M. vom 19. April 2016, welches erst im vorliegenden Verfahren auf Anforderung des Gerichtes vorgelegt wurde, geht u. a. (zusammengefasst) hervor, dass bezüglich des Antragstellers von diplompsychologischer Seite eine Tendenz zu einer Lernbehinderung bzw. leichten Intelligenzminderung gesehen werde. Der im nonverbalen Eignungstest festgestellte IQ von 54 müsse kritische hinterfragt werden, weil der Betroffene zu diesem Zeitpunkt auch unkonzentriert und leicht ablenkbar gewesen sein solle. Im Vergleich zu anderen Asylbewerbern sei die Sprachbarriere beim Antragsteller sehr hoch und es falle ihm im Vergleich zu anderen wohl schwerer, die Sprache zu erlernen. Unter Berücksichtigung des Gesamtbefundes und der sprachlichen Defizite bestehe aus medizinischer Sicht ein Hilfebedarf zum Spracherwerb, zur Verbesserung der Selbstständigkeit im hauswirtschaftlichen Bereich, im Umgang mit Behörden, bei schriftlichen Angelegenheiten (z. B. Anträge stellen), bei der weiteren Bildungsentwicklung (Erlernen eines Berufes) und der sozialen Integration. Inwieweit beim Antragsteller tatsächlich eine relevante Intelligenzminderung vorliege, solle ggf. zu einem späteren Zeitpunkt bei besser vorliegenden Sprachkenntnissen nochmals überprüft werden. Empfohlen wurde die Errichtung einer Betreuung für die Bereiche Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern sowie Entgegennahme, Anhalten und Öffnen der Post.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO auf Abänderung des Beschlusses des Gerichts vom 30. Mai 2016 und Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig und begründet.
Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsachen Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Der Antrag ist nicht an die Frist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG für den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gebunden (vgl. Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 80 Rn. 578). Wegen der fristgerecht erhobenen Klage des Antragstellers ist auch die Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 13. Mai 2016 noch nicht unanfechtbar geworden (vgl. Funke/Kaiser in GK-AsylVfG, § 36 Rn. 22; Marx AsylVfG, § 36 Rn. 13).
2. Offenbleiben kann in diesem Zusammenhang, ob die (anfänglich) unwirksame Zustellung des streitgegenständlichen Bescheides an den Antragsteller als betreute Person durch Genehmigung des Betreuers wirksam geworden ist. Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 VwZG ist bei Geschäftsunfähigen oder beschränkt Geschäftsfähigen an ihren gesetzlichen Vertreter zuzustellen; gleiches gilt gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 VwZG bei Personen, für die ein Betreuer bestellt ist, soweit der Aufgabenkreis des Betreuers reicht. Der Aufgabenkreis des Betreuers des Antragstellers umfasst, wie aus dem Betreuerausweis des Amtsgerichts G. vom 5. Juli 2016 hervorgeht, gerade auch die Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post im Verkehr mit Behörden etc. gehört. Auf die Kenntnis der Behörde von dem Umstand der Betreuungsbedürftigkeit und damit der mangelnden Geschäftsfähigkeit kommt es nicht an (BayVGH, DÖV 1984, 433/434; Engelhardt/App § 6 VwZG Rn. 1). Die Zustellung an den Antragsteller war damit unwirksam. Eine Heilung dieses Zustellungsmangels nach § 8 VwZG kommt nicht in Betracht; möglich ist aber die Genehmigung der Zustellung durch den gesetzlichen Vertreter bzw. Betreuer (Engelhardt/App § 6 VwZG Rn. 6). Ob dies vorliegend geschehen ist, kann offen bleiben. Nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes geklärt werden kann ferner, ob der Antragsteller nunmehr nach den Angaben im E-Mail-Verkehr des Betreuers mit der Person, die sich in Schweden aufhält und vorgibt, die Mutter des Antragstellers zu sein, als minderjährig anzusehen ist.
3. Der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO hat jedoch aus anderen Gründen Erfolg.
Wie sich aus dem nunmehr vorgelegten amtsärztlichen Gutachten im Betreuungsverfahren ergibt, bedarf der Antragsteller in mehreren Bereichen des Alltagslebens der Hilfe eines Betreuers. Offengelassen wurde in dem Gutachten des Weiteren, ob beim Antragsteller eine relevante Intelligenzminderung vorliegt, wobei empfohlen wurde, diese zu einem späteren Zeitpunkt bei besseren Sprachkenntnissen nochmals zu überprüfen. Aus diesen Feststellungen des Amtsarztes ergibt sich jedenfalls in einem für das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO ausreichenden Maß, dass der Antragsteller – entgegen der Einschätzung im Beschluss vom 30.Mai 2016 – nicht zu dem Personenkreis der gesunden, jungen, männlichen afghanischen Staatsangehörigen ohne Unterhaltsverpflichtungen gehört, denen – unter dem Blickwinkel der Extremgefahr im Sinne verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG – eine Rückkehr nach Afghanistan auch unter Berücksichtigung der derzeit prekären Sicherheits- und Versorgungslage zuzumuten ist. Es ist aufgrund der festgestellten geistigen Defizite vielmehr davon auszugehen, dass der Antragsteller im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen würde, im Alltagsleben zurecht zu kommen, die andere afghanische Staatsangehörige ohne geistige Beeinträchtigungen nicht in diesem Maße betreffen. Insbesondere dürfte es ihm deutlich schwerer als dem genannten Personenkreis fallen, in Afghanistan erste Anlaufpunkte zu finden, um an Arbeit und Wohnung zu kommen und so seine Grundbedürfnisse zu befriedigen. Denn angesichts der bestehenden geistigen Defizite ist zu erwarten, dass es dem Antragsteller an der nötigen Aufgewecktheit, Initiative, Umsicht und Durchsetzungskraft fehlt, um sich auf dem äußerst schwierigen Arbeits- und Wohnungsmarkt zu behaupten. Hinzu kommt der Umstand, dass er seine Kindheit und Jugendzeit im Iran verbracht hat. Unsicher ist unter diesen Umständen auch, ob es dem Antragsteller gelingen würde, zu der nach seinen Angaben noch in M. lebenden Tante Kontakt aufzunehmen bzw. zu ihr zu gelangen. Damit sind die Erfolgsaussichten der Klage im Hinblick auf die Frage eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung derzeit offen.
4. Die danach anzustellende eigene originäre Interessenabwägung des Gerichts ergibt, dass das Interesse des Antragstellers an einem vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet bis zum rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens angesichts der betroffenen hochrangigen Rechtsgüter gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer raschen Aufenthaltsbeendigung überwiegt, weshalb die aufschiebende Wirkung der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO anzuordnen war.
Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.


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